Lesarten

Temporäres Archiv | Gedicht des Tages | 30.01.2013

Autor: Marcus Roloff

Zirkus und Versklavung, Macht und Götzentum, goldenes Kalb und Sofakissen – auch die Tricks des Perspektivismus retten mich nicht vor den Metamorphosen.
 
 

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Gedicht: (*1961)

Autor: István Kemény

Der Fernseher

Ich teilte meine Jugend mit dem Fernseher.
Wir rauften, man fütterte uns gemeinsam,
mich mit Milch und Brot, ihn mit Strom
und Aufmerksamkeit. Ich wurde ein Erwachsener,
er ein Tier, ein wildes Tier. Er verlernte das Sprechen,
ich lernte es. Bei unserem Abschied
konnten wir uns nicht mehr verstehen. Ich dachte, er habe
auch mich vergessen. Vor einigen Jahren
sah ich ihn wieder, in Rumänien.
Da war er schon farbig, aber
man hatte ihm einen Ring durch die Nase gezogen
und ließ ihn tanzen, auf dem Platz.
Als er mich sah, riss er sich von der Kette.
Rannte zu mir hin, leckte mein Gesicht.
Alle dachten, er wolle mich fressen, dabei wollte er nur,
dass ich ihn nach Hause bringe.
Aber damals rannte ich zum Zug und überließ
den Fernseher den anderen.



(aus: nützliche ruinen, aus dem Ungarischen v. Orsolya Kalász, Gerhard Falkner u.a., Gutleut, Frankfurt/M. 2007)
Foto: István Kemény [ Hungary ] © Sanyi Szabó Quelle: Internationales Literaturfestival Berlin 2010