Alles begann mit einer Schwärmerei für
einen jungen, mittellosen und musikbesessenen Mann namens Edwin. Die Mutter,
Tochter eines reichen Unternehmers, ist ihm hoffnungslos verfallen. Ein Leben
lang sucht sie seine Nähe, erst körperlich, später dann, als ihr Liebe
unerwidert blieb, auf geistiger Ebene.
Und Edwin läßt sich diese Schwärmerei gefallen, spielt mit der ihn
Anbetenden, ohne dass sie sich dessen anfangs gewahr wird. Im Gegenteil, sie
übernimmt die Rolle des "Mädchens für alles" im von Edwin neu
gegründeten Jungen Orchester, reist mit ihnen durch das Land, durchlebt die
Höhen und Tiefen des Ensembles, opfert sich auf, ohne Dank. Sie war ihrem Edwin
nah, nur dies zählte.
Noch ein Roman über eine unglückliche Liebe, könnte man meinen, doch
beschränkt sich Urs Widmer nicht auf die epische Ausbreitung dieses bekanntes
literarischen Motivs. Obgleich im lakonischen Stil geschrieben, dringt Widmer
tief in die Psyche seiner Figuren ein, macht sie für den Leser begreifbar.
Besonders auffällig wird in dies in der Figur der Mutter, die zwar immer
distanziert als "die Mutter" bezeichnet wird, doch schafft gerade
diese Distanziertheit, die mal ungläubiges Kopfschütteln, mal Verständnis und
Mitleid beim Leser erregt, die notwendige Nähe und Sympathie für die
Protagonistin.
Widmer gelingt es äußerst brillant, die Geschichte einer "sturen
Leidenschaft" zu erzählen und dringt somit zum Kern des Begriffes vor.
Leiden an der Liebe. Vielleicht ist wahre Liebe nur in der Distanz spürbar,
auch wenn der Gram die Seele zerfrisst?
Nachdem ihre Liebe unerwidert blieb, bemühte sich die Mutter diese gegenüber
zu verbergen, auch dann, wenn sie sich körperlich sehr Nahe waren. Fast scheint
es unglaublich, dass Edwin von dieser intensiven Zuneigung nichts gespürt haben
mag, doch in der Erinnerung des Sohnes, wird ihm die Rolle des Frauenhelden
zugeschrieben, den noch nicht einmal die bürgerliche Ehe von Seitensprüngen
mit anderen Frauen abhalten konnte.
Es liegt nahe, den Roman als biographische Prosa, vielleicht als den Versuch
einer Bewältigung zu lesen, doch vermischt Widmer die Ebenen der Realität und
Fiktion so gekonnt, dass die Illusion der Erfindung überwiegt.
Widmers "Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben" endet
dramatisch. Die Mutter stürzt sich, des Leidens überdrüssig, aus dem Fenster.
Zurück bleiben ihre letzten Worte, mit zittriger Hand als Abschiedsbrief
notiert: "Ich kann nicht mehr. Lebt weiter und lacht. Clara" und die
Erinnerung. ©Torsten Seewitz, 06.12.2000 |