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Laudatio zum Wettbewerb Literatur.digital 2001 von DTV und T-Online
- Frankfurt am Main, 13. 10. 2001 -

Meinen Damen und Herren,

ich werde mitunter gefragt, wie ich die Zukunft der digitalen Literatur sehe. Immer muss ich es der Phantasie der Frager überlassen, sich auszumalen, welch technologische Entwicklung uns noch bevorsteht und in welcher Weise die Literatur ästhetisch darauf reagieren wird. Die einzige Aussage, zu der ich gern bereit bin, ist eine über den Begriff. Man kann schon heute nur noch mit Anführungzeichen von Literatur sprechen, denn digitale Literatur ist entweder keine Literatur im herkömmlichen Sinne oder sie ist keine digitale Literatur. Was allein auf die Kraft des Wortes setzt, muss nicht vom Buch ins digitale Medium wandern. Dem reinen Buchstaben begegne ich nach wie vor lieber auf dem Papier, und wer sich – diese Bemerkung erlaube ich mir, drei Tage nach der Verleihung des eBook-Awards – dicke Romane am Bildschirm antut, ist selber schuld.

Ohne Frage: Es gibt Gründe genug, am Lektor und überhaupt an allen Instanzen des traditionellen literarischen Feldes vorbei seine Texte im Internet zu publizieren. Aber dahinter stecken dann literatursoziologische Erwägungen, nicht die Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen. Ich betone dies hier eigens, weil noch immer Literatur im Internet als Internetliteratur bezeichnet wird, was etwa dem gleichkäme, abgefilmte Lesungen wie die in Klagenfurt TV-Literatur zu nennen. Das Vorlesen von Texten macht daraus noch kein Hörspiel, so wie die Präsentation von Geschichten und Gedichten in den digitalen Medien daraus noch kein neues ästhetisches Genre macht. In solchen Fällen spricht man wohl besser von digitalisierter Literatur, die aus Distributionsgründen ins Internet gebracht wird, ansonsten sich aber auch sehr gut auf Papier ausnimmt. 

Echte digitale Literatur hingegen bedarf des digitalen Mediums als Produktions- und Rezeptionsgrundlage. Worum es bei Wettbewerben wie diesem von DTV und T-Online geht, ist der ästhetische Mehrwert, der aus der Spezifik des digitalen Mediums resultiert. Und ich füge gleich hinzu: Dieser Mehrwert ist noch nicht gegeben, wenn Geschichten mit Bildern geschmückt werden, Gedichte statt im Inhaltsverzeichnis aufgelistet zu sein, über eine Linkleiste zugänglich sind, oder wenn im Hintergrund Musik läuft. Einige Teilnehmer des Wettbewerbs haben diesbezüglich den Standpunkt der Veranstalter durchaus testen wollen.

Worin kann nun aber der ästhetische Mehrwert liegen? Was ist die Spezifik des digitalen Mediums?

Natürlich gibt es eine Vielzahl mitunter programmspezifischer Merkmale, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Ich will zumindest drei Faktoren nennen, die sich als Dachbegriffe und Beschreibungsfaktoren bewährt haben: Interaktivität, Intermedialität und Inszenierung.

Mit Interaktivität ist die Teilhabe des Rezipienten an der Konstruktion des Werkes gemeint, was zum einen in Reaktion auf Eigenschaften des Werkes, zum andern in Reaktion auf Handlungen anderer Rezipienten erfolgen kann. Im ersten Falle handelt es sich um programmierte Interaktivität, die zwischen Mensch und Software stattfindet; im zweiten handelt es sich um netzgebundene Interaktivität, die zwischen Mensch und Mensch mittels Software stattfindet. Zur ersten Gruppe gehören die Hyperfiction oder andere kombinatorische Werke, bei denen der Leser durch Linkentscheidungen die Gestalt des Werkes im vorgegebenen Rahmen bestimmen kann. Zur zweiten Gruppe gehören die Mitschreibprojekte. 

Mit Intermedialität ist die Verbindung von Text, Bild und Ton gemeint. Diese ist freilich nur schwach ausgereizt, wenn ein Text mit einer recht beliebigen Musikschleife unterlegt oder durch ein illustrierendes Bild begleitet wird. Hier erwartet man mehr; zum Beispiel dass ein Bild sich selbst dekonstruiert oder dass der Sound einen Gegentext zum Wort bildet. 

Inszenierung steht für die Programmierung einer werkimmanenten oder rezeptionsabhängigen Performance. Dem digitalen Werk können auf seinen unsichtbaren Textebenen (im HTML-Quellcode oder in den Bild- und Tondatei) Aspekte der Aufführung eingeschrieben werden, so dass die Worte und Bilder gewissermaßen ihren 'Auftritt' haben. Das Stichwort dazu kann vom Programm kommen oder vom Betrachter durch bestimmte Inputs.

***

Meine Damen und Herren, nun bin ich schon in die Details gegangen, habe bereits Merkmalsbestimmungen vorgenommen, ohne über unseren Wettbewerb und die Entscheidung der Jury gesprochen zu haben. Der Umweg war nötig, um die Bedingungen und Erwartungen deutlich zu machen, unter denen ein Wettbewerb wie dieser stattfindet. Die Juroren waren sich im klaren darüber, dass es hier nicht um Literatur im herkömmlichen Sinne geht und dass es problematisch wäre, mit einem literarischen Fokus an die Werke heranzugehen. Textqualität ist ein wichtiger Aspekt, gewiß, aber nicht der einzige, und in einer Phase des Experimentierens mit den neuen Ausdrucksmitteln des digitalen Mediums vielleicht nicht einmal der wichtigste. Die Jury stellte dies in Rechnung, als sie 5 Kriterien notierte, die sie der Bewertung zugrundelegte: 

1. Innovationskraft des Werkes
2. Linksemantik, Benutzerfreundlichkeit, Interaktivität
3. Bildschirmästhetik
4. Multimedialität
5.Textqualität

Diese 5 Kriterien wurden angewandt auf die sieben Werke, die sich unter den je vier Favoriten der Juroren mindestens zweimal befanden. Bis zu 5 Punkte konnte jeder je Kriterium und je Werk vergeben, wobei bis zu 3 Zusatzpunkte möglich waren für den ästhetischen Rest, der in diesem Bewertungsverfahren nicht aufging. Die Zahlen ergaben drei Favoriten, die nochmals kritisch beleuchtet wurden.

Die Urteilsfindung fiel nicht leicht, was unschwer der Entscheidung für zwei erste Sieger zu entnehmen ist. Die Parteien in der Jury hatten durchaus Gründe vorzubringen, warum der jeweilige Gegenkandidat nicht den Sieg davon tragen könne. Der Kompromis ergab zwei erste Plätze. 

Quadrego von Stefan Maskievicz bringt die Psyche einer Multiplen Persönlichkeit auf die Bühne des Bildschirms. "Es ist dunkel und der Morgen reift", so lesen wir, "noch unter der schwarzen Schale. Die Sonne liegt noch unter dem Horizont. Im Zimmer ein bläuliches Licht. Niemand nur sie. Im Bett. Da sind Iris, No, Rolf und Tom. Sie ist allein. Alle sind da. Streit liegt in der Luft. Es ist schon fast ein Ritual. Alle sind eins und niemand ist sich einig. Jeder will sein Recht. Keiner gibt nach."

Was folgt, sind Dialoge und Monologe unter den vier Bewohnern dieses Ich. Die Viererlogik wird aus der Inhalts- auf die Formebene überführt, der Bildschirm zeigt die Portraits der Beteiligten nebeneinander. Aber das ist es noch nicht das besondere an Quadrego. Das besondere ist, dass man die Gespräche nun selbst steuern kann. Dass man entscheiden kann, wer wem antwortet. Maskievicz hat einen komplizierten Mechanismus der Bezüge entwickelt, der allein mit HTML und JavaScripts auskommt. Es ist ihm gelungen, die Sache mit einer Unzahl an if- und for-Befehlen so abzustimmen, dass jedes Image und jeder Text auf dem in 14 Frames aufgeteilten Bildschirm schließlich an der richtigen Stelle, in der richtigen Größe und in der richtigen Reihenfolge erscheint.

Die Freiheit der Kombination vollzieht sich freilich innerhalb der Vorgaben des Autors. Man kann immer nur aus den potentiellen Gesprächspartnern auswählen, die der Autor vorgesehen hat; und was sie dann sagen werden, ist exakt das, was der Autor ihnen in den Mund gelegt hatte. Diese Texte spiegeln die Befindlichkeit der Eingesperrten. Wer da eher Aktion als Psychorhetorik erwartet, wird nicht auf seine Kosten kommen. Die einzige Aktion ist die Verschlimmerung der Multiple Personality Disorder, wenn schließlich auch Georg – bisher reales Gegenüber der Vierer-Gruppe – Teil des multiplen Ich wird. Eine verfahrene Situation, die im Kreislauf der Kombinatorik ihre beklemmende Wirkung entwickelt.

Mit leichteren Schritten hingegen kommen Julius Raabes Knittelverse daher, die ebenfalls eine bisher nicht erlebte Variante des kombinatorischen Erzählens vorführen. Zunächst scheint dieses Stück freilich alles andere als zu erzählen, denn zunächst sieht man sich nur dem Bild Brillantenschieber im Cafe Kaiserhof von George Grosz gegenüber. Man mag an Lessings Laokoon denken und daran, dass Bilder eingefrorene Zeit sind und sich nicht narrativ entwickeln können. Aber was Lessing über den Unterschied von bildender Kunst und Sprachkunst sagte, gilt nicht mehr, wenn hinter dem Bild verschiedene Ebenen an Text auf ihren Einsatz lauern.

Eine Ebene ist der Befehlstext, der zum Beispiel dafür sorgt, dass bei Mausklick die Köpfe der Personen auf dem Bild sich bewegen und gar ihre Zugehörigkeit ändern oder eine Person eine Havanna raucht, wobei sich dann tatsächlich auch Qualm über die Szenerie legt. Zugleich erscheinen – dies ist die andere Ebene versteckten Textes – rechts und links vom Bild kreuzreimige Vierzeiler – Raabes sogenannte Knittelverse –, die den vier dargestellten Personen Klick für Klick eine Geschichte anhängen.

Schon diese Idee hat es in sich, macht sie doch deutlich, dass ein digitales Bild mehr ist als die Digitalisierung eines Bildes. Im Reich des Digitalen gibt es keine Linie mehr, nur eine entsprechende Verdichtung von Pixeln; jedes dieser Pixel kann separat angesprochen und zum Verlassen seines Platzes programmiert werden. Das digitale Bild ist kein festgehaltener Moment mehr, es hat selbst seine eingeschriebenen Momente. Der Slogan lautet nicht mehr nur: Dies ist keine Zigarre, sondern auch: Dies ist keine Abbildung einer Zigarre. Denn was wir sehen ist immer bloß die temporäre Visualisierung eines alphanumerischen Codes.

Aber Raabes Werk buchstabiert nicht nur das Wesen eines Bildes um, es stellt auch eine originelle Form des Hypertexts dar, denn je nach Ordnung des Klickens erzählt dieses Bild verschiedene Geschichten. Da stiehlt der hagere Mann in der Mitte einmal dem Glatzköpfigen im Vordergrund das Geld, ein andermal tritt er als Kommissar auf, dann als Hasardeur, dann wieder – nun als Anarchist – zündet er eine Bombe, die den Bildschirm schwarz werden lässt. Die Entdeckung der ganz im Grosz-Stil nicht gerade feingeschnitzten, und sicher auch nicht zu ernst gemeinten Texte führt zu einem Klickspaß, der immer wieder neue Lesarten des Bildes hervorbringt. Rund 1 800 Wörter bzw. 2,5 engbeschriebene Seiten Text verbergen sich unter der Oberfläche dieser Flash-Komposition: Da kann es schon vorkommen, dass manchen der Verse eine Hebung fehlt oder eine zuviel auf den Weg gegeben wurde. Aber auch hier – ich wiederhole mich – war es vor allem die dem Medium abgerungene Erzählform, die die Jury überzeugte. Und dieses Ungleichgewicht ist für einen Buch-Verlag gewiß das günstigere. Denn welche Hilfe wäre ein klassischer Lektor, der weiß, wie man Texte repariert, schon in Fragen des technischen Settings?!

Wenig Lektorenhilfe braucht die Callas-Box von Andreas-Luis Seyerlein, ein Text-Puzzle aus Nachrichten und persönlichen Aufzeichnungen. Wir sind im Jahre 2028, das gesunkene Laborschiff Seatown, auf dem die geklonten Callas-Schwestern aufwuchsen, ist gefunden worden. Wie man bald erfährt, wurde darauf an bakteriologischen Waffen experimentiert. Auch die anderen Nachrichten des Tages malen ein düstere Bild der Zukunft: in Lybien sind ölfressende Bakterien in ein Ölfeld eingedrungen, in Amerika werden Schauspieler entführt, um ihnen Eizellen zu entnehmen, die dann auf dem Schwarzmarkt für gewaltige Summen gehandelt werden.

Der Haupttext – die Aufzeichnungen des schiffbrüchigen Joe Ellis – ist von überzeugender poetischer Qualität, aber er ist streng linear und könnte – so die Einwände innerhalb der Jury – ebenso gut auf Papier existieren. Das Werk setzte sich in der Abstimmung trotzdem durch: weil die spezifische Erzählsituation nur im Internet funktioniert. Die Geschichte ist eingebettet in eine Website, die wie das Medienangebot einer Nachrichtenagentur aussieht und sich auch so verhält. Da werden Bilder, Graphiken, Karten präsentiert, die überhaupt nichts erhellen, da gibt es Links zu vertiefenden Informationen und Formulare für Rückmeldungen, für die einem der Einwahlcode fehlt. In diesem Setting liegt der medienkritische Akzent des Werkes. Nicht die angebotenen Informationen allein malen ein düsteres Zukunftsbild, auch die Umstände des Angebots – als, wenn man so will, Text zwischen den Zeilen. Insofern wurden die spezifischen Eigenschaften des digitalen Mediums hier durchaus in ästhetischer Hinsicht – und preiswürdiger Weise – eingesetzt.

Meine Damen und Herren, die Entscheidungen fielen knapp aus, und so ist es nur fair, auch die anderen vier Beiträge zu nennen, die in die nähere Auswahl der Jury gelangten: 

Blackbox von Nicole Nickel ist ein peppiges Berlin-Portrait in Flash-Manier, das den Information-Overload unserer Zeit mediengerecht in Szene setzt. 

Apfel von Dorit Linke, Heike Trobisch und Thomas Schröder ist eine kafkaeske Geschichte mit gut gemachter Flash-Illustration. 

Die Galerie von Heiko Paulheim holt als "begehbare Erzählung in zwölf Räumen" die Hypertextstruktur an die Oberfläche, indem sie den Lesern überläßt, welchen Raum sie zuerst betreten und welches Bild sie zuerst lesen wollen. 

ER/SIE von Ursula Menzer und Sabine Orth ist ein sehr gut designtes Stück kinetischer, audio-visueller Poesie, das die konkrete Poesie um die Faktoren Zeit und Sound erweitert.

Als persönliche Empfehlung will ich Sie auch auf Yatoo von den Zeitgenossen aufmerksam machen, ein Werk, dem ich den Einmarsch in die Vorauswahl gewünscht hätte und auf dessen besondere Qualitäten ich nun an dieser Stelle nur kurz verweisen kann.

***

Ich weiß nicht, ob die Veranstalter dieses Wettbewerbs den großen Wurf oder den Anschluss an das internationale Niveau erwartet hatten. Ich weiß, dass sie überrascht waren über das breite Spektrum an Ansätzen, dem digitalen Medium neue ästhetische Ausdrucksformen abzugewinnen. In dieser Hinsicht kann man in der Tat zufrieden sein, und so erstaunt es nicht, dass eine Wiederholung des Wettbewerbs geplant ist.

Dass neben einem Online-Provider auch ein traditionsreicher Buchverlag sich für die Vermittlung der neuen literarischen Formen stark macht, ist sehr begrüßenswert. Ein Wagnis ist es freilich auch. Nicht, weil man sich Konkurrenz zum eigenen Produkt schüfe, sondern weil man noch kaum auf Autoren zurückgreifen kann, die schon so intensiv durch beide Schulen gegangen sind – die der Technik und die des Schreibens –, dass man mit einem rundum runden Ergebnis rechnen könnte. Es ist schön, dass der DTV vor diesem Wagnis nicht zurückschreckt und sich auch publizistisch für das exotische und gewiss noch immer zukunftsträchtige Thema einsetzen will. Ich wünsche Ausdauer und Erfolg dabei und bleibe gespannt, was die Zukunft der digitalen Literatur bringen wird.

Dr. Roberto Simanowski
- Juryvorsitz -


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