MÜNCHEN (BLK) – „Diese Geschichte“ heißt der neue Roman von Alessandro Baricco und ist nun im Carl Hanser Verlag erschienen.
Klappentext: Im Mai 1903 beginnt in diesem Roman die Moderne: mit der Rallye Paris-Madrid, mit der Entdeckung der Geschwindigkeit. Im selben Jahr beschließt der piemontesische Bauer Libero Parri, seine Kühe zu verkaufen und eine Autowerkstatt einzurichten. Im Grafen D´Ambrosio findet er einen Gönner und Gleichgesinnten, und der Graf ist es auch, der Ultimo, dem einzigen Sohn Liberos, das erste Motorrad schenkt. Der junge Ultimo überlebt eine der furchtbarsten Schlachten des Ersten Weltkriegs, danach verschlägt es ihn nach Amerika. Dort trifft er eine russische Aristokratin, mit der zusammen er durch die amerikanische Provinz reist – sie gibt Klavierunterricht und soll Steinway-Klaviere verkaufen, er ist ihr wortkarger Chauffeur. Bis er eines Tages verschwindet. Aber die Rennbahn mit den 18 Kurven, von der Ultimo sein Leben lang geträumt hat, wird viele Jahre später befahren werden von einer eleganten alten Dame im Jaguar.
Die Motoren, das Abenteuer, der Mythos, die Visionen, die Träume: das sind die Elemente, die Bariccos neuen Roman ausmachen. Und natürlich erzählt er auch von der Liebe – und vom Leben, das, wie schon die alten Dichter wussten, eine Rennbahn ist.
Alessandro Baricco, 1959 in Turin geboren, studierte Philosophie und unterrichtete Kreatives Schreiben an der von ihm gegründeten Scuola Holden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen unter anderem „Seide“ (Roman, 1997), „Novecento“ (Erzählung, 1999) – beide wurden verfilmt – und bei Hanser die Romane „City“ (2000), „Ohne Blut“ (2003) und „Sterben vor lachen“ (Essays, 2005). „Diese Geschichte“ belegte monatelang den ersten Platz der italienischen Bestsellerliste.
Leseprobe:
© Carl Hanser Verlag ©
Die Zukunft kam zu Fuß, 1911, es war ein Märznachmittag, und es regnete. Libero Parri sah ihn schon von weitem. Er sah den langen Staubmantel und erkannte die auf die Lederkappe geschobene Fahrerbrille. Das Automobil fehlte, aber sonst war alles da.
„Es ist soweit“, flüsterte er Ultimo zu, der damit beschäftigt war, das Rad eines Fahrrads geradezubiegen. Um Missverständnisse zu vermeiden, versteckte Libero Parri den Milcheimer, den er gerade flickte, und setzte sich neben einen Stapel gebrauchter Reifen, die er vor kurzem in der Kaserne von Brandate gekauft hatte. Sie wussten, was sie sich schuldig waren.
Der Mann im Staubmantel ging langsam. Vor dem Regen schützte er sich mit einem großen grünen Schirm, und das verlieh seiner Erscheinung einen vage irrealen Anstrich. Wie eine Prophezeiung, wenn man so will. Er kam vor der Garage an und verharrte eine Weile, um unbegreiflicherweise den Jungen und das Fahrrad zu betrachten. Dann las er das Schild. Er tat es bedächtig, als entzifferte er eine antike Inschrift.
Schließlich blickte er zu Ultimo hinab. „Stimmt es, dass ihr hier Benzin habt?“
Ultimo drehte sich zum Vater um.
Libero Parri tat, als zählte er die Reifen. „Ja, das stimmt“, sagte er im Tonfall eines Menschen, der es leid ist, immer dieselbe Frage zu beantworten. Der Mann im Staubmantel schloss den Schirm und suchte in der Nähe der Reifen Schutz vor dem Regen. Dort wartete er eine Weile und betrachtete das Land ringsumher, das unter Wasser stand.
Dann wandte er sich an Libero Parri. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber was hat es, verdammt noch mal, für einen Sinn, eine Werkstatt mitten in diesem Sumpf aufzumachen?“
„Wir verlassen uns auf die Idioten, denen mitten auf den Feldern das Benzin ausgeht.“
Der Mann blickte Libero Parri an, als begänne er erst in diesem Moment ihn wahrzunehmen. Dann zog er einen Handschuh aus und reichte ihm die Hand.
„Sehr erfreut, Graf D’Ambrosio. Täuschen Sie sich nicht: ich bin nicht der Idiot, der ich zu sein scheine.“
„Libero Parri, angenehm. Ich täusche mich nicht.“
„Sehr gut.“
„Sehr gut.“
Jahre später sollten sie in die Zeitungen kommen, einer neben dem anderen, fast zu einem Namen verschmolzen: D’Ambrosio Parri. Doch das konnten sie damals noch nicht wissen. Sie waren erst am Anfang.
„Sie haben wirklich Benzin?“
„Soviel, wie Sie wollen.“
„Und ein warmes Bad?“
Es endete damit, dass der Graf blieb, um Leib und Seele vor dem Herdfeuer zu trocknen. Dann stellte Florence noch einen Teller auf den Tisch, und das Abendessen zog sich mit tausenderlei Plaudereien hin. Sie sprachen über Methangasmotoren, über die Fabriken in Turin und wie man Kalbskopf kocht. Als der Wein seine Wirkung tat, rutschten sie sichtlich ab in gewisse Geschichten von andalusischen Frauen und französischen Parfümen. Auch ein Witz über den König entwischte ihnen, aber da war Ultimo gerade in seinem Zimmer, um etwas zu holen.
Es war bereits stockdunkel, als D’Ambrosio beschloss, dass es an der Zeit sei, zu gehen. Er zog seinen Staubmantel an, stülpte sich die Lederkappe über den Kopf, steckte die Brille in die Tasche und streifte sich mit theatralischer Gebärde die Handschuhe über, während er auf die Tür zuging. Draußen hatte der Wind den Regen mitgenommen, und jetzt schien die Schwärze der Nacht wie frisch gestrichen.
„Wie herrlich“, bemerkte D’Ambrosio auf der Schwelle und sog die prickelnde Luft ein. Dann verbeugte er sich gegen sein Publikum und entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Mit einer gewissen Würde schritt er in die Richtung, aus der er gekommen war, und verschwand in der Dunkelheit.
Libero Parri schloss die Tür und kehrte an den Tisch zurück. Sie blieben eine Weile dort sitzen, er, Florence und Ultimo, und spielten mit den Krümeln auf der weiß-blau karierten Tischdecke.
„Das Kochfleisch war ausgezeichnet“, sagte Libero Parri, um Zeit zu gewinnen.
„Er schien es zu mögen, oder?“
„Er hat sogar seinen Schirm vergessen“, bemerkte Ultimo.
Libero Parri machte eine vage Handbewegung, wie um zu sagen, dass man es nicht zu genau nehmen sollte. Dann hörten sie ein Klopfen an der Tür.
Graf D’Ambrosio schien noch fröhlicher als vorher. „Bitte entschuldigt, es ist nur eine Kleinigkeit, aber ich entsinne mich klar und deutlich, dass ich ein Automobil hatte, als ich hier ankam.“
Libero Parri rekonstruierte für ihn den Tagesverlauf. Vom Benzin bis zum Wein.
„Genau so muss es gewesen sein“, räumte der Graf ein. Dann sagte er, ein Sessel reiche ihm völlig. Er habe nie Schlafprobleme. Sie brachten ihn in Ultimos Zimmer unter, wo sie ein Feldbett herrichteten, das im Keller vor sich hin alterte.
Bevor er die Kerze löschte, sicherte D’Ambrosio sich ab.
„Achte nicht drauf, wenn ich im Schlaf spreche. Meistens sind es keine interessanten Dinge.“
Ultimo sagte, das sei kein Problem, und auch er spreche im Schlaf.
„Gut. So etwas gefällt den Frauen.“
Dann fügte er eine Bemerkung über die Stille auf dem Land hinzu, aber diese Bemerkung war nicht recht zu verstehen. Mit einem Seufzer blies er die Kerze aus. Ultimo fragte sich, ob es angebracht war, gute Nacht oder etwas in der Art zu sagen. Doch dann hörte er ein Knarren und begriff, dass der Graf sich auf einen Ellenbogen gestützt hatte. Er musste noch einen Zweifel ausräumen.
„Schläfst du schon?“
„Nein.“
„Ich hätte da noch eine Frage.“
„Ja, bitte?“
„Ist dein Vater deiner Meinung nach verrückt?“
„Nein, Signore.“
„Die richtige Antwort, mein Junge.“
Ultimo hörte, wie der Graf sich aufs Bett zurückfallen ließ, als ob er sich einer Sorge entledigt hätte.
„Gute Nacht, Signore.“
Keine Antwort.
Erst nach einer Weile hörte Ultimo eine Art Gebrummel.
„Sieh mal einer an: seit Jahren hat mir das keiner mehr gesagt.“
Der nächste Tag war ein Sonntag. Nachdem der Tank gefüllt war, entschied Graf D’Ambrosio, dass es nur eines gab, was man an einem klaren Morgen wie diesem tun konnte: Fahrstunden geben. Auf dem Stapel Reifen sitzend, beobachtete Ultimo, wie sein Vater sich die Brille aufsetzte und die Hände auf das Steuer legte. Er hatte ihn schon früher so gesehen, doch alles, was dann folgte, war, dass sein Vater Motorgeräusche machte und Kurven mimte, indem er auf dem Fahrersitz hin und her schwankte: wenn man sich durchaus an die Fakten halten will, so hatte das Automobil dabei immer sehr still gestanden. Diesmal aber wurde Ernstgemacht. Libero Parri hörte sich die fachmännischen Empfehlungen des Grafen an und starrte dabei geradeaus auf einen eingebildeten Punkt. Dann stellte er eine Frage, die Ultimo nicht genau hörte.
„Reden Sie keinen Blödsinn“, antwortete D’Ambrosio, aber er lächelte.
Eine Zeitlang passierte nichts. Libero Parri saß immer noch wie angewurzelt da, den Blick starr nach vorne gerichtet. Die Hände um das Steuer geklammert, die Arme steif. Eine Statue.
Florence, die in die Tür getreten war, ein totes Huhn in der Hand, schüttelte den Kopf. „Seit wann atmet er nicht mehr?“
Bevor Ultimo antworten konnte, hörte man einen mechanischen Knall. Dann setzte das Automobil sich sanft in Bewegung, makellos, eine Billardkugel auf einem geneigten Tisch. Es fuhr auf die Straße, als hätte es das schon immer getan, und entfernte sich gemächlich zwischen den Feldern. Ultimo sah die Staubwolke, die dicht und rund über dem Land aufstieg, und einen Augenblick lang empfand er die Gewissheit, dass ihm von nun an nie mehr etwas geschehen könnte, denn das war sein Vater, und sein Vater war Gott.
Sie standen schweigend dort, bis das Geräusch des Motors sich in der Ferne verlor.
Dann sagte Ultimo: „Er kommt zurück, nicht wahr?“
„Wenn er es schafft, zu wenden …“
Später erfuhren sie, dass Libero Parri verlangt hatte, ins Dorf zu fahren, und dass er es gegen den Widerstand des Grafen mit erhöhter Geschwindigkeit durchquert hatte, während er zusammenhanglose Sätze brüllte, in denen Kühe vorkamen, der Bankdirektor und vielleicht die Pfaffensäcke.
„Nein, die Pfaffensäcke kamen nicht vor.“
„Seltsam, ich könnte schwören, ich hätte das Wort Pfaffensäcke gehört.“
„Äcker, ich habe Äcker gesagt.“
„Äcker voller Scheiße?“
„Gedüngte Äcker, ich wollte sagen, gedüngte Äcker.“
„Aha.“
„Lass gut sein, Graf, das sind Sachen, die du nicht verstehen kannst.“
Sie waren zum Du übergegangen. Aber bei den Nachnamen geblieben.
„Das hast du gut hingekriegt, Parri.“
„Ich habe einen guten Lehrer.“
Damit hätte es sein Bewenden haben können, aber den Grafen beschlich das deutliche Gefühl, dass noch eine Kleinigkeit an den Unterweisungen dieses Vormittags fehlte. Also wandte er sich um und traf Ultimos Blick, der wartend in der Luft des Hofes hing. Es schien, als wäre er seit Urzeiten da. Er schwebte über dem Brummen des immer noch laufenden Motors.
„Hättest du Lust auf eine Rundfahrt, Junge?“
Ultimo lächelte und sah rasch zu seinem Vater hin. Libero Parri blickte Florence an.
Florence steckte sich eine Locke hinter das Ohr und sagte: „Ja, er hätte Lust.“
Also kletterte Ultimo auf den Sitz, klemmte die Hände unter den Hintern und ballte die Finger zur Faust, um größer zu sein.
„Wohin willst du fahren? Sollen wir an der Schule vorbeifahren und Scheißlehrerin schreien?“
„Nein, ich will zur Kuppe von Piassebene.“
Die Kuppe von Piassebene war eine unerklärliche Erhebung mitten in der Ebene. Niemand wusste, was unter diesem Hügel steckte, doch tatsächlich war es so, dass das Land, das sich im Umkreis von vielen Kilometern flach wie ein Billardtisch hinzog, dort plötzlich mit der Schulter zuckte, um dann wieder in seine plane Stummheit zu verfallen. Und die Straße erhob sich mit dem Hügel. Wenn sie zu Fuß hinübergingen, Ultimo und sein Vater, endete es immer damit, dass sie unten am Ausläufer des Hügels zu rennen begannen, und oben auf dem Gipfel sprangen sie dann der Ebene ins Gesicht und brüllten dabei ihre Namen. Danach fielen sie wieder stumm in den gemessenen Schritt der Leute vom Lande, als wäre nichts geschehen.
„Ich fahre also zur Kuppe von Tassabene.“
„Piassebene.“
„Piassebene.“
„Geradeaus in diese Richtung.“
Graf D’Ambrosio legte den Gang ein und fragte sich, was an diesem Jungen nicht normal war. Er erinnerte sich, wie er ihn gestern zum ersten mal gesehen hatte, im Regen über das Fahrrad gebeugt, unter dem Schild GARAGE: wie absurd das auch erscheinen mochte, in dieser kleinen Szene gab es vor allem ihn, alles andere trat einen Schritt zurück in den Hintergrund. Plötzlich fiel ihm ein, wo er so etwas schon gesehen hatte, und zwar auf den Gemälden, die vom Leben der Heiligen erzählten. Oder von Christus. Sie waren immer voller Menschen, und alle taten wunderliche Dinge, aber den Heiligen, den sah man sofort, man brauchte ihn gar nicht zu suchen, der Heilige fiel einem immer als erster ins Auge. Oder Christus. Vielleicht kutschiere ich das Jesuskind durch die Landschaft, dachte er lächelnd und wandte sich zu ihm um. Ultimo blickte nach vorn, seine Augen waren ruhig, Wind und Staub kümmerten ihn nicht: er war ernst.
Er drehte nicht einmal den Kopf, als er mit lauter Stimme sagte: „Schneller, bitte.“
Graf D’Ambrosio achtete wieder auf die Straße und sah die Kuppe direkt vor sich, eine widersinnige, scharf umrissene Erhebung mitten in der phlegmatischen Ruhe des flachen Landes. Unter anderen Umständen wäre er vom Gaspedal gegangen, um dem Buckel im Gelände mit der leichten Kraft einer kontrollierten Trägheit nachzugeben. Er staunte ein wenig, als er sich dabei überraschte, dass er Gas gab wie ein Kind.
Auf dem Hügel lösten sich die neunhunderteinunddreißig Kilo des eisernen Ungetüms mit einer Eleganz vom Boden, die es sich seit jeher heimlich aufgespart hatte. Graf D’Ambrosio hörte den Motor in der Leere brüllen und ahnte das Flügelschwirren, mit dem die Räder sich in der Luft drehten. Die Hände fest um das Steuer gekrallt, tat er einen überraschten Schrei, während der Junge an seiner Seite, freilich mit einer ganz anderen Kaltblütigkeit und Freude, erstaunlicherweise seinen Namen brüllte, aus voller Kehle. Seinen Vor- und Nachnamen, um genau zu sein.
Das Auto musste Libero Parri mit dem Karren und mit Pferden abholen kommen. Sie zogen es bis zur Werkstatt, und dann musste eine Woche lang daran gearbeitet werden. Geflogen war es gut. Erst danach hatte es sich ein bisschen zerlegt.
Als der Graf am folgenden Sonntag wiederkam, um es abzuholen, sah das Automobil aus wie funkelnagelneu. Libero Parri hatte es mit einem Sachverstand poliert, an dem die Jahre, die er mit dem Striegeln von Kühen für die jährliche Ausstellung auf dem Rindermarkt zugebracht hatte, nicht ganz unbeteiligt waren. Der Graf kommentierte den Anblick mit einem bewundernden Pfiff, den er in den Bordellen halb Europas erprobt hatte. Dann zog er eine Tasche aus braunem Leder hervor und schob sie Libero Parri zu.
„Mach sie auf.“
Libero Parri machte sie auf. Darin waren eine Fahrerbrille, eine Lederkappe, Handschuhe, ein bunter Schal und eine Jacke mit aufgesticktem Etikett, das einen Schriftzug trug: D’Ambrosio Parri.
„Was bedeutet das?“
„Hast du schon mal was von Autorennen gehört?“
Libero Parri hatte davon gehört. Etwas für Reiche.
„Ich brauche einen Mechaniker, der mit mir fährt. Was sagst du dazu?“
Libero Parri schluckte, was ein merkwürdiges Geräusch machte.
„Ich habe keine Zeit für solche Sachen. Ich muss arbeiten.“
„Vierzig Lire am Tag, plus Spesen und ein Viertel von den Preisen.“
„Preise?“
„Wenn wir gewinnen.“
„Wenn wir gewinnen.“
„Genau.“
Dann drehten sich beide unwillkürlich zur Tür um, als hätte ein Geräusch sie abgelenkt. Alles war still, die Tür stand weit offen, niemand war zu sehen. Sie blieben einen Augenblick lang so stehen, den Blick auf die Tür gerichtet, als erwarteten sie etwas. Ultimo ging hinter dem Türrahmen vorbei, ohne sie zu bemerken, so sorgsam war er bedacht, das Reisigbündel, das er im Arm trug, nicht fallen zu lassen. Er verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.
„Und wer überredet Florence?“ sagte Libero Parri.
Doch Graf D’Ambrosio schien nicht zuzuhören.
„Dieser Junge hat etwas.“
„Wer, Ultimo?“
„Ja.“
„Er hat nichts.“
„Doch, er hat etwas.“
Libero Parri hob verlegen die Augen zum Himmel, wie einer, der beim Falschspielen ertappt wird.
„Es ist nichts, nur … Er hat den goldenen Schatten.“
„Wie bitte?“
„So sagt man hier in der Gegend. Es gibt Menschen, die haben den goldenen Schatten, das ist alles.“
„Und was soll das bedeuten?“
„Ich weiß es nicht … Sie sind anders, und die Leute erkennen sie. Die mit dem goldenen Schatten werden von allen gemocht.“
Der Graf schien nicht überzeugt. Libero Parri wagte eine Erklärung.
„Es liegt daran, dass er schon zwei- oder dreimal gestorben ist … Als er klein war, hat man ihn immer aufgegeben, aber er ist immer davongekommen. Wer weiß, vielleicht sind das Sachen, die einen verändern.“
Graf D’Ambrosio kam die einzige Frau in den Sinn, die er mehr geliebt hatte als Tennis und Automobile. Wenn man in ein Zimmer voller Menschen kam, konnte man fühlen, dass sie da war, ohne sie zu sehen oder zu wissen, dass sie zu Hause geblieben
war. Und im Theater brauchte man sie nicht zu suchen: sie war das erste, was man erblickte. Dabei war sie nicht mal besonders schön. Und es war sogar schwierig, herauszufinden, ob sie wirklich intelligent war. Aber das Licht war dort, wo sie war, und sie war das Gemälde. Sie hatte den goldenen Schatten, jetzt verstand er.
„Um Florence kümmere ich mich.“
Libero Parri fing an zu lachen.
„Du kennst sie nicht.“
„Ich brauche nur einen Augenblick.“
Graf D’Ambrosio blieb zehn Minuten bei Florence. Sie saßen am Küchentisch, und er erklärte ihr, was Rennen waren, wo sie stattfanden und warum.
„Nein“, sagte sie.
Dann erzählte er ihr vom Geld und vom Publikum und von den Reisen.
„Nein“, sagte sie.
Also erklärte er ihr, was Berühmtheit in der Geschäftswelt bedeutete. Und er versicherte ihr, dass in ein paar Monaten eine Menschenschlange vor dieser Werkstatt stehen würde.
„Nein“, sagte sie.
„Warum?“
„Mein Mann ist ein Träumer. Und Sie sind auch einer. Wacht auf, alle beide.“
Dann saß Graf D’Ambrosio eine Weile grübelnd da. Schließlich sagte er: „Ich will Ihnen etwas erzählen, Florence. Mein Vater war ein sehr reicher Mann, er war viel reicher als ich. Er hat fast alles durchgebracht, weil er einen verrückten Traum verfolgte, irgendetwas mit Eisenbahnen, ein Blödsinn. Er liebte Züge. Als er anfing, seine Besitztümer zu verkaufen, ging ich zu meiner Mutter und fragte sie: Warum hältst du ihn nicht auf? Ich war sechzehn Jahre alt. Meine Mutter gab mir eine Ohrfeige. Dann sagte sie einen Satz, den Sie jetzt auswendig lernen müssen, Florence. Sie sagte: Wenn du jemanden liebst, der dich liebt, zerstöre ihm niemals seine Träume. Der größte und unlogischste davon bist du.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verabschiedete er sich sehr höflich und ging hinaus in den Hof. Libero Parri hämmerte an einer Motorhaube herum, die er vor Monaten am Rand der Straße nach Piàdene gefunden hatte. Er plante, ein Dach für das Holzlager daraus zu machen.
„Alles in Ordnung“, verkündete der Graf, sich die Hände reibend.
„Was hat sie gesagt?“
„Sie hat nein gesagt.“
„Aha.“
„Am nächsten Sonntag geht es los. Da ist das Rennen Venedig–Brescia“, und er ging auf sein Auto zu.
„Aber wenn sie doch nein gesagt hat.“
„Sie hat nein gesagt, aber sie hat ja gedacht“, antwortete der Graf von weitem.
„Woher weißt du das?“
„Woher ich das weiß?“
„Tja.“
Graf D’Ambrosio blieb stehen. Einige Sekunden lang suchte er nach einer Antwort. Aber er fand keine. Er drehte sich um. Vor ihm stand Florence. Wie sie dort hingekommen war, wusste Gott allein. Sie sprach leise, damit nur er sie hörte, aber sie betonte jedes einzelne Wort. In sanftem Ton.
„Von wegen, Ihr Vater hat sein Geld durchgebracht, er ist einer der reichsten Männer Italiens, und wahrscheinlich hat er sich nie was aus Eisenbahnen gemacht. Was Ihre Mutter betrifft, so halte ich es für ausgeschlossen, dass sie Ihnen jemals eine Ohrfeige gegeben hat.“
Sie machte eine kurze Pause.
„Ich gebe zu, dass der kleine Satz über die Träume nicht übel ist, aber solche Sätze sind immer nur in Büchern wahr. Im Leben taugen sie nichts. Das Leben ist verdammt viel komplizierter, glauben Sie mir.“
D’Ambrosio machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte: Ich glaube Ihnen.
„Wie auch immer, Sie haben recht. Ich habe nein gesagt, aber ja gedacht. Den Grund verrate ich Ihnen nicht. Und wissen Sie was? Ich verrate ihn nicht einmal mir selbst, das ist besser für uns alle.“
D’Ambrosio lächelte.
„Sehen Sie zu, dass Sie ihn mir wieder nach Hause bringen. Ob ihr gewinnt oder verliert, ist mir völlig egal. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie ihn mir zurückbringen. Danke.“
D’Ambrosio beobachtete sie, während sie sich umdrehte und wieder ins Haus ging. Zum ersten Mal, und ohne jeden Vorbehalt, dachte er, dass sie eine schöne Frau war. Ein Gang zum Schneider hätte natürlich nicht geschadet, aber sie war eine schöne Frau.
„Nun?“ fragte Libero Parri mit lauter Stimme.
Der Graf machte eine Handbewegung in der Luft, die eine Menge Dinge bedeuten konnte.
© Carl Hanser Verlag©
Literaturangaben:
BARICCO, ALESSANDRO: Diese Geschichte. Roman. Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2008. 312 S., 19,90 €.
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