Fühlen, schmecken, hören, riechen, sehen – es ist eine wahrhaft poetische Reise in die Welt der Sinne, in die Julia Franck den Leser mitnimmt, schlägt er die erste Seite ihres prämierten Romans „Die Mittagsfrau“ auf. Keine Zeile geht vorüber, ohne die zahlreichen Möglichkeiten der Empfindungen nicht wenigstens anzutasten, von zärtlich-süß über schmerzlich-real bis hin zu ekelerregend und gleichsam sachlich wird das ganze Feld abgedeckt.
Szenen werden, ganz ohne die Hilfe blümeranter Wortschöpfungen oder ausschweifender Sprache, mit einer Eindringlichkeit beschrieben, die erschreckend und wundervoll zugleich sein kann und einen teilweise wohligen, teilweise kalten Schauer zur Folge hat. Es scheint, als öffne man mit dem Buchdeckel eine hübsch verzierte Schmuckschatulle, in der sich all die wohlklingenden Wörter der deutschen Sprache neben den nüchtern klingenden tummeln, und die Autorin bediene sich dieser passend zu jeder Szene.
Wir schreiben das Jahr 1945, die Schrecken und Wirren des Krieges liegen in den letzten Zügen, die Löcher in den Herzen sind groß und die Menschen zunehmend abgestumpft. Wir befinden uns bei Peter, einem kleinen Jungen, der gezwungen ist, erwachsener zu sein, als es ihm möglich ist, er muss so gut wie möglich für sich selber sorgen; die Mutter arbeitet fast rund um die Uhr als Krankenschwester, sie ist bei den zahlreichen Kriegsverletzten, wo man sie dringend braucht. Um ihren Sohn, der sie ebenfalls braucht, kümmert sie sich nicht.
Die Zeiten sind mager, eine Flucht aus der Stadt in den Westen scheint die einzige Möglichkeit, die vergangenen grauenhaften Jahre zu vergessen. In einem kleinen Bahnhof irgendwo in Vorpommern setzt die Frau Peter mit seinem kleinen Köfferchen auf eine Bank. „Du wartest hier, ich bin gleich zurück.“ Sie kehrt nie wieder.
Doch dies ist nicht die Geschichte von Peter, dies ist die Geschichte seiner Mutter, Helene Würsich, geboren in einem kuscheligen Elternhaus in Bautzen. Mit ihrer neun Jahre älteren Schwester Martha verlebt Helene eine ruhige Kindheit, tastet sich sachte vor in der Welt und träumt von einem Medizinstudium in Berlin. Die Idylle hat jedoch ein jähes Ende, als der Vater in den Ersten Weltkrieg zieht und Frau und Kinder zurücklässt. Nur noch zum Sterben kommt er zurück nach Hause, seine Würde ist genommen, ein Bein bei einer Fehlzündung abgeschossen, das Verhältnis zu seiner Frau nicht mehr reparierbar.
Sie kann ihm nicht vergeben. Selma Würsich, Helenes Mutter, verfällt in zunehmende Lethargie ob des Verlustes ihres Mannes und flüchtet sich in ihre eigene Welt voller Blätter, Nüsse, Schnüre und Zeitungsausschnitten. Das ganze Haus ist vollgestopft damit, die Kinder müssen sich Wege durch das Chaos bahnen, um ihre Mutter zu erreichen. Doch die will eigentlich nichts von ihren Kindern wissen, hätte sie doch viel lieber ihre Söhne zurück, von denen sie vier nach der Geburt zu Grabe tragen musste.
Helene leidet unter der immer stärker werdenden Lieblosigkeit ihrer Mutter, auch ihre Schwester muss sie sich nun mit Leontine teilen, zu der diese eine Liebesbeziehung hält; doch sie bleibt stark, verhärtet sich, denn schließlich muss es irgendwo einen Ausweg geben. Der kommt in Form von Fanny, einer Verwandten der Mutter, die in der Hauptstadt ein Leben in Saus und Braus führt und die Schwestern aufnimmt. Helene wird in das Nachtleben Berlins eingeführt, beobachtet um sich herum den Gebrauch allerlei Drogen, die kürzer werdenden Kleider ohne Taille, tanzt zu lang gezogener und seltsam rhythmischer Jazz-Musik. Es sind die Goldenen Zwanziger, und jedes verfügbare Klischee dieser Zeit wird aufs Äußerste ausgereizt.
Helene lernt Carl kennen, einen ambitionierten Studenten der klassischen Literatur, der mit ihr nicht nur über Literatur und den Sinn des Lebens diskutiert, sondern sie darüber hinaus in die Liebe einführt, das schon leicht unterkühlte Herz Helenes auflockert und sie wieder Spaß am Leben haben lässt. Doch das Glück ist nicht auf Helenes Seite, und als Carl kurz nach ihrer Verlobung bei einem Unfall stirbt, scheint das Leben auch für Helene zu Ende.
Das Herz erkaltet, die Hoffnung verschwunden, funktioniert Helene nur noch wie ein Automat. Sie erledigt die Aufgaben, die ihr als Schwester aufgetragen werden, leert Bettpfannen und erneuert Verbände bis tief in die Nacht, Hauptsache, es gibt einen Tagesablauf, der sie zusammenhält. „Was zählte, war, den Mechanismus des Lebens nicht zu unterbrechen, das hieß, das Nötigste schlafen, das Nötigste essen.“
Auf einer Party bei Fanny lernt sie Wilhelm kennen, deutschnational gesinnt, groß und kräftig und wichtiger Drahtzieher bei der Erbauung der ersten Reichsautobahn. Zu willensschwach und gleichgültig gegenüber dem weiteren Verlauf des Lebens willigt Helene einer Heirat mit Wilhelm ein, wird zum Heimchen am Herd degradiert und ist gezwungen, sich ohne Widerspruch seine Rassenhetze gegenüber Juden anzuhören, und das, obwohl ihre Mutter doch selber Jüdin ist.
Als eine Schwangerschaft nicht mehr auszuschließen ist, verabschiedet sich Wilhelm immer häufiger, die Verantwortung für das Balg habe sie jetzt selber zu tragen, schließlich könne man ja nie wissen, mit wie vielen Männern sie sonst noch verkehre, und ein Kind jüdischer Abstammung sei sowieso undenkbar.
Gefühlskalt bringt Helene das Kind zur Welt, die Lebensbedingungen um sie herum werden immer unerträglicher, sie kann das Kind nicht annehmen, es scheint nicht ihr eigenes zu sein, und noch dazu ein Junge. Das zunehmende Verlangen nach Liebe und Aufmerksamkeit ihres Sohnes ist für sie nicht zu bewältigen, immer stärker wird der Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, allein.
Ist man zu Beginn der Erzählung noch empört über die kaltblütige Vorgehensweise, die Kaltherzigkeit der Frau, so beginnt das Fundament dieser Entscheidung mit dem Verlauf der Erzählung gehörig zu wackeln. Hat man sich erst einmal in die aufwühlende Lebensgeschichte dieser Frau, Helene Würsich, eingelesen, dank der ausdrucksstarken Schreibweise Julia Francks ihre Gedankengänge kennengelernt und ihre zunehmende Gefühllosigkeit verstehen können, so schleicht sich der anfängliche Vorwurf davon, ja so beginnt man sogar nachzuvollziehen, wie es zu dieser schwerwiegenden Entscheidung kommen konnte.
Vereinzelte Kritik an der Geschichte, dass Frau Franck - da selbst erst Jahrgang 1970 und somit in einer glücklicherweise kriegsfreien Zeit aufgewachsen - ja eigentlich gar nicht wissen könne, welche emotionalen Qualen eine Frau in dieser Zeit durchzustehen hatte, verliert ihre Standhaftigkeit, wenn man mit einbezieht, dass die Autorin mitnichten auf eine historisch einwandfreie Schilderung der Ereignisse bedacht war. Die Gräuel der Kriegstaten oder andere historische Ereignisse werden nur am Rande in die Erzählung eingeflochten und selten bis gar nicht namentlich genannt – im Vordergrund steht die Geschichte einer Frau, welche unabhängig von Zeit und Ort im Raum steht.
Sieht man einmal von den vereinzelt auftretenden orthografischen Fehlern beziehungsweise der Verwechslung von Namen ab, die den Leser für kurze Zeit grübeln lassen, so bleibt eine Geschichte über die Suche nach Liebe und Hoffnung zurück, nach Zugehörigkeit und Zuneigung, eine Geschichte über die grauenhafte Zeit der beiden Weltkriege und eine faszinierende Frau.
Julia Franck erhielt für ihren Roman „Die Mittagsfrau“ in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis, der seit 2005 jährlich als Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman vergeben wird. Sie hat ihn verdient.
Literaturangaben:
FRANCK, JULIA: Die Mittagsfrau. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 429 S., 19,90 €.
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