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Der vernichtende Krieg

Saul Friedländers Rückblick in „Die Jahre der Vernichtung“

© Die Berliner Literaturkritik, 03.11.06

 

MÜNCHEN (BLK) – Laut C. H. Beck Verlag erzählt Saul Friedländer mit „Die Jahre der Vernichtung“ die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Dritten Reiches. Das Buch sei zudem mit großer historiographischer Meisterschaft geschrieben.

Doch das Streben nach wissenschaftlicher „Objektivität“, nach Erklärung und Analyse, könne in einer Geschichte des Holocaust allein nicht genügen, wie der C. H. Beck Verlag informiert. Mit einem überwältigenden Chor von Stimmen – Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen – bewahre Saul Friedländer seine Darstellung vor der Gefahr der „domestizierten“ Erinnerung an ein Geschehen, das ohne Beispiel ist. Es sei gerade diese besondere Qualität seiner Geschichtsschreibung, die das Buch aus der Literatur heraushebe und ihm einen einzigartigen Rang zuweise. Mit „Die Jahre der Vernichtung“ lege Saul Friedländers großes Werk über die Ermordung der europäischen Juden nun vollständig vor.

Saul Friedländer wurde 1932 in Prag geboren und ist Professor für Geschichte an den Universitäten von Tel Aviv und California (Los Angeles). 1998 erhielt er für den ersten Band seiner Darstellung „Das Dritte Reich und die Juden“ den Geschwister-Scholl-Preis. (hen/lut)

 

Leseprobe:

© C. H. Beck Verlag 2006 ©

Einleitung

David Moffie wurde am 18. September 1942 an der Universität Amsterdam zum Doktor der Medizin promoviert. Auf einem anläßlich dieses Ereignisses aufgenommenen Photo stehen Professor C. U. Ariens Kappers, Moffies Doktorvater, und Professor H. T. Deelman zur Rechten des frischgebackenen Doktors, der Assistent D. Granaat zu seiner Linken. Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist, möglicherweise der Dekan der medizinischen Fakultät, steht ihnen gegenüber auf der anderen Seite eines großen Schreibtisches. Im Hintergrund sind – etwas unscharf – die Gesichter einiger der Menschen zu erkennen, die sich in dem kleinen Saal drängen – zweifellos Familienmitglieder und Freunde. Die Angehörigen des Lehrkörpers sind in ihre akademischen Festgewänder gekleidet, während Moffie und Assistent Granaat einen Smoking und einen weißen Schlips tragen. Am linken Revers seiner Smokingjacke trägt Moffie einen handtellergroßen Stern mit dem Aufdruck „Jood“: Moffie war der letzte jüdische Student an der Universität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung.

Dem akademischen Ritual entsprechend fielen gewiß die üblichen Worte des Lobes und der Dankbarkeit. Von anderen Kommentaren wissen wir nichts. Kurz darauf wurde Moffie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ebenso wie zwanzig Prozent der niederländischen Juden hat er überlebt; der größte Teil der bei dieser Zeremonie anwesenden Juden ist umgekommen.

Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es beispielsweise möglich, daß die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleich jüdische Studenten mit Wirkung vom 18. September aus den niederländischen Universitäten ausgeschlossen worden waren? Die Herausgeber des Bandes Photography and the Holocaust fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres 1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; das Wintersemester 1942/43 begann am Montag, dem 21. September 1942. Die dreitägige Zwischenzeit ermöglichte Moffies Promotion, obwohl der Ausschluß jüdischer Studenten bereits obligatorisch geworden war.
Eigentlich war die Unterbrechung genau auf ein Wochenende – von Freitag, den 18., bis Montag, den 21. – beschränkt; das heißt, die Universitätsbehörden haben sich bereiterklärt, den administrativen Kalender gegen die Intentionen des deutschen Erlasses anzuwenden. Diese Entscheidung spricht von einer Haltung, die seit Herbst 1940 an niederländischen Universitäten weit verbreitet war; die Photographie dokumentiert eine Form des trotzigen Eigensinns gegenüber den Gesetzen und Verfügungen des Besatzers.

Es gibt noch mehr zu sagen. Die Deportationen aus den Niederlanden begannen am 14. Juli 1942. Fast jeden Tag verhafteten die Deutschen und die einheimische Polizei auf den Straßen niederländischer Städte Juden, um ihr wöchentliches Soll zu erfüllen. Moffie hätte an dieser öffentlichen akademischen Zeremonie nicht teilnehmen können, hätte er nicht eine der speziellen (und nur zeitweilig gültigen) 17 000 Ausnahmebescheinigungen erhalten, welche die Deutschen dem Judenrat zugeteilt hatten. Indirekt evoziert das Bild somit die Kontroverse um die Methoden des Rates, mit denen zumindest vorübergehend einige der Juden Amsterdams geschützt und die große Mehrheit ihrem Schicksal überlassen wurden.
Allgemein betrachtet sind wir Zeugen einer recht alltäglichen Zeremonie. In einem gemäßigt festlichen Rahmen erhielt ein junger Mann die offizielle Bestätigung für das erworbene Recht, als Arzt zu praktizieren, Kranke zu behandeln und im Rahmen des Menschenmöglichen sein berufliches Wissen anzuwenden, um Gesundheit wiederherzustellen. Doch das an Moffies Jackett angeheftete „Jood“ vermittelt eine ganz andere Botschaft: Wie alle Angehörigen seiner „Rasse“ auf dem gesamten Kontinent sollte der frischgebackene Doktor der Medizin ermordet werden.
Das „Jood“, das nur schwach zu sehen ist, erscheint nicht in Blockbuchstaben oder in irgendeiner anderen gebräuchlichen Schrift. Die Schriftzeichen wurden eigens für diesen speziellen Zweck entworfen (und in den Sprachen der Länder, in denen die Deportationen vorgenommen wurden, ähnlich gezeichnet: „Jude“, „Juif“, „Jood“ usw.); sie hatten eine krumme, abstoßende und unbestimmt bedrohliche Form, die an das hebräische Alphabet erinnern und doch leicht entzifferbar bleiben sollte. Mit dem eigentümlich gestalteten Aufdruck erscheint die auf der Photographie abgebildete Situation wieder in ihrer Quintessenz. Die Deutschen waren darauf versessen, die Juden als Individuen auszurotten und das auszulöschen, was der Stern und seine Inschrift repräsentierten: „den Juden“.

Wir vernehmen das kaum hörbare Echo eines wütenden Angriffs, der darauf zielte, jede Spur von „Jüdischkeit“, jedes Zeichen des „jüdischen Geistes“, jeden Überrest jüdischer Präsenz (sei sie real oder imaginär) aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu tilgen. Zu diesem Zweck setzten die Nazis auf ihrem Feldzug im Reich und im gesamten besetzten Europa alles ein: Propaganda, Erziehung, Forschung, Publikationen, Filme, Ächtungen und Tabus in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen, ja jedes überhaupt mögliche Verfahren der Austilgung und Ausmerzung, vom Umschreiben religiöser Texte oder Opernlibretti, denen ein Makel von Jüdischkeit anhaftete, bis zur Umbenennung von Straßen, die mit ihrem Namen an Juden erinnerten, vom Verbot von Musik oder literarischen Werken jüdischer Komponisten und Schriftsteller bis zur Zerstörung von Denkmälern, von der Ausschaltung „jüdischer Wissenschaft“ bis zur „Säuberung“ von Bibliotheken und schließlich, nach dem berühmten Wort Heinrich Heines, von der Verbrennung von Büchern bis zur Verbrennung von Menschen.

I

Die „Geschichte des Holocaust“ läßt sich nicht nur auf die deutschen politischen Strategien, Entscheidungen und Maßnahmen beschränken, die zu diesem systematischsten und entschlossensten aller Völkermorde geführt haben. Sie muß die Reaktionen (und gelegentlich die Initiativen) der umgebenden Welt ebenso einbeziehen wie die Stimmen der Opfer, weil das Geschehen, das wir Holocaust nennen, eine Totalität ist, die durch eben dieses Konvergieren eigenständiger Elemente definiert ist.

Diese Geschichte wird verständlicherweise in vielen Fällen als deutsche Geschichte geschrieben. Die Deutschen, ihre Kollaborateure und ihre Hilfstruppen waren die Anstifter und Hauptakteure der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und meist auch die ihrer Durchführung. Außerdem sind deutsche Dokumente, die diese politischen Strategien und Maßnahmen behandeln, nach der Niederlage des Deutschen Reiches in erheblichem Umfang zugänglich geworden. Diese gewaltigen Materialsammlungen, die schon kaum handhabbar waren, bevor die Archivbestände der ehemaligen Sowjetunion und des Ostblocks zugänglich wurden, haben seit Ende der 1980er Jahre den Fokus auf die deutsche Dimension dieser Geschichte zwangsläufig noch weiter verschärft. Und in den Augen der meisten Historiker scheint eine Untersuchung, die sich auf die deutsche Dimension dieser Geschichte konzentriert, der Begriffsbildung und der vergleichenden Analyse eher entgegenzukommen – mit anderen Worten, weniger «provinziell» zu sein – als alles, was sich aus der Sicht der Opfer oder gar derjenigen der umgebenden Welt schreiben läßt.

Dieser Ansatz, der Deutschland in den Mittelpunkt rückt, ist innerhalb seiner Grenzen selbstverständlich legitim, die Geschichte des Holocaust aber erfordert eine erheblich breitere Darstellung. Auf Schritt und Tritt hing im besetzten Europa die Durchführung deutscher Maßnahmen von der Unterwürfigkeit politischer Autoritäten ab, von der Unterstützung durch örtliche Polizeitruppen oder andere Hilfskräfte, von der passiven Hinnahme oder der Mitwirkung der Bevölkerung sowie vor allem der politischen und geistlichen Eliten. Ebenso abhängig waren die mörderischen Maßnahmen von der Bereitschaft der Opfer, Befehle zu befolgen in der Hoffnung, sie abzumildern oder Zeit zu gewinnen und ihrer unerbittlichen Verschärfung irgendwie zu entgehen. Somit sollte die Geschichte des Holocaust eine integrative und integrierte Geschichte sein.

*

Kein einzelner Begriffsrahmen kann die vielfältigen und konvergierenden Stränge einer derartigen Geschichte umfassen. Selbst deren deutsche Dimension läßt sich nicht nur aus einem einzigen konzeptionellen Blickwinkel interpretieren. Der Historiker steht vor der Interaktion sehr verschiedenartiger Faktoren, von denen sich jeder einzelne definieren und deuten läßt; gerade ihr Konvergieren läßt sich jedoch nicht mit einer übergreifenden analytischen Kategorie erfassen. Im Laufe der vergangenen sechzig Jahre ist eine Fülle von Erklärungsversuchen aufgetaucht – nur um einige Jahre später wieder aufgegeben und danach dann neu entdeckt zu werden –, und so ging es immer weiter, besonders im Hinblick auf die grundlegenden politischen Strategien der Nationalsozialisten schlechthin. Den Ursprung der „Endlösung“ hat man auf einen „Sonderweg“ der deutschen Geschichte zurückgeführt, auf eine besondere Variante des deutschen Antisemitismus, auf rassenbiologisches Denken, bürokratische Politik, Totalitarismus und Faschismus, auf die Moderne, auf einen „europäischen Bürgerkrieg“ (von der Linken und von der Rechten gesehen) und anderes mehr.

Eine Analyse dieser Deutungen würde ein anderes Buch erfordern. Hier werde ich mich im wesentlichen darauf beschränken, den Weg darzulegen, den ich eingeschlagen habe. Gleichwohl sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu zwei einander entgegengesetzten Richtungen in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung über das „Dritte Reich“ im allgemeinen und über die „Endlösung“ im besonderen erforderlich.

Die erste Richtung hat die Vernichtung der Juden als ein Geschehen im Blick, das an und für sich ein herausragendes Ziel deutscher Politik gewesen ist, dessen Erforschung jedoch neue Ansätze erfordert: Zu untersuchen sind im Detail die Aktivitäten von Akteuren auf der mittleren Ebene, das Geschehen in begrenzten Regionen oder die spezifische institutionelle und bürokratische Dynamik, und all das sollte ein gewisses neues Licht auf die Funktionsweise des gesamten Systems der Vernichtung werfen. Dieser Ansatz hat unser Wissen und unser Verständnis erheblich erweitert; viele seiner Befunde habe ich in meine eher global orientierte Darstellung integriert.

Die andere Richtung hat im Laufe der Jahre dazu beigetragen, manche neue Spur zu entdecken. Doch im Hinblick auf die Erforschung des Holocaust hat jede dieser Spuren schließlich denselben Ausgangspunkt: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas war lediglich eine sekundäre Konsequenz bedeutender deutscher politischer Strategien, die verfolgt wurden, um ganz andere Ziele zu erreichen. Zu den Zielen, die in diesem Zusammenhang am häufigsten erwähnt werden, gehören ein neues wirtschaftliches und demographisches Gleichgewicht in Europa, Völkerverschiebung und deutsche Siedlung im Osten, die systematische Ausraubung der Juden zur Erleichterung der Kriegführung, ohne der deutschen Gesellschaft oder, genauer gesagt, Hitlers Volksstaat eine allzu große materielle Belastung auferlegen zu müssen. Ungeachtet der Perspektiven, die derartige Studien sporadisch eröffnen, ist ihre allgemeine Stoßrichtung mit den zentralen Postulaten, die meiner Interpretation zugrunde liegen, offensichtlich unvereinbar.

Wie in Die Jahre der Verfolgung habe ich mich in diesem Band dafür entschieden, mich auf die zentrale Stellung ideologisch-kultureller Faktoren als wesentlichen Triebkräften der nationalsozialistischen Judenpolitik zu konzentrieren, abhängig selbstverständlich von den Umständen, von institutioneller Dynamik und – was für die hier behandelte Zeit ganz wesentlich ist – vom Verlauf des Krieges.
Die Geschichte, mit der wir es hier zu tun haben, ist ein untrennbarer Bestandteil des „Zeitalters der Ideologien“, und zwar, präziser und entscheidender, seiner Spätphase: der Krise des Liberalismus im kontinentalen Europa. Zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die liberale Gesellschaft von links durch den revolutionären Sozialismus (der dann in Rußland zum Bolschewismus und überall sonst zum Kommunismus werden sollte) und andererseits durch eine revolutionäre Rechte attackiert, aus der nach dem Ersten Weltkrieg in Italien und anderswo der Faschismus und in Deutschland der Nationalsozialismus hervorgingen. In ganz Europa setzte man die Juden mit dem Liberalismus und häufig mit dem Sozialismus wie auch mit dessen revolutionärer Variante gleich. In diesem Sinne nahmen die antiliberalen und antisozialistischen (oder antikommunistischen) Ideologien der revolutionären Rechten in all ihren Erscheinungsformen die Juden als Repräsentanten derjenigen Weltanschauungen ins Visier, die sie bekämpften, und vor allen galten sie als die Anstifter und Träger dieser Weltanschauungen.

In Deutschland gewann diese Entwicklung in der Atmosphäre nationalen Ressentiments nach der Niederlage von 1918 und später als Ergebnis der wirtschaftlichen Umbrüche, die das Land (und die Welt) erschütterten, eine Stoßkraft eigener Art. Ohne den zwanghaften Antisemitismus und die persönliche Wirkung Adolf Hitlers, zunächst im Rahmen seiner Bewegung, dann, nach dem 30. Januar 1933, auf nationaler Ebene, wäre der weitverbreitete deutsche Antisemitismus jener Jahre wahrscheinlich nicht mit einem gegen die Juden gerichteten politischen Handeln und gewiß nicht mit dessen Folgen verschmolzen.
Die Krise des Liberalismus und die Reaktion gegen den Kommunismus als ideologische Quellen des Antisemitismus, der auf dem deutschen Schauplatz bis zum Äußersten getrieben wurde, wurden in ganz Europa immer virulenter; dadurch konnte die Nazi-Botschaft mit der positiven Reaktion zahlreicher Europäer sowie einer ganzen Schar von Unterstützern jenseits der Küsten des alten Kontinents rechnen. Überdies entsprachen Antiliberalismus und Antikommunismus den Haltungen der großen christlichen Kirchen, und der traditionelle christliche Antisemitismus ging leicht in den ideologischen Dogmen autoritärer Regimes und faschistischer Bewegungen auf – wie zum Teil in einigen Aspekten des Nationalsozialismus.

Schließlich blieben gerade infolge dieser Krise der liberalen Gesellschaft und ihres ideologischen Unterbaus die Juden auf einem Kontinent, auf dem der Vormarsch des Liberalismus ihre Emanzipation und soziale Mobilität ermöglicht und gefördert hatte, in zunehmendem Maße schwach und isoliert zurück. Somit wird der hier beschriebene ideologische Hintergrund zum indirekten Bindeglied zwischen den drei Hauptkomponenten dieser Geschichte: dem nationalsozialistischen Deutschland, der umgebenden europäischen Welt und den über den ganzen Kontinent verstreuten jüdischen Gemeinschaften. Ungeachtet der deutschen Entwicklung, die ich kurz angesprochen habe, reichen diese Hintergrundelemente jedoch nicht aus, um den besonderen Gang der Ereignisse in Deutschland zu erklären.

II

Die Besonderheiten des antijüdischen Kurses der Nationalsozialisten resultierten aus der von Hitler vertretenen Variante des Antisemitismus, aus der Bindung zwischen Hitler und sämtlichen Ebenen der deutschen Gesellschaft, vor allem nach der Mitte der dreißiger Jahre, aus der politisch-institutionellen Instrumentalisierung des Antisemitismus durch das NS-Regime sowie natürlich, nach dem Überfall auf Polen im September 1939, aus der sich entwickelnden Kriegslage.

In Die Jahre der Verfolgung habe ich die von Hitler vertretene Variante des Judenhasses als „Erlösungsantisemitismus“ bezeichnet; mit anderen Worten, jenseits der unmittelbaren ideologischen Konfrontation mit dem Liberalismus und dem Kommunismus, bei denen es sich in den Augen Hitlers um Weltanschauungen handelte, die von Juden und zugunsten jüdischer Interessen erfunden worden waren, faßte er seine Mission als eine Art Kreuzzug zur Erlösung der Welt durch die Beseitigung der Juden auf. Er sah „den Juden“ als das Prinzip des Bösen in der abendländischen Geschichte und Gesellschaft. Ohne einen siegreichen Kampf zum Zweck der Erlösung würde der Jude schließlich die Welt beherrschen. Dieses übergreifende metahistorische Axiom führte zu Hitlers konkreteren ideologisch-politischen Folgehandlungen.

Auf einer biologischen, politischen und kulturellen Ebene, hieß es, strebe der Jude danach, die Nationen dadurch zu zerstören, daß er rassische Verseuchung verbreite, die Strukturen des Staates unterminiere und ganz allgemein an der Spitze der wichtigsten ideologischen Geißeln des 19. und 20. Jahrhunderts stehe, als da waren Bolschewismus, Plutokratie, Demokratie, Internationalismus, Pazifismus und diverse andere Gefahren. Durch den Einsatz dieses breiten Spektrums von Mitteln und Methoden ziele der Jude darauf, die Zersetzung des vitalen Kerns aller Nationen, in denen er lebe, und insbesondere die des deutschen Volkes zu bewirken, um danach die Weltherrschaft anzutreten. Seit der Errichtung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland sei der Jude sich über die Gefahr, die das erwachende Deutsche Reich für ihn bedeute, im klaren. Deshalb sei er zur Entfesselung eines neuen Weltkriegs bereit, durch den diese Herausforderung auf seinem Vormarsch zur Weltherrschaft vernichtet werden solle.

Diese unterschiedlichen Ebenen der antijüdischen Ideologie lassen sich auf die knappste Weise zusammenfassen: Der Jude war eine tödliche und aktive Bedrohung für alle Nationen, für die arische Rasse und für das deutsche Volk. Die Betonung liegt nicht nur auf „tödlich“, sondern auch – und vor allem – auf „aktiv“. Während sämtliche anderen Personenkreise, die vom NS-Regime ins Visier genommen wurden – die Geisteskranken, die „Asozialen“ und Homosexuellen, rassisch „minderwertige“ Gruppen einschließlich der Zigeuner und der Slawen –, im wesentlichen passive Bedrohungen darstellten (solange die Slawen beispielsweise nicht von den Juden geführt wurden), waren die Juden aus nationalsozialistischer Sicht die einzige Gruppe, die seit ihrem Eintritt in die Geschichte erbarmungslos Ränke schmiedete und Manöver unternahm, um die gesamte Menschheit zu unterjochen.

Dieser antijüdische Wahn an der Spitze des Nazisystems wurde nicht in ein Vakuum geschleudert. Seit Herbst 1941 bezeichnete Hitler „den Juden“ häufig als den „Weltbrandstifter“. Tatsächlich loderten die Flammen, die Hitler anfachte, nur deshalb so flächendeckend und intensiv, weil in ganz Europa und darüber hinaus ein dichtes Gestrüpp ideologischer und kultureller Elemente bereitstand, die Feuer fangen konnten. Ohne den Brandstifter wäre das Feuer nicht ausgebrochen; ohne das Gestrüpp hätte es sich nicht so weit ausgebreitet und eine ganze Welt vernichtet. Diese beständige Interaktion zwischen Hitler und dem System, in dem er agierte, wird in der vorliegenden Untersuchung in gleicher Weise wie in Die Jahre der Verfolgung analysiert und interpretiert werden. Hier beschränkt sich jedoch das System nicht auf seine deutschen Komponenten, sondern es dringt in die entlegensten Winkel des europäischen Raumes vor.

Für das NS-Regime brachte der Kreuzzug gegen die Juden auch eine Reihe pragmatischer Vorteile auf politisch-institutioneller Ebene mit sich. Für ein Regime, das auf fortwährende Mobilisierung angewiesen war, diente der Jude gleichsam als treibende Kraft. Mit der Radikalisierung der Ziele des Regimes und dann mit der Ausweitung des Krieges wurde die antijüdische Kampagne immer extremer; und in diesem Kontext werden wir die Herausbildung der „Endlösung“ sehen können. Wie wir beobachten werden, paßte Hitler selbst den Feldzug gegen „den Juden“ taktischen Zielen an; sobald aber die ersten Anzeichen der Niederlage sichtbar wurden, rückte der Jude in den Mittelpunkt der Propaganda, wodurch das Volk in einem verzweifelten Kampf bei der Stange gehalten werden sollte.

Als Resultat der kollektiven Mobilisierungsfunktion „des Juden“ – und wir werden sehen, wie erbarmungslos verleumderisch die antijüdische Nazipropaganda während des gesamten Krieges verfuhr – war das Verhalten vieler gewöhnlicher deutscher Soldaten, Polizisten oder Zivilisten gegenüber den Juden, denen sie begegneten, die sie mißhandelten und ermordeten, nicht unbedingt Ausdruck einer tiefsitzenden und historisch einzigartigen antijüdischen Leidenschaft, wie Daniel Jonah Goldhagen behauptet hat. Es war auch nicht vorwiegend das Ergebnis einer ganzen Reihe normaler sozio-psychologischer Verstärkungen, Zwänge und gruppendynamischen Prozesse, die von ideologischen Motivationen unabhängig gewesen wären, wie Christopher R. Browning meint.

Das System als Ganzes hatte eine antijüdische „Kultur“ hervorgebracht, die zum Teil in historischem Antisemitismus deutscher und europäisch-christlicher Provenienz verwurzelt war, aber auch mit all den Mitteln gefördert wurde, welche dem Regime zur Verfügung standen. Sie wurde bis zur Weißglut getrieben – mit unmittelbaren Auswirkungen auf kollektives und individuelles Verhalten. „Gewöhnliche Deutsche“ waren sich dieses Prozesses vielleicht vage bewußt, oder möglicherweise hatten sie, was plausibler ist, die antijüdischen Bilder und Glaubensvorstellungen verinnerlicht, ohne sie als eine Ideologie zu erkennen, die durch staatliche Propaganda und deren unentwegten Einsatz systematisch verschärft wurde.

Während die wesentliche Mobilisierungsfunktion „des Juden“ vom Regime und seinen Dienststellen manipuliert wurde, erfolgte die Förderung einer anderen – nicht weniger entscheidenden – Funktion eher intuitiv. Hitlers Führung hat man oft als „charismatisch“ definiert, als eine Führung, die auf jener quasi-göttlichen Rolle basierte, die charismatischen Führern von den Volksmassen, welche ihnen folgen, zugeschrieben wird. Im Laufe der folgenden Kapitel werden wir immer wieder auf die Bindung zurückkommen, die zwischen ihm, der Partei und dem Volk bestand. Hier mag die Feststellung genügen, daß Hitlers persönliche Kontrolle über die überwältigende Mehrheit der Deutschen drei verschiedenen und übergeschichtlichen Erlösungscredos entstammte und sie, so weit der Inhalt seiner Botschaft reichte, zum Ausdruck brachte: dem Glauben an die letztliche Reinheit der Rassengemeinschaft, an die Überwältigung von Bolschewismus und „Plutokratie“ und an die endliche Erlösung in einem Tausendjährigen Reich (die allseits bekannten christlichen Themen entlehnt war). In jeder dieser Traditionen repräsentierte der Jude das Böse schlechthin. In diesem Sinne verwandelte sich Hitler durch seinen Kampf in einen göttlichen Führer, da er an allen drei Fronten gegen denselben metahistorischen Feind kämpfte: den Juden.

*

Überall im deutschen Machtbereich in Europa wirkten institutionelle Machtkämpfe, die allgemeine Jagd nach Vorteilen und das Gewicht etablierter Interessengruppen auf die Entfaltung des ideologischen Furors ein. Die ersten beiden Faktoren sind in einer Vielzahl von Untersuchungen beschrieben und interpretiert worden, und sie werden hier in vollem Umfang einbezogen; der dritte Aspekt jedoch, von dem weniger häufig die Rede ist, scheint mir wesentlich in dieser Geschichte zu sein.
In der hochentwickelten modernen deutschen Gesellschaft und zumindest in Teilen des besetzten Europa mußte selbst Hitlers Autorität und die der Parteiführung bei der Umsetzung jeder beliebigen politischen Strategie die Forderungen massiver Interessengruppen berücksichtigen, seien es diejenigen von Parteimachthabern (den Gauleitern), der Industrie, der Kirchen, der Bauernschaft oder der Kleingewerbetreibenden usw. Mit anderen Worten, die Imperative der antijüdischen Ideologie mußten sich auch auf eine Vielzahl struktureller Hindernisse einstellen, die sich vom Wesen und von der Dynamik moderner Gesellschaften schlechthin herleiteten.

Niemand würde eine derartige Selbstverständlichkeit bestreiten; gerade deshalb ist ein Faktum von zentraler Bedeutung: Nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland und in ganz Europa erklärte ihre Solidarität mit den Juden. (Auch von der Haltung der christlichen Kirchen wird hier zu sprechen sein.) Im Gegenteil: Viele Gesellschaftsgruppen, viele Machtgruppen waren unmittelbar in die Enteignung der Juden verwickelt und, sei es auch aus Gier, stark an ihrem völligen Verschwinden interessiert. Somit konnten sich nationalsozialistische und mit ihnen verwandte antijüdische politische Strategien bis zu ihren extremsten Konsequenzen entfalten, ohne daß irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten.

III

Am 27. Juni 1945 schrieb die weltberühmte jüdisch-österreichische Chemikerin Lise Meitner, die 1939 aus Deutschland nach Schweden emigriert war, an ihren ehemaligen Kollegen und Freund Otto Hahn, der seine Arbeit im Reich fortgesetzt hatte. Nach dem Hinweis, daß er und die anderen deutschen Wissenschaftler viel über die immer schlimmere Verfolgung der Juden gewußt hätten, fuhr Meitner fort: „Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß, um Euer Gewissen los zu kaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut.“ Meitners cri de coeur, der über Hahn an die prominentesten Naturwissenschaftler Deutschlands gerichtet war, von denen keiner ein aktives Parteimitglied, keiner in verbrecherische Aktivitäten verwickelt war, hätte ebensogut für die gesamte intellektuelle und geistliche Elite des Reiches (selbstverständlich mit einigen Ausnahmen) und für weite Teile der Eliten in den besetzten Ländern und in den Satellitenstaaten Europas gelten können. Und was für die Eliten galt, das galt mit noch größerem Recht für die Bevölkerung der einzelnen Länder (wiederum mit Ausnahmen). Hier waren, wie gesagt, das Nazisystem und der europäische Hintergrund eng miteinander verknüpft.

Einige grundlegende Fragen zu den Einstellungen und Reaktionen von Zuschauern können wir immer noch nicht genau beantworten. Das ist entweder auf die Fragen selbst zurückzuführen oder auf das Fehlen wichtiger Dokumente. Die allgemeine Wahrnehmung der Ereignisse läßt sich zum Teil immer noch schwer einschätzen. Eine große Menge von dokumentarischem Material wird jedoch zeigen, daß zwar in Westeuropa, in Skandinavien und in den Balkanländern die Wahrnehmungen, was das Schicksal der deportierten Juden anging, bis Ende 1943 oder sogar bis Anfang 1944 verschwommen gewesen sein mögen, nicht aber in Deutschland selbst und natürlich auch in Osteuropa nicht. Ohne die hier folgenden Interpretationen vorwegzunehmen, läßt sich sagen: Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß es Ende 1942 oder spätestens Anfang 1943 einer gewaltigen Zahl von Deutschen, Polen, Weißrussen, Ukrainern und Balten klar vor Augen stand, daß die Juden zur totalen Ausrottung verurteilt waren.

Schwieriger zu erfassen ist die Folge einer derartigen Information. Während der Krieg, die Verfolgung und die Deportationen in ihre letzte Phase eintraten und während das Wissen um die Vernichtung sich immer weiter verbreitete, nahm auf dem ganzen Kontinent auch der Antisemitismus zu. Zeitgenossen registrierten diesen paradoxen Trend, dessen Interpretation zu einem beherrschenden Thema im dritten (und letzten) Teil dieser Darstellung werden wird.

Ungeachtet aller Probleme der Interpretation sind die Einstellungen und Reaktionen von Zuschauern reichlich dokumentiert. Vertrauliche Stimmungsberichte des SD, des Sicherheitsdienstes der SS, bieten ebenso wie Berichte anderer Dienststellen aus Staat und Partei ein alles in allem zuverlässiges Bild deutscher Einstellungen. Die Tagebücher von Joseph Goebbels, eine der Hauptquellen dafür, wie sehr Hitler von den Juden besessen war, beschäftigen sich ebenfalls systematisch mit deutschen Reaktionen auf das Judenproblem, wie sie sich von der Spitze des Systems her darstellten, während Soldatenbriefe Proben der Einstellungen bieten, die sozusagen auf der untersten Ebene geäußert wurden. In den meisten besetzten Ländern oder Satellitenstaaten berichteten deutsche Diplomaten regelmäßig über die Stimmung in der Bevölkerung, beispielsweise angesichts der Deportationen, und offizielle Quellen der lokalen Verwaltung wie etwa die rapports des préfets in Frankreich, gingen ebenfalls auf diese Thematik ein. Individuelle Reaktionen von Zuschauern, auch solche, die von jüdischen Tagebuchschreibern registriert wurden, werden in das Gesamtbild eingehen, und gelegentlich bieten an einem bestimmten Ort geführte Tagebücher, deren Eintragungen sich, wie im Falle des polnischen Arztes Zygmunt Klukowski, über eine ganze Periode hinweg erstrecken, ein lebendiges Bild der Einsichten eines Individuums über die sich wandelnde Gesamtszenerie.

Bei den Fragen nach den Zuschauern, die für uns aufgrund der Unzugänglichkeit entscheidender Dokumente nicht zu beantworten sind, steht die Haltung des Vatikans und vor allem die von Papst Pius XII. bis heute im Vordergrund. Ungeachtet einer umfangreichen Sekundärliteratur und der Verfügbarkeit einiger neuer Dokumente stellt die Tatsache, daß es Historikern nicht möglich ist, Zugang zu den Archiven des Vatikans zu erhalten, eine erhebliche Einschränkung dar. Ich werde die Einstellung des Papstes so eingehend behandeln, wie es die gegenwärtige Quellenlage zuläßt, aber der Historiker steht hier vor einem Hindernis, das sich hätte beseitigen lassen, bislang aber noch nicht aus dem Weg geräumt worden ist.

*

In ihrem eigenen Rahmen, getrennt von der detaillierten Geschichte deutscher politischer Strategien und Maßnahmen oder von den Einstellungen und Reaktionen von Zuschauern, ist die Geschichte der Opfer sorgfältig dokumentiert worden, zunächst während der Kriegsjahre und dann natürlich seit dem Ende des Krieges. Hier gab es durchaus Studien über die politischen Strategien von Herrschaft und Mord, die aber nur skizzenhaft waren. Das Schwergewicht lag von Anfang an auf der gründlichen Sammlung dokumentarischer Spuren und Zeugnisse zum Leben und Tod der Juden: Es ging um die Einstellungen und Strategien der jüdischen Führung, um die Versklavung und Vernichtung jüdischer Arbeiter, die Aktivitäten verschiedener jüdischer Parteien und politischer Jugendorganisationen, um den Alltag im Ghetto, die Deportationen, den bewaffneten Widerstand, den massenhaften Tod an jedem einzelnen der Hunderte von Tötungsorten, die sich über das gesamte besetzte Europa verteilten. Auch wenn bald nach dem Krieg hitzige Debatten und systematische Interpretationen zusammen mit der fortlaufenden Sammlung von „Spuren“ zu einem untrennbaren Bestandteil dieser Geschichtsschreibung wurden, ist doch die Geschichte der Juden eine in sich geschlossene Welt und überwiegend die Domäne jüdischer Historiker geblieben. Selbstverständlich kann die Geschichte der Juden während des Holocaust nicht die Geschichte des Holocaust sein; ohne sie jedoch läßt sich die allgemeine Geschichte dieser Ereignisse nicht schreiben.

In ihrem höchst umstrittenen Buch Eichmann in Jerusalem legte Hannah Arendt ganz direkt einen Teil der Verantwortung für die Vernichtung der Juden Europas auf die Schultern der verschiedenen jüdischen Führungsgruppen, der Judenräte. Diese weitgehend unbegründete These machte aus Juden Kollaborateure bei der Vernichtung ihres eigenen Volkes. In Wirklichkeit war jeder Einfluß, den die Opfer auf den Verlauf ihrer eigenen Viktimisierung haben konnten, marginal, aber manche Interventionen fanden (mit welchem Ergebnis auch immer) in einigen wenigen nationalen Kontexten statt. So hatten in mehreren derartigen Situationen jüdische Führer einen beschränkten, aber nicht völlig unbedeutenden Einfluß (positiver oder negativer Art) auf den Verlauf der Entscheidungen, die von nationalen Behörden gefällt wurden. Wahrnehmbar war dies, wie wir sehen werden, in Vichy, in Budapest, Bukarest, Sofia, vielleicht in Bratislava und natürlich in den Beziehungen zwischen jüdischen Repräsentanten und den alliierten und neutralen Regierungen. Überdies hat auf eine besonders tragische Weise der jüdische bewaffnete Widerstand – hier und da auch die Aktivität jüdisch-kommunistischer Widerstandsgruppen wie der Gruppe Baum in Berlin –, sei es in Warschau, Treblinka oder Sobibór, möglicherweise zu einer beschleunigten Vernichtung der verbleibenden jüdischen Sklavenarbeiterschaft geführt (zumindest bis Mitte 1944).

Von außerordentlicher Bedeutung war auch die Interaktion zwischen den Juden in den besetzten Ländern, den Satellitenstaaten, den Deutschen und der sie umgebenden Bevölkerung auf der unteren Ebene. Von dem Augenblick an, als die Vernichtungspolitik in Gang gesetzt wurde, waren alle Schritte, die von Juden unternommen wurden, um das Bemühen der Nazis zur Vernichtung jedes Einzelnen zu behindern, ein unmittelbarer Gegenzug – und sei es auf minimaler individueller Ebene: Beamte, Polizisten oder Denunzianten bestechen, Familien dafür bezahlen, daß sie Kinder oder Erwachsene verstecken, in die Wälder oder ins Gebirge fliehen, in kleine Dörfer verschwinden, konvertieren, sich Widerstandsgruppen anschließen, Lebensmittel stehlen – alles, was einem Menschen einfiel und das Überleben ermöglichte, hieß, der deutschen Zielsetzung ein Hindernis in den Weg zu legen. Auf dieser Mikro-Ebene fand die grundlegende und fortlaufende Interaktion der Juden mit den Kräften statt, die bei der Durchführung der „Endlösung“ am Werk waren. Diese Mikro-Ebene bedarf der nachhaltigsten Untersuchung. Und hier gibt es Dokumente in Hülle und Fülle.

Die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden läßt sich aus der Perspektive der Opfer nicht nur durch spätere Zeugnisse (Aussagen vor Gericht, Interviews und Memoiren) rekonstruieren, sondern auch mit Hilfe der ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern (und Briefen), die während der Ereignisse geschrieben und im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte aufgefunden wurden. Diese Tagebücher und Briefe schrieben Juden aller europäischen Länder, aus allen Lebensbereichen, allen Altersgruppen, die entweder unter unmittelbarer deutscher Herrschaft oder mittelbar in der Sphäre der Verfolgung lebten. Selbstverständlich muß man die Tagebücher mit der gleichen kritischen Aufmerksamkeit benutzen wie jedes andere Dokument, vor allem dann, wenn sie nach dem Krieg von dem überlebenden Verfasser oder von überlebenden Familienmitgliedern publiziert worden sind. Als Quelle für die Geschichte des jüdischen Lebens während der Jahre der Verfolgung und Vernichtung bleiben sie jedoch entscheidend und unersetzlich.

Ob die Mehrzahl der jüdischen Tagebuchschreiber in der Frühphase des Krieges deshalb mit dem Schreiben begann oder die Aufzeichnungen fortführte, weil sie für eine künftige Geschichte über die Ereignisse Buch führen wollte, läßt sich schwer feststellen; als sich aber die Verfolgung verschlimmerte, wurden sich die meisten von ihnen ihrer Rolle als Chronisten und Memoirenschreiber ihrer Epoche sowie als Interpreten und Kommentatoren ihres persönlichen Schicksals bewußt. Bald vertrauten Hunderte, ja wahrscheinlich Tausende von Zeugen ihre Beobachtungen der Verschwiegenheit ihrer privaten Aufzeichnungen an. Große Ereignisse und vieles, was alltägliche Vorfälle betraf, Einstellungen und Reaktionen der umgebenden Welt verschmolzen zu einem immer umfassenderen, wenn auch gelegentlich widersprüchlichen Bild. Sie gestatten Einblicke in Einstellungen auf höchster politischer Ebene (beispielsweise in Vichy-Frankreich und in Rumänien), sie schildern in allen Einzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter, die Reaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung ihrer eigenen Gemeinschaften, aber sie halten auch die Welt ihres Alltags fest. Starke Äußerungen von Hoffnung und Illusionen treten zutage; die wildesten Gerüchte, die phantastischsten Interpretationen der Ereignisse erscheinen zumindest eine Zeitlang als plausibel. Für viele werden die katastrophalen Ereignisse auch zu einer Herausforderung für ihre früheren Überzeugungen, für die Bedeutung ihres ideologischen oder religiösen Engagements, für die Werte, die ihr Leben bestimmt haben.

Jenseits ihrer allgemeinen historischen Bedeutung gleichen solche persönlichen Chroniken Blitzlichtern, die Teile einer Landschaft erleuchten: Sie bestätigen Ahnungen, sie warnen uns vor der Mühelosigkeit vager Verallgemeinerungen. Manchmal wiederholen sie nur mit unvergleichlicher Überzeugungskraft das Bekannte. Um es mit Walter Laqueur zu sagen: „Es gibt gewisse Situationen, die so extrem sind, daß es einer außerordentlichen Anstrengung bedarf, um ihre Ungeheuerlichkeit zu begreifen, sofern man sie nicht miterlebt hat.“

Bis heute hat man die individuelle Stimme vorwiegend als eine Spur wahrgenommen, als die Spur, welche die Juden hinterlassen haben, welche Zeugnis ablegt, ihr Schicksal bestätigt und veranschaulicht. In den folgenden Kapiteln werden die Stimmen der Tagebuchschreiber aber noch eine ganz andere Rolle spielen. Gerade durch ihr Wesen, kraft ihrer Menschlichkeit und Freiheit, kann eine individuelle Stimme, die sich plötzlich im Verlauf der gewöhnlichen historischen Erzählung von Ereignissen wie den hier dargestellten erhebt, eine glatte Interpretation und die (meist unwillkürliche) Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanz und „Objektivität“ durchbrechen. In einer Geschichte des Weizenpreises am Vorabend der Französischen Revolution wäre eine derartige disruptive Funktion kaum erforderlich, aber für die historische Repräsentation von massenhafter Vernichtung und anderen Abfolgen massenhaften Leidens, die von einer Business-as-usual-Historiographie zwangsläufig domestiziert und sozusagen „verflacht“ wird, ist sie unentbehrlich.

Jeder von uns nimmt die Wirkung der individuellen Stimme anders wahr, und jeder Mensch wird durch die unerwarteten „Schreie und geflüsterten Worte“, die uns immer wieder dazu zwingen, abrupt innezuhalten, auf andere Weise herausgefordert. Einige beiläufige Reflexionen über bereits wohlbekannte Ereignisse mögen genügen, entweder infolge ihrer kraftvollen Beredsamkeit oder wegen ihrer hilflosen Ungeschicklichkeit; oftmals kann die Unmittelbarkeit des Schreies eines Zeugen, in dem Entsetzen, Verzweiflung oder unbegründete Hoffnung liegen, unsere emotionale Reaktion auslösen und unsere vorgängige, gut geschützte Wahrnehmung extremer historischer Ereignisse erschüttern.

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Kehren wir zu Moffies Photographie zurück, zu dem auf sein Jackett aufgenähten Stern mit seiner abstoßenden Inschrift und zu dessen Bedeutung: Wie alle Träger dieses Zeichens sollte der junge Doktor der Medizin von der Erdoberfläche verschwinden. Sobald man ihre Botschaft verstanden hat, löst diese Photographie Fassungslosigkeit aus. Sie ist eine quasi-instinktive Reaktion, ehe das Wissen sich einstellt, um sie sozusagen zu unterdrücken. Mit Fassungslosigkeit ist hier etwas gemeint, das aus der Tiefe der eigenen unmittelbaren Weltwahrnehmung aufsteigt, der Wahrnehmung dessen, was normal ist und was „unglaublich“ bleibt. Das Ziel des historischen Wissens besteht darin, die Fassungslosigkeit zu domestizieren, sie wegzuerklären. In diesem Buch möchte ich eine gründliche historische Untersuchung über die Vernichtung der Juden Europas vorlegen, ohne das anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit völlig zu beseitigen oder einzuhegen.

© C. H. Beck Verlag 2006

Literaturangaben:
FRIEDLÄNDER, SAUL: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C. H. Beck Verlag, München 2006. 869 S., 34,90 €.

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