Es ist: 15-12-2020, 17:34
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Der Zug
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Der Zug
Der Zug

Ich bin Erzähler. Das heißt für Sie, ich bin die wichtigste Person hier im Zug. Aber wir beide wissen, dass ich Sie nicht interessiere. Das ist für mich in Ordnung, ich bin mir meiner Position bewusst. Ich benötige keine Bestätigung von Ihnen, ich weiß, dass ohne mich nichts geht. Dafür bringt mich mein Beruf an alle möglichen, interessanten Orte. So wie dieser Zug. Der Schaffner, ein Mann reiferen Jahrgangs mit schwarzer Uniform und goldenen Knöpfen sowie Mütze, Trillerpfeife und Monokel stanzt mir eine Widmung auf die Karte und ich darf den mir zugewiesenen Sitz einnehmen. Meine Fahrkarte teilt mir einen Platz in einem zentralen Waggon zu.

Bei diesem Zug handelt es sich um ein älteres, edles Modell und nicht um einen dieser herzlosen, patronenförmigen Torpedos, die man gefühlt ausschließlich an allen gängigen Bahnhöfen sieht. Nein, dieser Zug ist rostrot und quadratisch und kann mit dem Tempo moderner Intercitys nicht mithalten.  Seine Wägen sind im Inneren mit edlem, rotbraunem Holz ausgestattet und an den Seiten der Fenster hängen dicke, rote Vorhänge in Schlaufen. Es ist ein ehrlicher Zug, dessen breite, bequeme Sitze noch zum Verweilen einladen. Die Wände, die Sitzbänke, der rote Läufer am Boden, alles wird von den strategisch ideal positionierten Leuchtern im Stil antiker Öllampen sanft beschienen und eine verheißungsvolle Atmosphäre macht sich breit. 

Am Gleis stehen Menschen, einige Winken, andere schauen abgelenkt in die Ferne; ich hingegen nehme so viel wie möglich von meiner Umgebung wahr. Mein Waggon riecht interessant, nach dem Holz der Wände, dem schweren Duft des Parfums einer älteren Dame, dem Rauch einer Zigarre und das Aftershave eines Mannes. Jemand schaufelt Kohle, ein Pfeifen ertönt und die Räder werden auf den Schienen vorwärts gepumpt und machen dieses unverkennbare, zischende Geräusch, das so verheißungsvoll auf Neues zusteuert. Dann rollen wir los und der Zug verlässt den ekelig-überfüllten und furchtbar modernen Bahnhof.

Ich sehe mich im Abteil um. In diesem Waggon sind die meisten Sitzplätze in bequemen Vierernischen angeordnet. An freien Wänden sind Holzbänke angebracht. In meiner Nische sitze ich alleine. Das wundert mich nicht, ich sitze meist allein, das ist okay. Persönlich bin ich sogar der Meinung, ich arbeite am Besten, wenn ich alles diskret beobachten kann, dabei Platz und freie Sicht habe. Man sieht einfach auch mehr, wenn der Blick nicht beschränkt ist.
In der Nische zu meiner Linken sitzt ein Geschäftsmann, schätzungsweise Mitte dreißig, gepflegtes Äußeres, heute Morgen frisch rasiert, in einem marineblauen, auf den Millimeter maßgeschneiderten Anzug. Sein Blick, gefangen in einem Roman – auf dem Cover das Weiße Haus, Amtssitz des Präsidenten der Vereinigten Staaten – bemerkt er nicht, dass er beobachtet wird. Sehr indiskret setzen sich zwei große, breitschultrige Männer in schwarzen Anzügen mit ebenso schwarzen Sonnenbrillen zu ihm. Beide tragen einen Knopf ihm Ohr, was man an der gekringelten Kordel erkennt, die von Ohrmuschel bis hinein in das Sakko verläuft und von meinem Sitzplatz nur zu gut sichtbar ist. Sie halten sich aufrecht und blicken sich stetig in alle Richtungen um, ohne sich dabei tatsächlich je wirklich umzudrehen. Mich scheinen sie nicht wahrzunehmen, aber das bin ich gewohnt. Am Ende des Waggons, am Durchgang zum nächsten, ist noch einer dieser Anzugmänner. Hüftbreit, die Hände vor seinem Unterleib verschränkt, jeder Muskel angespannt, steht er an der Tür und beobachtet den lesenden Geschäftsmann und die anderen Passagiere ohne Unterlass. 

Meinen Blick abwendend schaue ich zu den übrigen Passagieren. Ein Junge sitzt mit seinem Vater auf einer Holzbank am Ende des Waggons hinter der letzten Vierernische. Beide sind wie in Sepia getaucht und der Zug strömt einen noch intensiveren Duft aus, als handele es sich bei der Vertäfelung um frisches, gerade erst angebrachtes und lackiertes Holz. Der Vater trägt einen breiten, fast schon quadratischen Anzug, dessen Farbton einer Mischung aus Weinrot und Braun gleicht und somit eigentlich nur von einem Frank Sinatra stilvoll getragen werden könnte. Ihm steht er gut. Leichte Bartstoppeln zeichnen sein hartes, markantes Gesicht unter dem eleganten Herrenhut ab, welches er hinter der aktuellen Tageszeitung verbirgt. Gelegentlich senkt er diese- meist um sein Zigarillo abzuaschen oder um, mit angefeuchteten Mittelfinger und Daumen der rechten Hand, die Seiten umzublättern. 

Sein Sohn ist ein schlankes Kerlchen, vermutlich keine zehn Jahre alt. Er trägt eine braune kurze Hose, die kaum bis zu seinen Oberschenkeln reicht, gepaart mit Kniestrümpfen und braune Schnürstoffschuhen. Sein weißes, weites Baumwollhemdchen hat er sorgsam in die Hose gestopft, die Hosenträger sitzen adrett auf den Schultern und seine blonden Haare sind artig auf der rechten Seite gescheitelt. In den Händen hält er ein dünnes Heftchen. Schnell fliegen die blauen Augen über die Zeilen. Mit geweiteten Pupillen verfolgt er die Buchstaben und blättert, so schnell er kann, weiter. Mit seinem Mund formt er unerkennbare Worte, gelegentlich leckt er sich über die Lippen.

Plötzlich löst sich ein tiefer Knall, gefolgt vom grellen Schrei eines Mannes. Meinen Blick aus dem Fenster auf die Prärie wendend, mache ich zwei Reiter aus, die sich im schnellen Tempo neben dem Zug entlang rasend, eine Verfolgungsjagd leisten. Einer, ein Cowboy mit sonnengegerbtem Hut auf einem roten Gaul, trägt eine braune Lederweste und ein rot-weißes Halstuch. In seiner Hand hält er einen schwarz glänzenden Colt, dessen Lauf er nach hinten auf den zweiten Mann richtet. Dort, auf einem Schimmel reitend, dem Cowboy folgend, galoppiert er, das Gesicht mit roten, schwarzen und weißen Linien überzogen, der Oberkörper frei, die langen, glatten, schwarzen Haare im Wind wehend, mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Seinen grellen Schrei ausstoßend verfolgt er den Cowboy, als hinter ihm, kreischend und johlend ein Meer von Rothäuten am Zenit erscheint und über einen Hügel rasend, sich der Verfolgungsjagd anschließt. Einer von ihnen hebt ein Tomahawk, holt Schwung und…. Ein lauter Pfiff kündigt unsere Ankunft an der ersten Haltestelle, eine Holz-Bretterbude voller Staub und Sand inmitten des Nichts an. Vater und Junge, sein Karl May Heftchen fest in den Händchen haltend, steigen aus. 

Ich blicke nochmals aus dem Fenster, wo unser Zug sich auf einen Tunnel zubewegt und kurze Zeit später von der Dunkelheit verschluckt wird. Im hinteren Teil des Waggons setzt sich ein junges Mädchen auf einen der Viererplätze mit Blick auf die rotbraune Wagenwand. Im mittlerweile gedämpften Licht des Abteils, ist die junge Frau beinahe unsichtbar, wäre da nicht die Lichtspiegelung im weiß ihrer weichen Augen und im hellen Lipgloss. Nachdem sich meine Augen an die unvermittelte Dunkelheit gewöhnt haben erkenne ich ein schlankes, kluges Gesicht und wilde Locken, die in einem legeren Dutt auf dem Kopf, mittels blauen Haarbandes, zusammengehalten werden. Sie hat sich in die Sitzecke nah an die Wand gekuschelt, in ihren Händen ein Buch mit brauner Bindung, auf der die Buchstaben V.D gefolgt von einem für mich unlesbaren Satz sichtbar sind. Ihr Blick ist auf die Seiten des Buches geheftet, sodass sie von der Frau, die sich nun zu ihr an den Gang setzt, nichts mitbekommt. Sie sieht auch nicht die weiße Leinwand, die langsam von der Decke über den gegenüberliegenden Sitzplätzen heruntergefahren wird. Das motorische Summen der Leinwand verstummt und ein heller Lichtstrahl, welcher aus einer kreisrunden Öffnung von der anderen Seite des Waggons zu stammen scheint, projiziert ein knackendes, rissiges Bild auf dem vergilbten Stoff. 

Die junge Frau, nun im indirekten Licht der Projektion sichtbar, ich schätze sie auf 28 Jahre, bemerkt von alledem nichts. Im Sitz neben ihr jedoch richtet sich die andere Dame auf. Sie kann nicht viel älter sein, vielleicht 30 oder 33 Jahre alt. Sie trägt eine leichte weiße Stoffbluse mit langen Ärmeln und einen braunen, über den Knie gehenden Rock. Ihre Frisur trägt sie zeitgemäß in einer leichten Stirntolle, der Haaransatz ist geglättet und sorgsam nach Innen geföhnt. Sie ist fein hergemacht, ordentlich manikürte Fingernägel, ein schlichter Herzanhänger liegt, an einer silbernen Kette baumelnd, auf ihrer Brust und die kleinen Perlenohrringe unterstreichen ihr bescheidenes und doch gepflegtes Äußeres. Ihre Haut schimmert ein wenig heller als die der anderen Frau und im Licht der Leinwand erkenne ich, wie sie ihre Augen zusammenkneift, als könne sie die Leinwand nicht richtig erkennen. Der verkniffene Blick passt nicht zum ansonsten so bedachten Auftreten der Dame. Mit ihrer rechten Hand kramt sie in ihrem Stofftäschchen nach etwas Unauffindbarem. Resignierend lässt sie ihre Hand ruhen und lehnt sich in ihrem Sitz zurück, die Augen nach wie vor leicht zusammengedrückt, um den grauen Globus und die darüber erscheinenden Worte Universal Pictures besser lesen zu können, bevor der Film Noir sich ganz seiner Handlung hingibt. 

Die Frau neben ihr blättert indes weiter in ihrem Buch während sie ihre Beine auf die Polsterung ihres Sitzes zieht und die Knie mit einem Arm umfasst, während die andere Hand das braune Buch vor die Augen hält. Sie hat ihre linke Wange auf die Knie gelegt und blickt nach rechts, wo sie mit den Augen die Zeilen des Buches verfolgt. Die Schultern hochgezogen, wirkt sie beinahe wie eine Kugel, die hinter den großen, gepolsterten Sitzen in der Dunkelheit zu verschwinden droht. Keine der beiden Frauen bemerken den jungen, uniformierten Mann mit der grellen, klobigen Taschenlampe, der sich nun schnellen Schrittes seinen Weg zwischen den Sitzplätzen bahnt, um neben der Dame am Gang zu halten.

„Du kannst hier nicht sitzen!“, der Mann leuchtet der Frau mit den Perlenohringen das Licht seiner Taschenlampe ins Gesicht sodass diese, geblendet, ihre Hand schützend nach oben hält. 

„Aber wieso denn nicht?“

„Deine Leute sitzen oben. Hast du überhaupt eine Eintrittskarte?“

„Oben? Aber…Hier, hier ist meine Karte!“, sie reicht ihm das Ticket hinauf. „Ich kann da oben nichts erkennen. Wissen Sie, ich habe meine Brille vergessen. Ich habe doch die Karte bezahlt, aber von da oben kann ich ohne Brille wirklich nichts sehen. Es sitzt doch sonst keiner hier. Ich nehme keinem den Platz weg. Können Sie da keine Ausnahme machen? Ich meine, das ist doch… ja, das ist doch lächerlich.“

„Lächerlich? Du gehörst nicht aufs Parkett, du gehörst nach da oben. Mit dem Finger deutet er nach oben, in eine entfernte Ecke des Zuges. 
Ich...“ das Wort betont er besonders, wobei er sich die Hand vor die Brust hält, „ich will das ja gar nicht. Wenn es nach mir ginge, mir wäre das sowas von egal. Aber, so sind die Regeln! Guck!…“ mit dem rechten Zeigefinger, die Taschenlampe noch in der Hand haltend, deutet er auf einen Schriftzug auf der Karte, „für Schwarze. Du hast einen ermäßigten Preis gezahlt, zwanzig Cent weniger als die anderen, also kannst du hier nicht sitzen. Die Parkettplätze sind für Weiße und Schluss.“

„Ich wollte ja das Ticket für 40 Cents bezahlen, aber man bestand darauf mir nur das für 20 Cents zu verkaufen. Von der Empore aus ist die Leinwand nicht zu erkennen. Ich bin eine respektable Geschäftsfrau. Ich habe einen Salon. Ich bin auf der Durchreise. Das ist doch alles lächerlich.“

„Los jetzt! Entweder du gehst freiwillig, oder ich rufe die Polizei.“

„Aber, sie können doch nicht nicht…“

„Ich diskutiere das nicht aus. Verschwinde jetzt! Hau ab!“ und er greift ihren Arm und zerrt sie vom Sitz, sodass ihre Tasche zu Boden fällt und sich auf dem Boden entleert. Noch hält sie sich an den Lehnen fest, doch lange wird sie sich nicht festkrallen können. 

Auf der Leinwand im Hintergrund zündet Thomas Mitchell die Zigarette der eleganten Olivia de Havilland während die Frau sich festkrallt und ruft: „Ich gehe nicht.“ 

Die Schiebetür zum Waggon öffnet sich und drei uniformierte Männer treten ein. Sie greifen ihre Arme und zerren an den verkrampften Fingern, um sie von der Lehne zu lösen. „Jetzt reicht's!“ Einer der Wachtmeister verliert die Geduld. Gewaltsam reißt er die Frau aus ihrem Sitz und schleift sie über den Boden hinaus.

„Meine Hüfte!“, jault sie und krümmt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Seite, während Tränen ihre Wange hinabfließen. Die Männer zerren die am Boden liegende Frau durch die Hintertür des Waggons. Was sie sagen, kann ich nicht hören. Ich weiß auch nicht, ob Sie wirklich wissen wollen, was die Männer zu der jungen Frau sagen. Was ich aber weiß ist, dass das junge Mädchen das Buch zugeklappt hat und sich zusammengerollt an die tröstende Holzvertäfelung gelehnt hat. Die Leinwand fährt noch hoch als wir endlich den dunklen und muffigen Tunnel verlassen und auf die Haltestelle zusteuern. Das Mädchen zieht sich ihren Roots Pullover über und wischt eine Träne von der Wange. Kurz bevor sich die Abteiltüren öffnen verstaut sie das braune Buch im Rucksack und verlässt den Zug. Am Gleis kann ich erkennen, wie ein junger, blonder Mann, vielleicht sogar ihr Freund, sie in den Arm nimmt, mit seiner Hand ihre feuchte Wange streichelt und ihr etwas tröstendes sagt. Einen Augenblick später pfeift der Schaffner und wir fahren weiter.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag meine Lebensaufgabe wirklich gerne. Aber manchmal gehört es zu meinen Pflichten Ihnen von Dingen zu erzählen, die nicht schön sind. Das ist Teil des Jobs.

Während der Zug losrollt stelle ich fest, dass ich alleine im Waggon sitze. Die Leuchter an der Holzvertäfelung erhellen mein Abteil wieder mit dem selben, intensiven, weichen Licht, mit dem unsere Reise begann. Plötzlich höre ich lautes Stöhnen von den Sitzen vor mir. Ich nähere mich vorsichtig der angrenzenden Sitznische und beuge mich über die hohen, gepolsterten Lehnen um zu sehen was, und vor allem wer, das war. Ich weiß, Sie dachten ich wüsste genau was überall passiert. Glauben Sie mir, ich weiß es nicht. Mitunter muss selbst ich schmunzeln über das, was ich in meinem Job beobachte. Wie ich mich über die Lehne beuge erhasche ich einen Blick auf ein umschlungenes Paar. Er, muskulös mit weit geöffnetem Leinenhemd und langem, kastanienbraunem Haar was im Wind zu wehen scheint – nur dass es im Zug windstill ist – sitzt auf der Bank und lehnt sich wie entspannt an der Rückenlehne an, ganz so als würde er nicht zeitgleich eine junge Frau mit rotblonder Mähne, die sich aus einer nun locker sitzenden Haarnadel gelöst hat und wie wild um ihr zorngerötetes Gesicht fällt, mit festem Griff auf seinem Schoß festnageln.

„Niemals. Einem dreckigen McGregor werde ich nie zum Mann nehmen. Eher stürze ich mich von den Klippen Dovers.“ Sie speit ihm die Worte förmlich ins Gesicht, doch er verzieht seinen Mund zu einem frechen Lächeln.

„Aber Lady Elizabeth, Sie wollen Ihren Gatten doch nicht jetzt schon verärgern. Wo wir doch unser ganzes Leben dazu Zeit haben. Außerdem wissen Sie doch, wir McGregors sind für unsere…“ er hob eine Hand an ihr Gesicht während er mit der anderen ihre Arme hinter ihrem Rücken im Zaum hielt, „…rauen Hände bekannt“. Dann schnellt die Hand, die vorhin noch beinahe liebevoll ihr Kinn berührte herab und auf den Hintern der Lady zu, was diese nur noch mehr zum Schnauben bringt.
„Dreckiger…“, die Lady überhäuft den Mann mit Beschimpfungen und versucht die Fäuste in der Luft zu ballen, doch er lacht nur über ihre Beleidigungen und die lächerlichen Versuche sich aus seinem Griff zu befreien.

„Mylady mir scheint, es wird Zeit Ihren süßen Mund mit … anderen Dingen zu beschäftigen.“ Mit diesen rauchigen Worten steht er, ihren Körper nach wie vor festhaltend auf, dreht sich flink um die eigene Achse und klemmt die Lady sanft zwischen sich und der weichen Sitzbank ein. Sein Mund presst sich an ihren und ihre Proteste verstummen. Lady Elizabeth, hatte sie sich doch anfänglich noch beinahe überzeugend zur Wehr gesetzt scheint von dieser plötzlichen Veränderung so überrumpelt, dass sie sich nur noch in seine starken Arme schmiegen kann. Sie presst ihren Körper an seinen und stöhnt ihm halbherzige Beleidigungen entgegen, die ihm nur ein freches Lächeln entlocken. Seine Hand gleitet unter ihr Kleid, ihren Oberschenkel entlang. Ihr Atem geht schneller, stoßweise. Ihr Kleid rutscht höher und höher, seine Finger nähern sich…

„Gottverdammt!“ Erschrocken drehe ich mich um und sehe einen kleinen, rundlichen, beinahe kahlköpfigen Mann um die sechzig von seinem Sitz aufspringen. Wegen seiner kleinen Statur ist er hinter den Rückenlehnen der Sitze gut versteckt gewesen. In Windeseile klemmt er sich sein Buch unter den Arm und greift den braunen Lederkoffer von der Ablage. Noch während er aus dem Zug springt befestigt er seinen Kollar und seine Soutane entkommt nur knapp der sich schließenden Tür. Er steht noch mit hochrotem Kopf am Gleis des marmornen Bahnhofs und fächert sich mit seinem Saturn die kühle Luft ins Gesicht als der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzt. Ich hingegen, knie nach wie vor auf der Sitzbank und als ich meinen Blick nach unten wende, wo vor einigen Sekunden Schottland erfolgreich England eroberte, sehe ich nichts weiter als den roten Samt der Sitze. Schade. 

Unsere Bahn fährt weiter und kommt an einem Bahnsteig zum halten in dessen Nähe weit und breit nichts als Wald zu sehen ist. Die Bäume hier sind groß gewachsen, der Wald wirkt friedlich, aber irgendwie lebendig. Egal wie sehr ich mich verbiege, ich kann niemanden am Bahnsteig stehen sehen, aber da öffnen sich auch schon die Türen ein paar Reihen vor mir und ich höre schwere Schritte die Stufen des Wagens heraufsteigen. Hinter der Sitzreihe, kann ich einen Büschel brünetter Locken ausfindig machen, die zu einem Wesen gehören, nicht größer als ein Kind. Hinter ihm folgt ein blonder, dicklicher, kleiner Mann. Beide tragen braune Stoffhosen, die ihnen bis zur Wadenmitte gehen und die großen, haarigen, unbeschuhten Füße betonen. Über ihren weißen Pluderhemden aus dünnem Leinen tragen sie waldgrüne Umhänge, die mit einer Blattförmigen Brosche aus Gold und Edelsteinen am Brustbein zusammengehalten werden. Hinter ihnen folgt, mit leichten, eleganten, fast lautlosen Schritten ein lang gewachsener junger Mann mit strahlend weißem, glatten Haar in den Waggon. Über seiner eng anliegenden Hose, deren Beine in braunen Lederstiefeln münden, trägt er ein blass-grünes Gewand und auf dem Rücken ein Käscher mit Pfeilen. Seine Augen durchsuchen das Abteil und mit einem geräuschlosen Sprung setzt er sich an den Fensterplatz der Sitzecke zu meiner linken. Die kleinen Männer gesellen sich zu ihm, ihre Füße baumeln über den Boden, während sie versuchen aus dem, für sie viel zu hohen Fenster zu spähen. Durch die weiterhin geöffnete Tür trampelt ein dicklicher Mann mittlerer Größe in den Waggon. Er flucht, als sich sein langer, rot schimmernder Bart zwischen zwei Sitzen verkeilt. Die Augen verdrehend greift er mit der fleischigen Hand danach, zieht mit einem kräftigen Ruck am Bart und mit dem ratschenden Geräusch ausgerissener Haare gesellt er sich zu der Gruppe, klemmt die Axt in den Gürtel und lässt sich gegenüber des grauhaarigen Mannes in einen der gepolsterten Sitze fallen. 
Hinter ihnen folgt ein älterer Herr. Er trägt einen grauen, maßgeschneiderten Anzug, elegante schwarze Schuhe und einen getrimmten grauen Bart, dessen Haare silbrig zu glänzen scheinen. Das silbrige Kopfhaar trägt er ordentlich gescheitelt und kurz, was ihm das Aussehen eines Models für maßgeschneiderte  Herrenoberbekleidung, sehr teure Sportwagen oder uralten Whiskey verleiht. In seiner linken Hand, den Finger unmerklich zwischen den Seiten, hält er einen Roman, während er mit nur einem Schritt die drei Stufen zum Waggon überwindet und sich mit der rechten Hand in einer eleganten, beinahe schwungvollen Drehung um einen Griff auf einen der leeren Einzelplatz am Fenster befördert. Der Zug ist kaum losgerollt, da hält der Mann das Buch bereits geöffnet in seinen gepflegten Händen, den Blick nach unten gesenkt ohne dabei auch nur einen Funken seiner Würde durch den Ansatz einer gebeugten Körperhaltung zu verlieren. 

Plötzlich verschwindet die Sonne und der Himmel wird in eine Pechschwarze Nacht getaucht. Die Bäume des Waldes scheinen sich zum Zug gedreht zu haben und uns zu beobachten, wie wir in die Dunkelheit der Nacht eintauchen. Es kehrt eine widerwärtige Stille ein, die dem grauhaarigen Elben zuerst aufzufallen scheint. Seine Augen sind weit geöffnet und schauen beobachtend aus dem Fenster zu seiner und anschließend zu meiner rechten. 

„Da Draußen ist etwas.“ Er sagt es ruhig, kaum merklich, gefasst und doch wachsam. „Sie kommen näher.“ Sein Ton ist unverändert doch er schwingt sich in eine gehockte Haltung auf seinen Sitz und hangelt sich entlang der Ablagen zu einer geschlossenen Luke an der Decke des Waggons. Mit einer kleinen Drehung des Griffs ist diese geöffnet und die frostige Nachtluft strömt herein und hinterlässt einen kalten Nebelfilm auf dem Boden unseres Abteils. 

„Das könnte dir so passen!“, der rotbärtige Zwerg ist von seinem Sitz aufgesprungen und eilt zu den in der Wand eingelassenen Leitersprossen, die zur Deckenluke führen. „Du denkst wohl, du könntest den ganzen Spaß für dich haben? Von wegen!“ und er beginnt, die kräftigen Beine auf die Sprosse zu stellen, während seine Ausrüstung klappert und ihm seine Axt, die ihm zwischen den Beinen baumelt, den Aufstieg unmöglich macht. „Wenn ich's mir recht überlege, bleibe ich lieber hier und nehm' sie mir einzeln vor.“ Die Axt fest in der rechten Hand stellt er sich zwischen die Türen und duckt sich grade rechtzeitig um einem Speer auszuweichen, der durch das Fenster in den Waggon kracht, sich in die Holzvertäfelung der gegenüberliegenden Wand bohrt und dort zitternd stecken bleibt. 
Seine furchteinflößende Spitze ist schwarz und ungleichmäßig mit mehreren unterschiedlich langen Zacken versehen, ganz so als sie dafür gedacht, ihre Opfer qualvoll ausbluten zu lassen. Sie sieht eher aus wie Obsidian als Metall, glänzend und tödlich, dunkel wie der Tod selbst. Der Griff ist an vielen Stellen mit einer schwarzen, pechartigen Masse überzogen, die dickflüssig zu Boden klatscht.
Ein Horn durchzieht die Nacht und Pfeile und Speere prallen auf den Zug ein und brechen durch die Scheiben oder verbohren sich in der Außenwand des Waggons. 

Hässliche Reiter erscheinen aus der Nacht auf wolfartigen Wesen. Sie sind blass wie der Mond, aber ihre Haut ist übersät mit unnatürlichen Geschwüren und ihre Augen! Die Iris schwarz oder rot. Sie schreien, kreischen, brüllen und zeigen ihre rasiermesserscharfen, langen Zähne, die denen eines Raubtiers gleichen. Sie tragen Rüstungen aus dicken, ledrigen Stoffen, auf die man Knochen und spitze Steine aufgenäht hat. Alles an Ihnen wirkt widerwärtig, abstoßend, unrein, falsch und bösartig. Sie nähern sich dem Waggon unaufhaltsam. Auf ihrer Stirn prangt ein weißer Handabdruck.
Einer dieser Reiter nähert sich uns unaufhaltsam, er schließt auf, reitet auf seinem Ungeheuer direkt neben dem Zug. Mit beiden Füßen auf dem Rücken seines Wolfes balancierend springt er zu der Stelle, an der der Speer das Fensterglas zerstört hatte und schwingt sich durch die Wunde in der Haut des Zuges in das Abteil. 

„Komm doch her, du widerliches Monster! Mach schon!“, der Zwerg hält seine Axt bereit und wartet, bis der Orc vollständig im Abteil steht. Alles an ihm wirkt triefend und die Oberfläche seines Körpers ist vernarbt und von Geschwüren zerfressen. Er hebt seinen Arm, in der Hand eine Holzkeule mit gemeinen Eisennieten daran. Statt zu sprechen grunzt er nur und beide Kämpfer gehen auf einander los. Aus dem Fenster kann ich erkennen, wie ein Reiter nach dem anderen von Pfeilen getroffen zu Boden fällt.

„Ich bin bei fünfundzwanzig,“ schreit es vom Dach des Waggons. „Und du?“ 

„Fünfundzwanzig?“, stöhnt der Zwerg, mehr zu sich selbst während er mit der Axt ausholt, den Arm des Gegners, der die Keule hält, mit einem gezielten Hieb seiner Axt abhackt und den Orc mit einem Tritt aus dem Waggonfenster befördert. „Auf Distanz ist das leicht,“ brüllt er zur Dachluke. „Ich mach mir hier meine Hände richtig schmutzig!“ 

„Sind die Zwerge doch kein stolzes Kriegervolk mehr?“

„Von wegen! Spitzohriger… Dir werd ich´s zeigen!“ Der Zwerg springt auf eine der senkrechten Metallstreben zu, an der Öffnung des Waggons, früher mal ein Teil der Außenwand und nun lediglich ein großes, klaffendes Loch. Mit seinen Beinen umschließt er das Stück Metall und mit dem Oberkörper schwingt er aus der Öffnung heraus. Sausend schlägt er den Reitern die dem Waggon zu nahe kommen die Köpfe ein.
„Zwei!“, ruft er laut in den Himmel. „Und drei!“, stöhnt er, während seine Axt Orc-Kopf von Körper trennt. „Vier! Na, da staunst du? Jetzt geht´s schneller.“ 
Doch da springt der Elbe vom Waggon in die Nacht auf einen der Reiter und balanciert auf dessen Schultern noch während er ihm das Genick umdreht.
„Alter Angeber“, flüstert der Zwerg, bevor auch er aus der Öffnung springt.

Und da, plötzlich, ein Kreischen in der Nacht. Ein feuriger Strahl, rot wie Blut zerreißt die Wolkendecke und gibt den Blick frei auf ein schauriges von Flammen umhülltes Auge. Suchend blickt es umher, der Lichtstrahl ihm folgend. Wieder dieses Brüllen, Kreischen, eigentlich ein Laut, so unnatürlich, so böse, dass man ihn mit Worten kaum zu beschreiben vermag. Das Geräusch füllt den Waggon aus wie Rauch und der kleine, braunhaarige Hobbit kauert sich zusammen, wimmernd, zittern und presst die Hände auf die Ohren, die Augen angefüllt mit Tränen in einem schmerzverzerrten Gesicht. Offenbar leidet er Qualen. 
Sein Freund kauert zu seiner Seite. „Mein Herr Frodo. Was ist los?“, doch seine Worte dringen nicht zu ihm durch.
 
„Der Ring,“ stöhnt Frodo. „Er will… zu … seinem Meister. Er ruft ihn.“ Jedes Wort ist kaum mehr als ein Stöhnen. „Ich... muss…“
Krampfhaft hebt Frodo die Hand zu dem goldenen Ring, der an einer Kette an seinem Hals baumelt.

„Mein Herr, nicht!“ schreit Sam, doch es ist zu spät und Frodo lässt einen Finger durch den Ring gleiten und verschwindet. Der Speer aus suchendem rotem Licht bleibt abrupt stehen. Das große, flammende Auge zuckt auf, leuchtet im Waggon nun genau dorthin, wo Sam noch immer kauert. Die Luft scheint still zu stehen und die Kampfgeräusche von Draußen dringen, wie durch eine dünne Nebelwand zu mir. 

Leise schiebt sich eine Tür auf und ein kleines graues Wesen mit nicht mehr als drei Haaren und einem schrecklich unförmigen Körper kommt, kaum merklich über den Boden kratzend, ins Abteil. Es klettert auf die Sitze, legt sich flach auf die Ablage. Seine großen blauen Augen folgen dem Lichtstrahl. Seine Lippen bewegen sich leicht und stoßen kaum merklich Laute aus. Ich schließe die Augen um mich ganz auf die leisen Worte konzentrieren zu können. Er sagt etwas. Er sagt: „Mein… Schatz!“

„Die Zugfahrt endet hier. Ausstieg in Fahrtrichtung links.“ Ich öffne meine Augen wieder und die Wände, die Fenster, alles ist im perfekten Zustand, als sei nichts passiert. Der elegante graue Mann steigt aus der linken Tür aus und ich bleibe, wieder, allein im Waggon zurück.

„Hey du!“ die Zugführerin, eine kleine, pummelige Frau mit braunen Haaren in schwarzen Hose und einem weißen Hemd – eine unschmeichelhafte Einheitsuniform – kommt auf mich zu. „Du auch. Letzte Station, raus hier!“

Sie geht weiter und ich stehe auf. Ich sehe mich ein letztes Mal im Waggon um. Es ist ein schöner Zug. Leider weiß ich nicht, wohin ich als nächstes muss. Ich denke, dass werde ich am Bahnsteig dann erfahren. Für mich ist jede Fahrt einzigartig.


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RE: Der Zug
Wo fährt der Zug? Ich hätte gerne ein Ticket


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