Ohne
Frage: Es gibt Gründe genug, am Lektor und
überhaupt an allen Instanzen des traditionellen
literarischen Feldes vorbei seine Texte im Internet zu
publizieren. Aber dahinter stecken dann
literatursoziologische Erwägungen, nicht die Suche nach
neuen ästhetischen Ausdrucksformen. Ich betone dies
hier eigens, weil noch immer Literatur im Internet als
Internetliteratur bezeichnet wird, was etwa dem
gleichkäme, abgefilmte Lesungen wie die in Klagenfurt
TV-Literatur zu nennen. Das Vorlesen von Texten macht daraus
noch kein Hörspiel, so wie die Präsentation von
Geschichten und Gedichten in den digitalen Medien daraus
noch kein neues ästhetisches Genre macht. In solchen
Fällen spricht man wohl besser von
digitalisierter Literatur, die aus
Distributionsgründen ins Internet gebracht wird,
ansonsten sich aber auch sehr gut auf Papier
ausnimmt.
Echte digitale
Literatur hingegen bedarf des digitalen Mediums als
Produktions- und Rezeptionsgrundlage. Worum es bei
Wettbewerben wie diesem von DTV und T-Online geht, ist der
ästhetische Mehrwert, der aus der Spezifik des
digitalen Mediums resultiert. Und ich füge gleich
hinzu: Dieser Mehrwert ist noch nicht gegeben, wenn
Geschichten mit Bildern geschmückt werden, Gedichte
statt im Inhaltsverzeichnis aufgelistet zu sein, über
eine Linkleiste zugänglich sind, oder wenn im
Hintergrund Musik läuft. Einige Teilnehmer des
Wettbewerbs haben diesbezüglich den Standpunkt der
Veranstalter durchaus testen wollen.
Worin kann nun aber der
ästhetische Mehrwert liegen? Was ist die Spezifik des
digitalen Mediums?
Natürlich gibt es eine
Vielzahl mitunter programmspezifischer Merkmale, die
hier nicht alle aufgezählt werden können. Ich will
zumindest drei Faktoren nennen, die sich als Dachbegriffe
und Beschreibungsfaktoren bewährt haben:
Interaktivität, Intermedialität und
Inszenierung.
Mit
Interaktivität ist die Teilhabe des Rezipienten
an der Konstruktion des Werkes gemeint, was zum einen in
Reaktion auf Eigenschaften des Werkes, zum andern in
Reaktion auf Handlungen anderer Rezipienten erfolgen kann.
Im ersten Falle handelt es sich um programmierte
Interaktivität, die zwischen Mensch und Software
stattfindet; im zweiten handelt es sich um netzgebundene
Interaktivität, die zwischen Mensch und Mensch mittels
Software stattfindet. Zur ersten Gruppe gehören die
Hyperfiction oder andere kombinatorische Werke, bei denen
der Leser durch Linkentscheidungen die Gestalt des Werkes im
vorgegebenen Rahmen bestimmen kann. Zur zweiten Gruppe
gehören die Mitschreibprojekte.
Mit
Intermedialität ist die Verbindung von Text,
Bild und Ton gemeint. Diese ist freilich nur schwach
ausgereizt, wenn ein Text mit einer recht beliebigen
Musikschleife unterlegt oder durch ein illustrierendes Bild
begleitet wird. Hier erwartet man mehr; zum Beispiel dass
ein Bild sich selbst dekonstruiert oder dass der Sound einen
Gegentext zum Wort bildet.
Inszenierung steht
für die Programmierung einer werkimmanenten oder
rezeptionsabhängigen Performance. Dem digitalen Werk
können auf seinen unsichtbaren Textebenen (im
HTML-Quellcode oder in den Bild- und Tondatei) Aspekte der
Aufführung eingeschrieben werden, so dass die Worte und
Bilder gewissermaßen ihren 'Auftritt' haben. Das
Stichwort dazu kann vom Programm kommen oder vom Betrachter
durch bestimmte Inputs.
***
Meine Damen und Herren, nun
bin ich schon in die Details gegangen, habe bereits
Merkmalsbestimmungen vorgenommen, ohne über unseren
Wettbewerb und die Entscheidung der Jury gesprochen zu
haben. Der Umweg war nötig, um die Bedingungen und
Erwartungen deutlich zu machen, unter denen ein Wettbewerb
wie dieser stattfindet. Die Juroren waren sich im klaren
darüber, dass es hier nicht um Literatur im
herkömmlichen Sinne geht und dass es problematisch
wäre, mit einem literarischen Fokus an die Werke
heranzugehen. Textqualität ist ein wichtiger Aspekt,
gewiß, aber nicht der einzige, und in einer Phase des
Experimentierens mit den neuen Ausdrucksmitteln des
digitalen Mediums vielleicht nicht einmal der wichtigste.
Die Jury stellte dies in Rechnung, als sie 5 Kriterien
notierte, die sie der Bewertung
zugrundelegte:
1. Innovationskraft des
Werkes
2. Linksemantik, Benutzerfreundlichkeit,
Interaktivität
3. Bildschirmästhetik
4. Multimedialität
5.Textqualität
Diese 5 Kriterien wurden
angewandt auf die sieben Werke, die sich unter den je vier
Favoriten der Juroren mindestens zweimal befanden. Bis zu 5
Punkte konnte jeder je Kriterium und je Werk vergeben, wobei
bis zu 3 Zusatzpunkte möglich waren für den
ästhetischen Rest, der in diesem Bewertungsverfahren
nicht aufging. Die Zahlen ergaben drei Favoriten, die
nochmals kritisch beleuchtet wurden.
Die Urteilsfindung fiel
nicht leicht, was unschwer der Entscheidung für zwei
erste Sieger zu entnehmen ist. Die Parteien in der Jury
hatten durchaus Gründe vorzubringen, warum der
jeweilige Gegenkandidat nicht den Sieg davon tragen
könne. Der Kompromis ergab zwei erste
Plätze.
Quadrego von Stefan
Maskievicz bringt die Psyche einer Multiplen
Persönlichkeit auf die Bühne des Bildschirms. "Es
ist dunkel und der Morgen reift", so lesen wir, "noch unter
der schwarzen Schale. Die Sonne liegt noch unter dem
Horizont. Im Zimmer ein bläuliches Licht. Niemand nur
sie. Im Bett. Da sind Iris, No, Rolf und Tom. Sie ist
allein. Alle sind da. Streit liegt in der Luft. Es ist schon
fast ein Ritual. Alle sind eins und niemand ist sich einig.
Jeder will sein Recht. Keiner gibt nach."
Was folgt, sind Dialoge und
Monologe unter den vier Bewohnern dieses Ich. Die
Viererlogik wird aus der Inhalts- auf die Formebene
überführt, der Bildschirm zeigt die Portraits der
Beteiligten nebeneinander. Aber das ist es noch nicht das
besondere an Quadrego. Das besondere ist, dass man
die Gespräche nun selbst steuern kann. Dass man
entscheiden kann, wer wem antwortet. Maskievicz hat einen
komplizierten Mechanismus der Bezüge entwickelt, der
allein mit HTML und JavaScripts auskommt. Es ist ihm
gelungen, die Sache mit einer Unzahl an if- und for-Befehlen
so abzustimmen, dass jedes Image und jeder Text auf dem in
14 Frames aufgeteilten Bildschirm schließlich an der
richtigen Stelle, in der richtigen Größe und in
der richtigen Reihenfolge erscheint.
Die Freiheit der Kombination
vollzieht sich freilich innerhalb der Vorgaben des Autors.
Man kann immer nur aus den potentiellen
Gesprächspartnern auswählen, die der Autor
vorgesehen hat; und was sie dann sagen werden, ist exakt
das, was der Autor ihnen in den Mund gelegt hatte. Diese
Texte spiegeln die Befindlichkeit der Eingesperrten. Wer da
eher Aktion als Psychorhetorik erwartet, wird nicht auf
seine Kosten kommen. Die einzige Aktion ist die
Verschlimmerung der Multiple Personality Disorder, wenn
schließlich auch Georg bisher reales
Gegenüber der Vierer-Gruppe Teil des multiplen
Ich wird. Eine verfahrene Situation, die im Kreislauf der
Kombinatorik ihre beklemmende Wirkung entwickelt.
Mit leichteren Schritten
hingegen kommen Julius Raabes Knittelverse daher, die
ebenfalls eine bisher nicht erlebte Variante des
kombinatorischen Erzählens vorführen.
Zunächst scheint dieses Stück freilich alles
andere als zu erzählen, denn zunächst sieht man
sich nur dem Bild Brillantenschieber im Cafe
Kaiserhof von George Grosz gegenüber. Man mag an
Lessings Laokoon denken und daran, dass Bilder
eingefrorene Zeit sind und sich nicht narrativ entwickeln
können. Aber was Lessing über den Unterschied von
bildender Kunst und Sprachkunst sagte, gilt nicht mehr, wenn
hinter dem Bild verschiedene Ebenen an Text auf ihren
Einsatz lauern.
Eine Ebene ist der
Befehlstext, der zum Beispiel dafür sorgt, dass bei
Mausklick die Köpfe der Personen auf dem Bild sich
bewegen und gar ihre Zugehörigkeit ändern oder
eine Person eine Havanna raucht, wobei sich dann
tatsächlich auch Qualm über die Szenerie legt.
Zugleich erscheinen dies ist die andere Ebene
versteckten Textes rechts und links vom Bild
kreuzreimige Vierzeiler Raabes sogenannte
Knittelverse , die den vier dargestellten
Personen Klick für Klick eine Geschichte
anhängen.
Schon diese Idee hat es in
sich, macht sie doch deutlich, dass ein digitales Bild mehr
ist als die Digitalisierung eines Bildes. Im Reich des
Digitalen gibt es keine Linie mehr, nur eine entsprechende
Verdichtung von Pixeln; jedes dieser Pixel kann separat
angesprochen und zum Verlassen seines Platzes programmiert
werden. Das digitale Bild ist kein festgehaltener Moment
mehr, es hat selbst seine eingeschriebenen Momente. Der
Slogan lautet nicht mehr nur: Dies ist keine Zigarre,
sondern auch: Dies ist keine Abbildung einer Zigarre. Denn
was wir sehen ist immer bloß die temporäre
Visualisierung eines alphanumerischen Codes.
Aber Raabes Werk
buchstabiert nicht nur das Wesen eines Bildes um, es stellt
auch eine originelle Form des Hypertexts dar, denn je nach
Ordnung des Klickens erzählt dieses Bild verschiedene
Geschichten. Da stiehlt der hagere Mann in der Mitte einmal
dem Glatzköpfigen im Vordergrund das Geld, ein andermal
tritt er als Kommissar auf, dann als Hasardeur, dann wieder
nun als Anarchist zündet er eine Bombe,
die den Bildschirm schwarz werden lässt. Die Entdeckung
der ganz im Grosz-Stil nicht gerade feingeschnitzten, und
sicher auch nicht zu ernst gemeinten Texte führt zu
einem Klickspaß, der immer wieder neue Lesarten des
Bildes hervorbringt. Rund 1 800 Wörter bzw. 2,5
engbeschriebene Seiten Text verbergen sich unter der
Oberfläche dieser Flash-Komposition: Da kann es schon
vorkommen, dass manchen der Verse eine Hebung fehlt oder
eine zuviel auf den Weg gegeben wurde. Aber auch hier
ich wiederhole mich war es vor allem die dem Medium
abgerungene Erzählform, die die Jury überzeugte.
Und dieses Ungleichgewicht ist für einen Buch-Verlag
gewiß das günstigere. Denn welche Hilfe wäre
ein klassischer Lektor, der weiß, wie man Texte
repariert, schon in Fragen des technischen
Settings?!
Wenig Lektorenhilfe braucht
die Callas-Box von Andreas-Luis Seyerlein, ein
Text-Puzzle aus Nachrichten und persönlichen
Aufzeichnungen. Wir sind im Jahre 2028, das gesunkene
Laborschiff Seatown, auf dem die geklonten Callas-Schwestern
aufwuchsen, ist gefunden worden. Wie man bald erfährt,
wurde darauf an bakteriologischen Waffen experimentiert.
Auch die anderen Nachrichten des Tages malen ein
düstere Bild der Zukunft: in Lybien sind
ölfressende Bakterien in ein Ölfeld eingedrungen,
in Amerika werden Schauspieler entführt, um ihnen
Eizellen zu entnehmen, die dann auf dem Schwarzmarkt
für gewaltige Summen gehandelt werden.
Der Haupttext die
Aufzeichnungen des schiffbrüchigen Joe Ellis ist
von überzeugender poetischer Qualität, aber er ist
streng linear und könnte so die Einwände
innerhalb der Jury ebenso gut auf Papier existieren.
Das Werk setzte sich in der Abstimmung trotzdem durch: weil
die spezifische Erzählsituation nur im Internet
funktioniert. Die Geschichte ist eingebettet in eine
Website, die wie das Medienangebot einer Nachrichtenagentur
aussieht und sich auch so verhält. Da werden Bilder,
Graphiken, Karten präsentiert, die überhaupt
nichts erhellen, da gibt es Links zu vertiefenden
Informationen und Formulare für Rückmeldungen,
für die einem der Einwahlcode fehlt. In diesem Setting
liegt der medienkritische Akzent des Werkes. Nicht die
angebotenen Informationen allein malen ein düsteres
Zukunftsbild, auch die Umstände des Angebots
als, wenn man so will, Text zwischen den Zeilen. Insofern
wurden die spezifischen Eigenschaften des digitalen Mediums
hier durchaus in ästhetischer Hinsicht und
preiswürdiger Weise eingesetzt.
Meine Damen und Herren, die
Entscheidungen fielen knapp aus, und so ist es nur fair,
auch die anderen vier Beiträge zu nennen, die in die
nähere Auswahl der Jury gelangten:
Blackbox von Nicole
Nickel ist ein peppiges Berlin-Portrait in Flash-Manier, das
den Information-Overload unserer Zeit mediengerecht in Szene
setzt.
Apfel von Dorit
Linke, Heike Trobisch und Thomas Schröder ist eine
kafkaeske Geschichte mit gut gemachter
Flash-Illustration.
Die Galerie von Heiko
Paulheim holt als "begehbare Erzählung in zwölf
Räumen" die Hypertextstruktur an die Oberfläche,
indem sie den Lesern überläßt, welchen Raum
sie zuerst betreten und welches Bild sie zuerst lesen
wollen.
ER/SIE von
Ursula Menzer und Sabine Orth ist ein sehr gut designtes
Stück kinetischer, audio-visueller Poesie, das die
konkrete Poesie um die Faktoren Zeit und Sound
erweitert.
Als persönliche
Empfehlung will ich Sie auch auf Yatoo von den
Zeitgenossen aufmerksam machen, ein Werk, dem ich den
Einmarsch in die Vorauswahl gewünscht hätte und
auf dessen besondere Qualitäten ich nun an dieser
Stelle nur kurz verweisen kann.
***
Ich weiß nicht, ob die
Veranstalter dieses Wettbewerbs den großen Wurf oder
den Anschluss an das internationale Niveau erwartet hatten.
Ich weiß, dass sie überrascht waren über das
breite Spektrum an Ansätzen, dem digitalen Medium neue
ästhetische Ausdrucksformen abzugewinnen. In dieser
Hinsicht kann man in der Tat zufrieden sein, und so erstaunt
es nicht, dass eine Wiederholung des Wettbewerbs geplant
ist.
Dass neben einem
Online-Provider auch ein traditionsreicher Buchverlag sich
für die Vermittlung der neuen literarischen Formen
stark macht, ist sehr begrüßenswert. Ein Wagnis
ist es freilich auch. Nicht, weil man sich Konkurrenz zum
eigenen Produkt schüfe, sondern weil man noch kaum auf
Autoren zurückgreifen kann, die schon so intensiv durch
beide Schulen gegangen sind die der Technik
und die des Schreibens , dass man mit einem rundum
runden Ergebnis rechnen könnte. Es ist schön, dass
der DTV vor diesem Wagnis nicht zurückschreckt und sich
auch publizistisch für das exotische und gewiss noch
immer zukunftsträchtige Thema einsetzen will. Ich
wünsche Ausdauer und Erfolg dabei und bleibe gespannt,
was die Zukunft der digitalen Literatur bringen
wird.
Dr. Roberto Simanowski
- Juryvorsitz -
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