Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
© by Herbert Debes & Kurt Otterbacher

 
 

Volk ohne Traum XXVIII

 


In memoriam 8.Mai 1945






Ein
Statement
von Uve Schmidt

Als den Deutschen im Laufe der ersten Nachkriegsjahre die Gewissheit dämmerte, daß das Großdeutsche Reich auf unbestimmte Zeit ein verstümmeltes, mehrfach geteiltes Besatzungsgebiet sein würde, dessen bewaffnete Administratoren jederzeit von bemühter Milde auf beliebige Machtexzesse umschalten konnten, bequemten sich die meisten zu der Einsicht, daß die Sieger nicht an allem schuld sein könnten, und nachdem die letzten prominenten Kriegsverbrecher am Galgen oder von eigener Hand den Tod gefunden hatten, einigten sich die einstigen Befehlsempfänger (d.h. die Bevölkerungsmehrheit) auf die ihnen passenden Personalien. Am passendsten  schien es, jegliche Verantwortung  aus der eigenen Umgebung möglichst weit hinauszuschieben: nach Südamerika, Südafrika, in eine vorgewärmte Unterwelt  am Südpol, wo sich abgetauchte NS-Funktionäre und höhere SS-Chargen mit der Weiterentwicklung von Wunderwaffen befassten. So gut wie unschuldig  war die eigene Familie, die  eigene Firma, Branche, Waffengattung, Konfession, der eigene Wahlsprengel und die Privatsphäre,  in der nur Juden vorkamen, mit denen man sich prima verstanden hatte, bis sie plötzlich verschwanden. Spurlos verschwunden war auch Reichsleiter Bormann, auf den sich die meisten Verwünschungen fokussierten, offenkundig, weil man über seine Amtsgeschäfte nur  wußte, daß er das Ohr des Führers gehabt habe, also der ideale Mephistopheles himself. Natürlich gab es Antifaschisten aller Couleur, die frei von Rachedurst und Sensationshunger nüchterne Analysen vorlegten und natürlich publizierten sie in der geschmähten „Lizenzpresse“ - wo sonst?  Die meisten neuen Hitlerhasser waren freilich Mitläufer, die ganz gern den WK II gewonnen hätten oder innerhalb der Reichsgrenzen von 1914 ein britisch gestütztes welfisches Königreich geworden wären, eine Weißbrot- und Rotweinrepublik á la France oder der erste amerikanische Bundesstaat Europas. Kein schlafraubendes Schuldgefühl, keine Furcht vor oder das Verlangen nach Vergeltung??

Am 8. Mai 1945 schwiegen in Deutschland zwar die schweren Waffen, doch das kriegsbedingte Sterben hörte nicht schlagartig auf, denn die meisten Toten waren keine Opfer militärischer Gewalt, sondern Säuglinge und Seuchenkranke, denen nicht geholfen werden konnte, jede Menge Selbstmörder und jene Deutschen, die in den ersten Wochen nach der Stunde X bei der Verteidigung ihrer Habe und Ehre umgebracht wurden, wobei sich selten zweifelsfrei feststellen ließ, ob die Täter kriminelle Landsleute waren oder Angehörige fremder Volksgruppen. Wie aber stand es um die Gefühle derjenigen Reichsdeutschen, denen das Hitlerregime unersetzliche menschliche Verluste zugefügt hatte, gleichsam auf der Haustürschwelle? Obwohl es überall im Kernland bei Annäherung feindlicher Truppen zu mörderischen Pressionen gegen die Zivilbevölkerung durch fanatische Nazis aus den eigenen Gemeinden  gekommen war, wurden nur wenige Fälle bekannt, wo die Hinterbliebenen sinnlos verheizter oder abschreckend exekutierter Greise und Kindersoldaten hernach den oder die Verantwortlichen eiskalt oder rasend gerichtet hätten. Und: Hunderttausende Deutsche „verdankten“ Folterverhöre , Invalidität, Kerkerstrafen und KZ sowie den Tod von Angehörigen und Freunden dem Denunziantentum von Mitbürgern, welche ungeschoren weiterlebten, weil (so gut wie) niemand die Vergeltung in die eigenen Hände nahm, und genau das ist unser Problem: Wir haben den falschen Charakter im fügsamen Körper. Wir sind nachtragend, aber keine Rächer, unsere Frauen sind rachsüchtig, aber keine Erinnyen, unsere Enkel fetzen sich in virtuellen  Welten, statt Nahkampfkurse zu absolvieren. Allerdings: Falls BILD ein neudeutsches „ Ca ira!“ auf die Titelseite setzte, sammelten sich garantiert nicht die bürgerlichen LeserInnen zum Sturm auf die Rathäuser und Rechenzentren, auf  die Bazare und Bankpaläste, sondern wie immer und überall nur der Mob, die Horden aus der Nacht am hellen Tage der  Umverteilung…

Niemand weiß genau, ob und wie lange die Besatzungsmächte deutsche Selbstjustiz zugelassen hätten, doch sicher ist, daß jeder deutsche Racheakt an Deutschen von Deutschen verpfiffen worden wäre. Und Fakt ist, daß der 17.Juni 1953 die einzige aufstandsähnliche Empörung war, welche nach der moderaten Revolution von 1918 in Deutschland stattgefunden hat; alle postrevolutionären Erhebungen von links  und rechts waren geplante, paramilitärisch vorgetragene Putschversuche, die an der Fehleinschätzung der jeweiligen  Verhältnisse und an der Verhaltenheit der Volksseele scheiterten. Der sogenannte  „Arbeiteraufstand in der Sowjetzone“ (recte DDR) war ein echtes, gänzlich unvorbereitetes Aufbegehren, in dessen Verlauf vier Volkspolizisten  getötet wurden, kein Sowjetsoldat starb (z.B. durch den Steinwurf eines Demonstranten), kein SED-Bonze fand den Tod, kein stalinistisches Denkmal wurde gestürzt. 1989 bestand abermals die historische Gelegenheit zu einer Nacht der langen Messer, doch die Plebejer beschränkten sich aufs Bonzenbespucken, die Dissidenten wälzten Stasiakten und die Schattenwirtschaftsgewinnler suchten die Zusammenarbeit mit jedermann, der einen lukrativen Deal versprach; daß dabei die meisten ihr Geld verloren, führte bislang zu keiner Mike-Kohlhaas-Bewegung. Allerdings schließe ich nicht aus, daß die braven Wetterhäuschenbetreiber des Propheten Kachelmann sich in Bälde zusammenrotten, um mit der Klimakatastrophe an die Börse zu gehen, während die künftigen Absolventen unserer neuen Eliteschulen sich über der Frage zergrübeln, ob die Dummheit der Anderen ihre Chance oder ihre Charybdis sein wird. Müssen wir erst unser letztes Pulver am Hindukusch verballert haben, bevor wir bürgerkriegsreif sind? Als heimliche Halbkolonie der USA ohne den Rückhalt von 1 ½ Milliarden Volksgenossen und ohne nuklearen Nibelungenschatz sollten wir endlich die Versäumnisse seit 1945 nachexerzieren: Einigkeit und Recht und Freiheit! Schon etwas Nachsinnen über unserer dritten Strophe erste Zeile dürfte offenbaren, daß wir als „des Glückes Unterpfand“ nicht eine gelebte Vaterlandsverfassung besingen, sondern ein tausendjähriges Manko beklagen. Welcher Ungeist reitet uns, in Gottes und der GTZ  Namen fremden Völkern zur Selbsthilfe verhelfen zu wollen, da wir uns selbst zwar die Schnürsenkel knüpfen können, doch nur, weil diese Haltung unsere natürliche Ausgangsposition geworden ist?  Mensch, ärgere Dich!
 


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