Alexej saß auf der untersten Stufe der Veranda und kratzte unsinnige Formen in den staubigen Boden, während der Hund beharrlich versuchte, sich den Stock zu schnappen.
„Ist sie tot?“, fragte er scheinbar gleichgültig und ohne aufzublicken.
„Sie hat sich leichten Herzens auf die Reise gemacht“, antwortete Luna. Sekunden des Schweigens, das lauter schien als jedes Brüllen. „Alexej, sie war bereit.“ Es klang wie eine Entschuldigung.
Er überließ den Stock seinem überglücklichen Hund und stand auf. Zwei Stufen Abstand zu der Frau, die er liebte.
„Du bist also wirklich der Tod“, stellte er fest. Seine kalte Sachlichkeit jagte Luna Schauer über den Rücken. Sie wunderte sich, dass er ihr so plötzlich Glauben schenkte. „Ja“, antwortete sie schlicht.
„Und wer ist der Nächste?“ Sie spürte den Schmerz hinter seinem Zorn. Luna biss sich auf die Lippen. „Wen von den Menschen, die ich liebe, willst du mir als Nächstes wegnehmen? Meine Mutter. Meinen Vater oder vielleicht meine Schwester. Mit sechzehn ist sie ja schon alt genug.“
„Alexej, bitte. Verstehe doch. Ich hatte keine andere Wahl“, flehte Luna. Ihr Bitten schien von ihm abzuprallen wie bei einer Mauer.
„Dann sag mir, wer als Nächstes auf deiner Liste steht“, forderte er. „Verdammt noch mal.“
„Du.“ Zwei Buchstaben, die sie ihm anbot. Er. Er selbst sollte der Nächste sein.
„Ich?“, fragte er noch einmal nach, wie um sich zu vergewissern. Luna nickte stumm.
Ich. Drei Buchstaben. Alexej schluckte. „Wann?“
„Schon vor Monaten. Als ich vor deiner Tür stand.“
Das Missverständnis verschwieg sie ihm. Das alles zu erklären, war jetzt zu kompliziert und Luna fühlte sich erschöpft.
„In Ordnung“, gab er nach. Kann ich mich noch von meiner Familie verabschieden oder müssen wir … gleich los?“
„Du kommst überhaupt nicht mit“, antwortete Luna heftig. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück. „Du bist gerade einmal 22 Jahre.“
„Nächste Woche erst. Mach mich nicht älter als ich bin“, lächelte Alexej. Es war ein trauriges Lächeln.
Luna machte eine abwehrende Handbewegung. „Nein!“, widersprach sie heftig und ihre Augen blitzten. „Ich werde mich weigern.“
„Ich dachte, du hast keine Wahl.“ Alexej runzelte die Stirn.
Luna reckte entschlossen das Kinn vor. „Diese Freiheit nehme ich mir.“
„Luna“, Alexej nahm eine Stufe. Er musste nur den Arm ausstrecken, um sie zu berühren.
„In den letzten Tagen seit deinem Verschwinden habe ich viel nachgedacht. Auch über den Tod, weil ich dachte du bist tot..“ Mit der rechten Hand umklammerte er den Pfosten der Veranda. Die Knöchel traten weiß hervor und seine Fingerspitzen waren von denen Lunas nur einen Zentimeter entfernt.
„Ich werde von hier verschwinden“, sagte Luna und starrte auf einen Punkt über seiner Schulter. Sie konnte ihm einfach nicht in die Augen schauen.
„Dann nimm mich mit“, er. Luna schüttelte nur heftig den Kopf. Sie umklammerte die Pfosten so heftig, dass ihre Knöchel beinahe durch die Haut brechen wollten. Jeder Fluchtweg war ihr versperrt. Hinter ihr war das Wohnhaus. Die offene Tür wirkte wie ein gähnender Schlund, in dem sich die trauernde Familie um das Totenbett der Großmutter versammelt hatte. Vor ihr stand Alexej im Weg.
Schon vor Wochen hätte sie ihn mitnehmen müssen, hatte es aber immer wieder hinausgezögert. Die Liebe konnte selbst den Tod verändern.
„Lass mich gehen“, forderte sie.
„Nur, wenn du mich mi tnimmst“, beharrte er weiter.
Luna umklammerte die Pfosten der Veranda so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dieser Sturkopf hatte keine Ahnung, von was er da sprach. Verliebtheit und jugendlicher Leichtsinn verwirrten seinen Verstand. Der Tod war endgültig. Es gab kein Zurück mehr. Außerdem war er einfach noch nicht an der Reihe.
„Warum kann ich nicht einfach mit dir mitgehen?“ Luna verdrehte die Augen. Er diskutierte wie ein trotziges Kind.
„Weil ich der Tod bin, verdammt noch mal. Du musst sterben, um mit mir gehen zu können. Außerdem ist es nicht einmal sicher, dass wir dann auch zusammen sein können.“
„Was soll das denn wieder bedeuten?“ Zwischen seinen Brauen bildete sich eine steile Falte.
„Ich bin nur der Bote. Ein Begleiter auf einer Reise mit unbekannten Ziel“, erklärte sie leise.
„Das Risiko würde ich eingehen“, widersprach er. Seine Finger drehten in der Hosentasche ein kleines Kästchen. Auf dunkelblauem Samt lag ein filigran gearbeiteter Ring. Er hatte um Lunas Hand anhalten wollen. Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft.
„Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Denk auch einmal an deine Familie. Sie müssen schon den Verlust von Babuschka verkraften.“ Sie benutzte schon Floskeln wie ein Mensch, dabei war sie Teil des Lebens.
Er zuckte die Achseln. „Sie würden mit der Zeit darüber hinwegkommen. Ohne dich wäre es ein sehr einsames Leben“, fügte er leise hinzu, sah ihr dabei aber fest in die Augen.
Luna gab immer noch nicht auf. Sie war nicht bereit, ihn jetzt schon mitzunehmen. In sechzig Jahren vielleicht, aber jetzt noch nicht. Für sie waren ein paar Jahrzehnte mehr kaum von Bedeutung.
„Du wirst wieder jemanden kennenlernen und auch lieben“, wandte Luna ein. Sie musste alle Kraft der Selbstbeherrschung aufwenden, überzeugend zu klingen. Allein die Vorstellung, dass Alexej eine andere Frau lieben könnte, verursachte ihr beinahe körperlichen Schmerz. Ein kleines verräterisches Stechen fuhr durch ihre Brust. Aber sie musste stark bleiben, aus Liebe zu ihm.
Er schüttelte nur den Kopf. „Ich werde an gebrochenem Herzen sterben.“
„Sei nicht so pathetisch“, schimpfte Luna. „Deine Familie braucht dich“, wechselte sie das Thema und wies auf die offene Haustür. „Geh zu ihnen.“
Der Mischlingshund schaute den beiden aus fragenden Knopfaugen zu. Luna wich instinktiv zur Seite, als Alexej die beiden Stufen nahm.
„Kommst du nicht mit?“ Sein Hals war auf einmal staubtrocken. Er ahnte, dies wären die letzten Sekunden mit Luna. Ihm fiel einfach nichts ein, was er sagen sollte, sein Kopf war wie leer gefegt.
Sie schüttelte nur den Kopf. „Ich gehöre ja nicht zur Familie.
Beinahe hättest du es, dachte Alexej. Sprach es aber nicht aus. Der Ring wog bleischwer in seiner Hosentasche.
„Na, dann auf Wiedersehen“, sagte er kühl, vermied aber, Luna dabei anzuschauen.
„Eines Tages“, antwortete sie und sah Alexej nach, bis er im Haus verschwunden war.
Möwen segelten am blauen Himmel. Eine Krabbe flitzte über ihren Fuß und versteckte sich schnell in einer der von tosenden Wellen im Laufe der Jahre geschaffenen Spalten in den Felsblöcken. Einige Angler leisteten Luna Gesellschaft, ohne sie wirklich zu beachten. Sie wirkte an diesem schönen Tag wohl zu deplatziert. Ganz in schwarz gekleidet. Die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, den Kopf in der Höhlung vergraben. Eine Körperhaltung, die nicht gerade dazu einlud, Kontakt zu knüpfen.
Ihr neuester Auftrag. Ein Jahr war vergangen. Sie hatte gehofft, es würde länger dauern, bis sie sich wiedersahen. Viel länger. Dieses Jahr war selbst für ihr Gefühl zu schnell vergangen. Wie ein einziger Tag. Eine Stunde. Ein Wimpernschlag.
Luna musste ihren schwersten Auftrag bewältigen. Am liebsten hätte sie sich geweigert. Doch dieses Recht stand dem Tod nicht zu. Sie löste sich aus ihrer eigenen Umklammerung und streckte die steifen Glieder. Es half nichts, sie musste zu ihm gehen. Allein Alexej würde sich freuen, sie wieder zu sehen. Oder auch nicht. Bei Menschen konnte in einem Jahr viel geschehen.
Alexej deckte gerade den Tisch auf der halbschattigen Veranda. Fleisch brutzelte auf einem Gasgrill. Alina stand in der Küche und schnippelte Gemüse. Seit fast einem Jahr waren sie jetzt ein Paar.
„Hallo Alexej“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Fremd und gleichzeitig seltsam vertraut. Rauchig, als wäre ihre Besitzerin schon sehr alt, aber zugleich auch jung. Er musste sich nicht umdrehen. Seit über einem Jahr hatte er diese Stimme nicht mehr gehört. Alexej kam es vor wie ein Menschenleben, doch der Schmerz war immer noch frisch. Eine Wunde, die einfach nicht heilen wollte.
„Hallo Luna“, kam es zögernd. Es gab nur einen Grund, dass sie hier auftauchte. „So schnell sieht man sich wieder.“ Sein Zynismus zerbrach in tausend Scherben.
„Bedauerst du unser Wiedersehen?“, fragte sie leise.
Er musste sich seine Antwort genau überlegen. Vor einem Jahr hätte er sie freudig umarmt. Doch jetzt lagen die Dinge anders. Sicherlich trauerte er seiner ersten Liebe hinterher, doch er hatte gelernt, mit diesem Schmerz zu leben. Sein Studium verlief höchst erfolgreich. Er hatte gute Aussichten, Jahrgangsbester zu werden und damit konnte er das Stipendium verlängern. In Alina hatte er eine neue Liebe gefunden. Den Ring gab es auch und somit triftige Gründe, jetzt noch nicht abzutreten.
Allerdings war da so eine Leere, tief im Inneren. Wie bei einem Puzzleteil, das sich nicht nahtlos einfügt. Dieses Teil war Luna. Nur mit ihr fühlte er sich vollkommen. Er war nicht traurig darüber, sie wiederzusehen.
„Was willst du hier?“, fragte er scharf, obwohl er die Antwort schon wusste.
Sie drehte eine kleine Sanduhr, die auf dem Tisch stand und von der eigentlichen Eigentümerin als Eieruhr genutzt wurde.
Der feine Sand begann zu rieseln. Erst sehr langsam, dann immer schneller.
„Deine Zeit ist vorbei. Ich werde dich jetzt mitnehmen.“
Plötzlich überkam ihn kalte Wut. Noch vor einem Jahr hatte er sie angefleht, ihn mitzunehmen. Er hatte unbedingt bei ihr bleiben wollen und hätte mit Freuden alles für sie aufgegeben. Doch sie hatte ihn nur kalt abgewiesen. „Du bist zu jung.“
Voller Hochmut hatte sie ihm die Worte an den Kopf geworfen. Jetzt ein Jahr später sollte er alt genug sein zum Sterben. Was machte der Unterschied, ob er 22 oder 23 Jahre alt war? Diese 365 Tage machten den Hahn auch nicht fett. Jetzt fragte er sich, mit welchem Recht sie einfach so ihre Meinung änderte und alles zerstörte, was er sich aufgebaut hatte. Auch wenn es nicht perfekt war, so gab es keinen Grund, ihm dies alles wegzunehmen.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sie aus harten, blauen Augen an. „Und wenn ich mich weigere?“, fragte er provozierend.
„Du weißt, dass wir keine Wahl haben“, antwortete sie ruhig.
„Als ich dich darum bat, hast du dich geweigert“, unterbrach er sie voller Bitterkeit. „Und jetzt, wo du deine Meinung geändert hast, soll ich einfach so alles hinwerfen und mitkommen.“
„Alexej“, beinahe flehte sie. „Versteh doch, dass ich keinen Einfluss darauf habe. Dein Todestag ist dir bestimmt. Ich kann dir einen gewissen Aufschub gewähren.“
Sein Namensvetter kam ihr in den Sinn. Nachdem er seine Enkelkinder kennenlernen durfte, war er ihr bereitwillig gefolgt. Somit war ihm auch ein langer Leidensweg aufgrund von Spätfolgen wegen des Alkoholmissbrauchs erspart geblieben. Er war nicht allein gestorben. Vorher hatte er sich noch mit seiner Familie ausgesöhnt.
„Dann gib mir noch etwas Zeit. So etwa siebzig Jahre.“ Alexej schien sie zu verspotten.
Luna schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Mehr als ein paar Tage sind nicht drin.“
Er ließ die Arme sinken und schien regelrecht in sich zusammen zu sacken. Vor Luna stand ein verletzter Junge.
„Ich habe dich vermisst“, murmelte er.
„Ich dich auch“, antwortete Luna leise. Die Tränen, die so tapfer zurück gehalten hatte, brachen sich Bahn. „Du hast mir so schrecklich gefehlt“, schluchzte sie. Er zog sie in seine Arme und küsste ihre tränennassen Wangen. Küsste die Tränen aus ihren Augen.
„Alles wird gut, mein Liebling“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Alexej, wo bleibst du denn?“ Eine junge dunkelhaarige Frau betrat die Terrasse.
Als sie das engumschlungene Paar sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. „Wer ist die Schlampe?“, zischte sie.
Alexej löste sich aus Lunas Umarmung. Nicht ohne noch einmal ihre Schläfen mit den Lippen zu berühren. Abwehrend hob er die Arme.
„Ich kann dir alles erklären, Alina.“ In der Hand hielt sie noch das Messer, mit dem sie Tomaten geschnippelt hatte.
Ihre Finger umklammerten den Griff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Alexej bemerkte nicht, wie sich langsam ihr Arm hob. „Alina, wir müssen reden.“
„Du betrügst mich“, fauchte sie schweratmend. Ihr Gesicht war kalkweiß und die Augen blitzten im Wahnsinn. „Mit dieser Fotze, die fast doppelt so alt ist wie du.“
Alexej warf einen Blick hinter sich. Er sah in Luna nur eine junge Frau seines Alters.
Alina fing an zu schluchzen. „Du bist auch nicht besser als die anderen. Wenn ihr mit mir fertig seid, werft ihr mich einfach weg. Wie einen Gegenstand, den man nicht mehr braucht.“ Ihr bitteres Auflachen jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Aber ich habe sie bestraft.“ Sie sprach mehr zu sich selbst. „Ich habe sie alle bestraft.“ Ihr Lachen war das einer Wahnsinnigen. „Dafür wirst du sterben.“ Ihre Stimme war zu einem kalten Flüstern verklungen, das mehr Angst einflößte, als jedes Schreien. Ihr Arm hob sich hoch über den Kopf. Die Augen schienen ihn schon nicht mehr wahrzunehmen.
Die Schneide sauste herab.
Ein scharfer Schmerz vereinte Alexej und Luna für immer.
„Ist sie tot?“, fragte er scheinbar gleichgültig und ohne aufzublicken.
„Sie hat sich leichten Herzens auf die Reise gemacht“, antwortete Luna. Sekunden des Schweigens, das lauter schien als jedes Brüllen. „Alexej, sie war bereit.“ Es klang wie eine Entschuldigung.
Er überließ den Stock seinem überglücklichen Hund und stand auf. Zwei Stufen Abstand zu der Frau, die er liebte.
„Du bist also wirklich der Tod“, stellte er fest. Seine kalte Sachlichkeit jagte Luna Schauer über den Rücken. Sie wunderte sich, dass er ihr so plötzlich Glauben schenkte. „Ja“, antwortete sie schlicht.
„Und wer ist der Nächste?“ Sie spürte den Schmerz hinter seinem Zorn. Luna biss sich auf die Lippen. „Wen von den Menschen, die ich liebe, willst du mir als Nächstes wegnehmen? Meine Mutter. Meinen Vater oder vielleicht meine Schwester. Mit sechzehn ist sie ja schon alt genug.“
„Alexej, bitte. Verstehe doch. Ich hatte keine andere Wahl“, flehte Luna. Ihr Bitten schien von ihm abzuprallen wie bei einer Mauer.
„Dann sag mir, wer als Nächstes auf deiner Liste steht“, forderte er. „Verdammt noch mal.“
„Du.“ Zwei Buchstaben, die sie ihm anbot. Er. Er selbst sollte der Nächste sein.
„Ich?“, fragte er noch einmal nach, wie um sich zu vergewissern. Luna nickte stumm.
Ich. Drei Buchstaben. Alexej schluckte. „Wann?“
„Schon vor Monaten. Als ich vor deiner Tür stand.“
Das Missverständnis verschwieg sie ihm. Das alles zu erklären, war jetzt zu kompliziert und Luna fühlte sich erschöpft.
„In Ordnung“, gab er nach. Kann ich mich noch von meiner Familie verabschieden oder müssen wir … gleich los?“
„Du kommst überhaupt nicht mit“, antwortete Luna heftig. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück. „Du bist gerade einmal 22 Jahre.“
„Nächste Woche erst. Mach mich nicht älter als ich bin“, lächelte Alexej. Es war ein trauriges Lächeln.
Luna machte eine abwehrende Handbewegung. „Nein!“, widersprach sie heftig und ihre Augen blitzten. „Ich werde mich weigern.“
„Ich dachte, du hast keine Wahl.“ Alexej runzelte die Stirn.
Luna reckte entschlossen das Kinn vor. „Diese Freiheit nehme ich mir.“
„Luna“, Alexej nahm eine Stufe. Er musste nur den Arm ausstrecken, um sie zu berühren.
„In den letzten Tagen seit deinem Verschwinden habe ich viel nachgedacht. Auch über den Tod, weil ich dachte du bist tot..“ Mit der rechten Hand umklammerte er den Pfosten der Veranda. Die Knöchel traten weiß hervor und seine Fingerspitzen waren von denen Lunas nur einen Zentimeter entfernt.
„Ich werde von hier verschwinden“, sagte Luna und starrte auf einen Punkt über seiner Schulter. Sie konnte ihm einfach nicht in die Augen schauen.
„Dann nimm mich mit“, er. Luna schüttelte nur heftig den Kopf. Sie umklammerte die Pfosten so heftig, dass ihre Knöchel beinahe durch die Haut brechen wollten. Jeder Fluchtweg war ihr versperrt. Hinter ihr war das Wohnhaus. Die offene Tür wirkte wie ein gähnender Schlund, in dem sich die trauernde Familie um das Totenbett der Großmutter versammelt hatte. Vor ihr stand Alexej im Weg.
Schon vor Wochen hätte sie ihn mitnehmen müssen, hatte es aber immer wieder hinausgezögert. Die Liebe konnte selbst den Tod verändern.
„Lass mich gehen“, forderte sie.
„Nur, wenn du mich mi tnimmst“, beharrte er weiter.
Luna umklammerte die Pfosten der Veranda so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dieser Sturkopf hatte keine Ahnung, von was er da sprach. Verliebtheit und jugendlicher Leichtsinn verwirrten seinen Verstand. Der Tod war endgültig. Es gab kein Zurück mehr. Außerdem war er einfach noch nicht an der Reihe.
„Warum kann ich nicht einfach mit dir mitgehen?“ Luna verdrehte die Augen. Er diskutierte wie ein trotziges Kind.
„Weil ich der Tod bin, verdammt noch mal. Du musst sterben, um mit mir gehen zu können. Außerdem ist es nicht einmal sicher, dass wir dann auch zusammen sein können.“
„Was soll das denn wieder bedeuten?“ Zwischen seinen Brauen bildete sich eine steile Falte.
„Ich bin nur der Bote. Ein Begleiter auf einer Reise mit unbekannten Ziel“, erklärte sie leise.
„Das Risiko würde ich eingehen“, widersprach er. Seine Finger drehten in der Hosentasche ein kleines Kästchen. Auf dunkelblauem Samt lag ein filigran gearbeiteter Ring. Er hatte um Lunas Hand anhalten wollen. Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft.
„Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Denk auch einmal an deine Familie. Sie müssen schon den Verlust von Babuschka verkraften.“ Sie benutzte schon Floskeln wie ein Mensch, dabei war sie Teil des Lebens.
Er zuckte die Achseln. „Sie würden mit der Zeit darüber hinwegkommen. Ohne dich wäre es ein sehr einsames Leben“, fügte er leise hinzu, sah ihr dabei aber fest in die Augen.
Luna gab immer noch nicht auf. Sie war nicht bereit, ihn jetzt schon mitzunehmen. In sechzig Jahren vielleicht, aber jetzt noch nicht. Für sie waren ein paar Jahrzehnte mehr kaum von Bedeutung.
„Du wirst wieder jemanden kennenlernen und auch lieben“, wandte Luna ein. Sie musste alle Kraft der Selbstbeherrschung aufwenden, überzeugend zu klingen. Allein die Vorstellung, dass Alexej eine andere Frau lieben könnte, verursachte ihr beinahe körperlichen Schmerz. Ein kleines verräterisches Stechen fuhr durch ihre Brust. Aber sie musste stark bleiben, aus Liebe zu ihm.
Er schüttelte nur den Kopf. „Ich werde an gebrochenem Herzen sterben.“
„Sei nicht so pathetisch“, schimpfte Luna. „Deine Familie braucht dich“, wechselte sie das Thema und wies auf die offene Haustür. „Geh zu ihnen.“
Der Mischlingshund schaute den beiden aus fragenden Knopfaugen zu. Luna wich instinktiv zur Seite, als Alexej die beiden Stufen nahm.
„Kommst du nicht mit?“ Sein Hals war auf einmal staubtrocken. Er ahnte, dies wären die letzten Sekunden mit Luna. Ihm fiel einfach nichts ein, was er sagen sollte, sein Kopf war wie leer gefegt.
Sie schüttelte nur den Kopf. „Ich gehöre ja nicht zur Familie.
Beinahe hättest du es, dachte Alexej. Sprach es aber nicht aus. Der Ring wog bleischwer in seiner Hosentasche.
„Na, dann auf Wiedersehen“, sagte er kühl, vermied aber, Luna dabei anzuschauen.
„Eines Tages“, antwortete sie und sah Alexej nach, bis er im Haus verschwunden war.
Möwen segelten am blauen Himmel. Eine Krabbe flitzte über ihren Fuß und versteckte sich schnell in einer der von tosenden Wellen im Laufe der Jahre geschaffenen Spalten in den Felsblöcken. Einige Angler leisteten Luna Gesellschaft, ohne sie wirklich zu beachten. Sie wirkte an diesem schönen Tag wohl zu deplatziert. Ganz in schwarz gekleidet. Die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, den Kopf in der Höhlung vergraben. Eine Körperhaltung, die nicht gerade dazu einlud, Kontakt zu knüpfen.
Ihr neuester Auftrag. Ein Jahr war vergangen. Sie hatte gehofft, es würde länger dauern, bis sie sich wiedersahen. Viel länger. Dieses Jahr war selbst für ihr Gefühl zu schnell vergangen. Wie ein einziger Tag. Eine Stunde. Ein Wimpernschlag.
Luna musste ihren schwersten Auftrag bewältigen. Am liebsten hätte sie sich geweigert. Doch dieses Recht stand dem Tod nicht zu. Sie löste sich aus ihrer eigenen Umklammerung und streckte die steifen Glieder. Es half nichts, sie musste zu ihm gehen. Allein Alexej würde sich freuen, sie wieder zu sehen. Oder auch nicht. Bei Menschen konnte in einem Jahr viel geschehen.
Alexej deckte gerade den Tisch auf der halbschattigen Veranda. Fleisch brutzelte auf einem Gasgrill. Alina stand in der Küche und schnippelte Gemüse. Seit fast einem Jahr waren sie jetzt ein Paar.
„Hallo Alexej“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Fremd und gleichzeitig seltsam vertraut. Rauchig, als wäre ihre Besitzerin schon sehr alt, aber zugleich auch jung. Er musste sich nicht umdrehen. Seit über einem Jahr hatte er diese Stimme nicht mehr gehört. Alexej kam es vor wie ein Menschenleben, doch der Schmerz war immer noch frisch. Eine Wunde, die einfach nicht heilen wollte.
„Hallo Luna“, kam es zögernd. Es gab nur einen Grund, dass sie hier auftauchte. „So schnell sieht man sich wieder.“ Sein Zynismus zerbrach in tausend Scherben.
„Bedauerst du unser Wiedersehen?“, fragte sie leise.
Er musste sich seine Antwort genau überlegen. Vor einem Jahr hätte er sie freudig umarmt. Doch jetzt lagen die Dinge anders. Sicherlich trauerte er seiner ersten Liebe hinterher, doch er hatte gelernt, mit diesem Schmerz zu leben. Sein Studium verlief höchst erfolgreich. Er hatte gute Aussichten, Jahrgangsbester zu werden und damit konnte er das Stipendium verlängern. In Alina hatte er eine neue Liebe gefunden. Den Ring gab es auch und somit triftige Gründe, jetzt noch nicht abzutreten.
Allerdings war da so eine Leere, tief im Inneren. Wie bei einem Puzzleteil, das sich nicht nahtlos einfügt. Dieses Teil war Luna. Nur mit ihr fühlte er sich vollkommen. Er war nicht traurig darüber, sie wiederzusehen.
„Was willst du hier?“, fragte er scharf, obwohl er die Antwort schon wusste.
Sie drehte eine kleine Sanduhr, die auf dem Tisch stand und von der eigentlichen Eigentümerin als Eieruhr genutzt wurde.
Der feine Sand begann zu rieseln. Erst sehr langsam, dann immer schneller.
„Deine Zeit ist vorbei. Ich werde dich jetzt mitnehmen.“
Plötzlich überkam ihn kalte Wut. Noch vor einem Jahr hatte er sie angefleht, ihn mitzunehmen. Er hatte unbedingt bei ihr bleiben wollen und hätte mit Freuden alles für sie aufgegeben. Doch sie hatte ihn nur kalt abgewiesen. „Du bist zu jung.“
Voller Hochmut hatte sie ihm die Worte an den Kopf geworfen. Jetzt ein Jahr später sollte er alt genug sein zum Sterben. Was machte der Unterschied, ob er 22 oder 23 Jahre alt war? Diese 365 Tage machten den Hahn auch nicht fett. Jetzt fragte er sich, mit welchem Recht sie einfach so ihre Meinung änderte und alles zerstörte, was er sich aufgebaut hatte. Auch wenn es nicht perfekt war, so gab es keinen Grund, ihm dies alles wegzunehmen.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sie aus harten, blauen Augen an. „Und wenn ich mich weigere?“, fragte er provozierend.
„Du weißt, dass wir keine Wahl haben“, antwortete sie ruhig.
„Als ich dich darum bat, hast du dich geweigert“, unterbrach er sie voller Bitterkeit. „Und jetzt, wo du deine Meinung geändert hast, soll ich einfach so alles hinwerfen und mitkommen.“
„Alexej“, beinahe flehte sie. „Versteh doch, dass ich keinen Einfluss darauf habe. Dein Todestag ist dir bestimmt. Ich kann dir einen gewissen Aufschub gewähren.“
Sein Namensvetter kam ihr in den Sinn. Nachdem er seine Enkelkinder kennenlernen durfte, war er ihr bereitwillig gefolgt. Somit war ihm auch ein langer Leidensweg aufgrund von Spätfolgen wegen des Alkoholmissbrauchs erspart geblieben. Er war nicht allein gestorben. Vorher hatte er sich noch mit seiner Familie ausgesöhnt.
„Dann gib mir noch etwas Zeit. So etwa siebzig Jahre.“ Alexej schien sie zu verspotten.
Luna schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Mehr als ein paar Tage sind nicht drin.“
Er ließ die Arme sinken und schien regelrecht in sich zusammen zu sacken. Vor Luna stand ein verletzter Junge.
„Ich habe dich vermisst“, murmelte er.
„Ich dich auch“, antwortete Luna leise. Die Tränen, die so tapfer zurück gehalten hatte, brachen sich Bahn. „Du hast mir so schrecklich gefehlt“, schluchzte sie. Er zog sie in seine Arme und küsste ihre tränennassen Wangen. Küsste die Tränen aus ihren Augen.
„Alles wird gut, mein Liebling“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Alexej, wo bleibst du denn?“ Eine junge dunkelhaarige Frau betrat die Terrasse.
Als sie das engumschlungene Paar sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. „Wer ist die Schlampe?“, zischte sie.
Alexej löste sich aus Lunas Umarmung. Nicht ohne noch einmal ihre Schläfen mit den Lippen zu berühren. Abwehrend hob er die Arme.
„Ich kann dir alles erklären, Alina.“ In der Hand hielt sie noch das Messer, mit dem sie Tomaten geschnippelt hatte.
Ihre Finger umklammerten den Griff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Alexej bemerkte nicht, wie sich langsam ihr Arm hob. „Alina, wir müssen reden.“
„Du betrügst mich“, fauchte sie schweratmend. Ihr Gesicht war kalkweiß und die Augen blitzten im Wahnsinn. „Mit dieser Fotze, die fast doppelt so alt ist wie du.“
Alexej warf einen Blick hinter sich. Er sah in Luna nur eine junge Frau seines Alters.
Alina fing an zu schluchzen. „Du bist auch nicht besser als die anderen. Wenn ihr mit mir fertig seid, werft ihr mich einfach weg. Wie einen Gegenstand, den man nicht mehr braucht.“ Ihr bitteres Auflachen jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Aber ich habe sie bestraft.“ Sie sprach mehr zu sich selbst. „Ich habe sie alle bestraft.“ Ihr Lachen war das einer Wahnsinnigen. „Dafür wirst du sterben.“ Ihre Stimme war zu einem kalten Flüstern verklungen, das mehr Angst einflößte, als jedes Schreien. Ihr Arm hob sich hoch über den Kopf. Die Augen schienen ihn schon nicht mehr wahrzunehmen.
Die Schneide sauste herab.
Ein scharfer Schmerz vereinte Alexej und Luna für immer.