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Schattenrisse der Erinnerung

Ilse Aichingers Feuilletons „Unglaubwürdige Reisen“

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 29.11.05

 

Mit ihren „Unglaubwürdigen Geschichten“ stellt Ilse Aichinger einen neuen Typus des Reisefeuilletons vor. Während dreier Jahre - vom Attentat auf die New Yorker Zwillingstürme bis zum Literasturnobelpreis für Elfriede Jelinek - begibt sie sich im Wiener Kaffeehaus des k. und k. Hofzuckerbäckers Demel auf Reisen. Sie verbringt den ganzen Vormittag dort bis zum Kinobesuch am späten Nachmittag. Sie liest und gibt sich Erinnerungen hin, sie zitiert und beschreibt, erzählt Geschichten, bis irgendwann, bei einem nebensächlichen Detail, der Funke vom Fremden, Abseitigen zum Eigenen, Unerwarteten springt. Denn Erinnerung stellt sich nicht auf Befehl ein, nicht chronologisch und flächendeckend, schreibt Simone Fässler in ihrem Vorwort.

Jeweils donnerstags verfasst Ilse Aichinger während dieser drei Jahre am Kaffeehaustisch für die Wiener Tageszeitung „Der Standard“ ein Reisefeuilleton. Reisen heißt für die Autorin im alltäglich Gewohnten zu bleiben - Reisen in die Geschichte, Begegnungen durch die Zeiten hindurch, Erinnerung also. Zu den öffentlichen Ereignissen 2001 und 2004, die den Rahmen ihres neuen Erzählbandes bilden, gesellen sich zwei persönliche Zäsuren hinzu – Aichingers Oberschenkelhalsbruch und ihr anschließender Krankenhausaufenthalt und der Tod ihres Lebensgefährten, des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Richard Reichensperger. Er war es gewesen, der sie nach jahrelangem Schweigen wieder zum Schreiben veranlasst hatte.

In aller Herren Länder

In alle Himmelsrichtungen, Länder und Orte können die „unglaubwürdigen Reisen“ führen. Vor die Haustür, in den nächsten Wiener Bezirk oder bis in den Kaukasus und nach Shanghai. England ist das eigentliche Sehnsuchtsziel. Hier lebt die Zwillingsschwester Helga, seit sie 1939 mit einem der letzten Kindertransporte aus Österreich ausreisen konnte. Ilse Aichinger ist Halbjüdin. Während des Krieges war sie dienstverpflichtet. Ihre Verwandten mütterlicherseits waren rassischen Verfolgungen ausgesetzt oder starben in den Vernichtungslagern. 1949 erkämpfte sie sich eine Reise nach England, zu ihrer Zwillingsschwester, die eine Schriftstellerin in englischer Sprache geworden war.

Auch Aichinger hatte nach 1945 begonnen, intensiv an einem Roman, „Die größere Hoffnung“, zu arbeiten, der 1948 herauskam. Er handelt von einer Gruppe von Kindern, die, verfolgt wie ihre Eltern, versuchen, einen Ausweg aus den Zwängen des Hitler-Regimes zu finden, durch Emigration, Flucht oder das Bewahren der Hoffnung auf die Vorsehung oder die Hilfe anderer. 1950 zog Ilse Aichinger nach Ulm, wo sie zusammen mit Inge Scholl an dem Aufbau der dortigen Hochschule für Gestaltung arbeitete und zugleich Lektorin beim Fischer Verlag in Frankfurt war. 1951 erschien sie zum ersten Mal mit ihrer Kurzgeschichte „Der Gefesselte“ vor der Gruppe 47 und erhielt im folgenden Jahr den Preis der Gruppe 47 für ihre dann berühmt gewordene „Spiegelgeschichte“. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise schlossen sich an. 1953 heiratete sie den Schriftsteller Günter Eich, der 1972 verstarb.

Obwohl sich in Aichingers Werk enge Zusammenhänge mit der Biografie der Autorin aufweisen lassen und tatsächliche Vorkommnisse oft Anstoß zum Schreiben sind, ist sie keine biografische Schriftstellerin. Bei ihr entfalten sich die schöpferischen Möglichkeiten des Spiels die Grenzen der Wirklichkeiten zu überschreiten. Die Verfasserin erblickt die Welt aus der Ameisen- wie der Vogelperspektive. Jedes einzelne Reisefeuilleton wiederholt den Aufbau des ganzen Erzählbandes. Die Geschichten lassen sich nicht auf ihre Funktion als Stationen im Verlauf einer übergeordneten Steigerungsbewegung reduzieren. Wie ein Gewebe durch die abwechselnde Überkreuzung seiner Längs- und Querfäden gebildet wird, so verdankt sich die Struktur des ganzen Bandes der gegenseitigen Durchkreuzung der über-, unter- und nebenordnenden Prinzipien von Steigerung und kreisender Wiederholung. Mit Hilfe der Integration des jeweils gegenläufigen Prinzips bespiegeln sich Steigerung und Wiederholung in ihren Möglichkeiten und Grenzen. Bremst die Wiederholung die Hierarchie der Steigerung, so dynamisiert die Steigerung die Monotonie der Wiederholung. Gewinnt die Wiederholung der Steigerung immer neue Bedeutungsdimensionen ab, so ermöglicht die Steigerung den Zusammenhang der einzelnen Variationen.

Zigarren und Hitler

„Eine Zigarre mit Churchill“ heißt die erste Geschichte. „Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge“. Bei jeder Englandreise stattet die Ich-Erzählerin dem Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud in London ihren Besuch ab. Die Wachsfigur Hitlers am Eingang der „Chamber of Horrors“ sieht genauso unbedeutend aus wie in Wirklichkeit, stellt sie fest. Dagegen würde man gerne das Winston-Churchill-Modell „auf eine Zigarre einladen, an Hitler vorbeispazieren und Zigarrenasche fallen lassen“.

„Die frühen Blicke in Anstaltsgärten“: Keiner kann seine Kindheit selbst wählen. Für die Ich-Erzählerin war sie Linz und der tägliche Spazierweg von der von unbezahlten Büchern des Vaters überbordenden Wohnung zur Landesirrenanstalt mit ihren freundlichen Insassen. „Bis der Himmel über Linz und der Donau den Linzer Schläfern recht gab und den Grat zwischen Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit kurz besänftigte“. In Wien bleiben die Katastrophen im Verborgenen („Die blaue Milch der Grünangergasse“). Das Hauptquartier der Gestapo im ehemaligen teuren „Hotel Metropol“, aus dessen Keller die Schreie während der Kreuzverhöre nicht nach außen drangen, befand sich ebenso in der Wiener Grünangergasse wie das „Gasthaus zum Grünen Anker“, dessen Besitzer noch eine Zeitlang die Juden in ihren Verstecken „nicht nur mit den besten seiner Weinvorräte“ versorgen konnte.

Oder „Pippi Langstrumpf im ‚71er’-Wagen“: Astrid Lindgrens Tod habe die Erzählerin verunsichert. „Ihr Sterben verlief wie leichte Erdbeben, die schwereren vorausgehen oder sie verhindern: Ihre Freunde sagen, sie hätte, entkräftet, ihren Tod herbeigesehnt“. Aber Pippi Langstrumpf, die Pillen gegen das Erwachsenwerden nahm, ist längst in Wien eingetroffen und überholt spielend die schnellste und am meisten frequentierte Straßenbahn 71, die zum Zentralfriedhof führt. Und wurde nicht zum 80. Geburtstag der schwedischen Schriftstellerin in ihrem Lande die Lex Lindgren zum Schutze der Tiere erlassen? Die „unglaubwürdigen Reisen“ führen die Medizinstudentin Ilse Aichinger in die Wiener Anatomie, nach dem mährischen Zauchtl, in dem 1868 die Großmutter geboren wurde, unweit von Freiberg, dem Geburtsort Sigmund Freuds, und auf den Spuren des Urgroßvaters in den Kaukasus.

Vorbild Günter Grass

„Geblieben ist die Neugier, die Lust an anderen Existenzformen, die täglich jeden Augenblick wieder so unglaubwürdig wie möglich machen“. Günter Grass wird ihr, als sie sich einer komplizierten Oberschenkelhalsoperation unterziehen muss, mit seiner Gelassenheit, seinem „Maß an Lebensfähigkeit“ zum Vorbild. Was wäre gewesen, wenn sein Oskar Matzerath aus Danzig die verfolgte Gruppe von Kindern um Ellen (aus Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“) in Wien getroffen hätte? „Hätte der Rhythmus seiner Trommel den Rhythmus der Transporte über die Schwedenbrücke wenigstens ein wenig aus dem Gleichmaß bringen können? Matzerath kam von der Ostsee. Er kann seine Angst nach außen werfen. Ellen nicht.“ „Einmal nicht zu reisen, sondern die Landschaft vor dem Fenster oder die Landschaft des Lebens auf sich zukommen zu lassen“, ist Aichingers erklärter Wunsch. Warum also Reisen? Warum Amerika? Lieber eine Schachpartie mit einer der fünf Tanten von Lewis Carroll als die vielgerühmte Skyline New Yorks bewundern. Zugleich gesteht sie ein, dass ja das gerade das Positive Amerikas ausmacht – „hingehn, wo immer man will. Also auch wieder fort“.

Schattenspiele

Und der Leser wird wohl ihre Erfahrung teilen: „Der Ort, an dem man für immer bleibt, wird ohnehin rasch der fremdeste von allen, ohne Absprungschanze, etwas für Ausbruchsversuche, aber zementiert wie die Hochsicherungshaftanstalten in den USA.“ Den „Unglaubwürdigen Reisen“ des ersten folgen die „Schattenspiele“ des zweiten Teils: „Menschen, die am Rande stehen, die nicht in Zeitungen oder auf Partys glänzen. Nur sie bleiben in Erinnerung, sie mit ihren Sterbensarten.“ Der Psychologe Alfred Adler, der immer im Schatten Freuds stand, dem die Flucht nach England gelang, und der unvermittelt und einsam 1937 in Aberdeen starb – „ein konsequent zu Ende definiertes Schattenspiel“? Der Silvestertag, die Neujahrswünsche der Erwachsenen, das „Heute“, das die kleinen Kinder sagen, wenn sie verzweifelt auf etwas bestehen: „das ist der Tag, der morgen endgültig vorbei ist“. Der junge Mann, den die Nachricht, er sei „HIV-positiv“, nur noch ein Ziel verfolgen lässt – ein Grab in Berlin, neben Marlene Dietrich, zu erhalten. Als ihm das gelingt, wird die Diagnose dementiert, er ist gesund, und nun bleibt ihm „nichts anderes mehr, als mit einer unabsehbar verlängerten Existenz fertig zu werden“.

„Schatten wechseln, streifen leicht vorbei, lindern, kühlen, aber ihre Möglichkeiten werden von dem bestimmt, der sie wirft“, so beginnt die Hommage auf den Lebensgefährten Richard Reichensperger, der das Leben als Geschenk nahm. “Uns bleibt die Hoffnung, dass das Geschenk seines Lebens an uns nicht verloren ist“. Der Nachruf auf den „armen Thomas“ – Thomas Bernhard – ist bei all seiner Kürze wohl der ergreifendste, der über ihn geschrieben wurde. Kein Schattenspiel ist die Geschichte „Nobelsonne“, in der sich Aichinger mit den Gründen für den Verfall des Wertes des Nobelpreises auseinandersetzt. Warum kräftigt die Grießnockerlsuppe vom Morzinplatz „für das Kommende und vor allem für einiges, was nicht kommt oder nie mehr wiederkommt“? Was hat das Ende des Zahnarztes der Zwillingsschwestern in einem der vielen Vernichtungslager mit der „Erlebnisgarantie“ zu tun, die der Reiseführer für Shanghai anbietet? „Haben schon gewählt?“, heißt es immer noch beim k. und .k. Hofzuckerbäcker Demel. Aber welche Wahl im Leben ist schon offen.

Bis an den Rand des Verstummens

Aichingers Texte führen oft bis an den Rand des Verstummens. Die reale Basis kann mitunter nur noch indirekt erschlossen und erraten werden, auch wenn in den Geschichten wieder mehr Detail aus der Außenwelt – der eigenen Familiengeschichte, von Zeitgenossen, Vorbildern und Schreckensbildern – eingebracht wird. Sie kreisen um Erinnerungen und Begegnungen, Verfolgung, Ausreise, Flucht, Leben – Leben hier und Leben da –, Reisen – realen und imaginären, glaubwürdigen und unglaubwürdigen –, Sterben und Tod. „Der Tod ist der Tod, ein Zustand, kein Prozess wie das Sterben“, betont die Schriftstellerin in einem Gespräch, das den Schlussteil des Bandes bildet. Deshalb spricht sie auch von „Sterbensarten“, nicht – wie das Ingeborg Bachmann getan hat – von „Todesarten“. Nicht der Tod mache ihr Angst, sondern das Sterben, sagt Ilse Aichinger, die vor gut einem Monat 84 geworden ist.

Literaturangaben:
AICHINGER, ILSE: Unglaubwürdige Reisen. Herausgegeben von Simone Fässler und Franz Hammerbacher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 187 S., 17,90 €.

Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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