Lesarten
Temporäres Archiv | Gedicht des Tages | 28.02.2013
Autor: Christoph Wenzel + Adrian Kasnitz
Westfalen sei „nicht mehr als ein Verwaltungsbezirk“, hieß es 1956 im Zusammenhang des heftig geführten Schmallenberger Dichterstreits, in dem die ältere Generation westfälischer Heimatschriftsteller auf junge Autoren traf, die sich vielmehr der literarischen Moderne verbunden fühlten. Westfalen, sonst nichts? lautet der Titel der Anthologie, in der wir Gedichte von über 30 jungen Lyriker/innen versammelt haben, die wie wir Herausgeber einen (durchaus sehr unterschiedlichen, aber deutlichen) biographischen Bezug zu diesem Teil-Bundesland haben. Entstanden ist dabei ein Sammelband, dessen Titel bereits deutlich machen will, dass es hier keineswegs um die Behauptung einer geographisch gebundenen Poesie geht. Das landschaftlich so heterogene Westfalen war für uns vielmehr die Klammer, der Ausgangspunkt für eine Zusammenschau von Gedichten, die weit hinausreicht über die Grenzen dieser Region, und von Autor/innen, die längst die Regionalliga der Poesie verlassen haben und nun die aktuelle deutschsprachige Lyrik mitprägen.

Gedicht: (*1984)
die landschaft lügt
diesen himmel kann man auch über alles
stülpen und es sieht noch gut aus
den ranzigen pelz hier nennt man frühling
zwei hälften aussicht und eine schicht aufschnitt
obwohl die luft als dünner belag scheint
kein nessel durch. das sicherheitskonzept war klar von
vornherein: eine ständige verlagerung nach hinten
kaum vorstoß, viel tiefe, kaum flucht. alles entzäunte
gehört ihnen schon. und kiefern von diesem schlagring
können einem schon mal die vorderzähne
alles entzündete wirkt von weitem wie ein
großes blühen
(aus: Westfalen, sonst nichts? Eine Anthologie. Hrsg. von Adrian Kasnitz und Christoph Wenzel. parasitenpresse + [SIC] – Literaturverlag, 2013. Gefördert durch die Nyland-Stiftung und die GWK - Gesellschaft zur Förderung der westfälischen Kulturarbeit.)
Foto: Charlotte Warsen © Schall und Schnabel