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RE: Zwischen Wänden
Hi Dreadnoughts,
von ganzem Herzen Danke für diesen Kommentar, der sicher nicht so leicht zu schreiben war. Ich werde den sicherlich noch ein paar Mal lesen und mich an Deinen Gedanken freuen.
Was meinst Du mit „’wirklich’ deine Geschichte mit ein paar Zufälligkeiten“?
Deine Fluchtreaktion hat mich beeindruckt. Es haben schon einige gesagt, dass die Geschichte nicht angenehm zu lesen ist. Aber ich finde auch, wenn die Dinge greifbar im Raum stehen, verlieren sie ihre Unsagbarkeit und ihren Schrecken... sie gerinnen zu etwas manifestem - ein Text zum Beispiel, man kann ihn nehmen, drehen und wenden, kommentieren, nachfragen, man kann ihn verbrennen, küssen, kann das Versmaß untersuchen, man ist wieder Subjekt und irgendetwas liegt in deiner Hand. In Deinem Kommentar ist auch etwas geronnen.
Für mich ist es die Sprachlosigkeit der beiden Protagonisten, die sie so hilflos macht, es gibt zwar dieses Band, das sie verbindet, aber es liegt nicht in ihrer Hand sondern bleibt irgendwo im wortlosen Dunkel. Dagegen steht Dein schöner Hinweis, dass gerade auch die kleinen wortlosen Dinge - der Kaffee, die Berührungen - sehr wichtig sein können und das Alleinsein durchbrechen. Diese Perspektive ist mir gänzlich entgangen, aber es ist nie zu spät, sich auf die Suche zu machen.
Und ja - PoLet geht nicht mehr so schnell, wenn er erst mal im Kopf ist :D
Wünsche Dir was weiches, reinigendes & ein bisschen Glanz für die Augen. Liebe Grüße,
Ichigo
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RE: Zwischen Wänden
Hey Ichigo!
Dann will ich mich mal an die "Siegergeschichte" machen. Eins vorweg: für mich war es auch die beste Geschichte des Wettbewerbs ---> "sehr gut"
Zitat:Zwischen Wänden
(Warum will ich da immer ein "den" in die Mitte setzen?) Ein schöner Titel, verrät nichts und macht doch Neugierig und passt letztendlich auch zum Text.
Zitat:Gestern zurückgekehrt, braun gebrannt, die Eindrücke frisch und gegenwärtig wie Muskelkater.
Toller Vergleich - und vermittelt sofort die Stimmung: irgendetwas ist faul, warum sollte die Erzählerin hier an Muskelkater denken?
Zitat:Ich höre ihm zu und betrachte ihn.
Du verwendest den "Ich-Erzähler", ich werde meist nur schwer mit ihm warm. Ich habe oft das Gefühl, dass er gewählt wird, weil man den Leser nicht auf andere Weise ins Boot holen kann - ich verlange daher immer ein "Mehr" von dieser Erzählform. Vor allem gegen Ende lieferst du mir das allerdings auch.
Zitat:Zufall auch, dass ich seine Handynummer hatte, denn er war immer nur einer von zehn Mitbewohnern gewesen, jeder für sich hinter seinen eigenen Wänden.
10 Mitbewohner klingt mehr nach Studentenwohnheim, als nach WG. Hier schön den Titel aufgegriffen - es wird klar, worum es gehen wird: Menschen, die für sich alleine (zwischen ihren Wänden) Schicksale tragen.
Zitat:Lächeln, ja, aber halbherzig wie der Schatten eines Flügelschlages. Er spricht mit meinem Freund, ja, aber hinter verschlossener Tür. Worte unter Vorbehalt. Lachen unter sanfter Spannung. Und diese verwunderte Bedachtsamkeit, mit der er den Tee umrührt. Nur nicht zu weit hinaus wagen. Unter jedem Schritt kann dir etwas oder jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Nein, nichts ist mehr sicher.
Schon hier eine ganz starke Stelle.
(An dieser Stelle habe ich mich noch gefragt, ob er vielleicht unglücklich in sie verliebt ist.)
Zitat:Vielleicht habe ich es ja doch gesehen. Ich erinnere mich, wie er oft mit zerzausten Haaren in der Küche stand und seinen Kaffee umrührte, mit genau dieser Bedachtsamkeit.
Es ist meckern auf hohem Niveau, aber er rührt oben schon seinen Tee um. Es ist nicht wirklich schlimm, aber wenn du hier ein Synonym wählen würdest, wäre es noch besser. 
(z. B. "drehte den Löffel im Kaffee")
Zitat:So ist das mit der Normalität, immer ist sie hilflos, zieht krampfhaft ihre stickige kratzige Decke über die Abgründe, aber die Decke bleibt zu kurz, Kälte nistet sich in meine Zehen, während ich lache ...
Tolle Metapher!
Hier deutest du auch schon an, dass die Erzählerin auch etwas vebrirgt, hinter Normalität.
Zitat:Wir seufzten leise, kaum hörbar, nicht deutlich genug, dass es durch die dicken Wände der Normalität dringen und der Nachbar etwas bemerken könnte.
Find ich toll, diese Stelle.
Zitat:Ich sage es in mich hinein, sage es schweigend, hoffe, dass er es durch die Wand hört.
Genauso wie dieser Gegensatz. Man sagt etwas in sich hinein und hofft doch, dass der andere es hört ... es drückt Hilflosigkeit aus, Verstehen, aber Hilflosigkeit. Mit den eigenen kalten Füßen beschäftigt sein und deshalb die des anderen zu verstehen ... aber man weiß nicht, was man tun soll.
Zitat: Der in mich hinein fällt und sinkt, sinkt, schwer wie Blei verbrennt er mich, nein: erinnert mich.
Hinter das zweite "sinkt" würde ich eine Semikolon setzen, da der folgende Teilsatz ein eigener Hauptsatz ist, man in ihn aber einsteigt, wie in einen Nebensatz (versteht man, was ich meine?).
Und hier dann taucht die Erinnerung auf - die Erinnerung an die eigenen kalten Füße. Sehr schön. Da ist etwas passiert, das dem so ähnlich ist, dass dem "Du" passiert ist.
Zitat:Niemand darf mit zweiundzwanzig so schrecklich alleine sein, unter keinen Umständen. Es könnte mich erinnern.
Da ist es schon wieder. Sehr geschickt verrätst du uns, was mit "ihr" los ist, ohne es wirklich in Worte zu fassen, denn sie will sich ja nicht erinnern.
Zitat:Und ich umarme dich zum Abschied, nicht länger oder kürzer als sonst - alles wie immer - nur fester.
Auch sehr schön.
Zitat:Warum hast du mich nie umarmt? Warum durfte ich nicht weinen? Immer musste ich deinetwegen lächelnde Fratzen schneiden.
Wow.
Zitat:Die Stärke, so fragend, zerbrechlich. Die eiserne Fröhlichkeit. Das tiefe dunkle Schimmern in den Augen, die einmal hell waren. Etwas oder jemand hat ein Loch hineingerissen, eine Lücke, die alle Worte verschluckt. Ich hatte es übersehen. Jahrelang. Und vielleicht war es wichtig.
Wie ein Spiegelbild.
Der Zusatz "und vielleicht war es wichtig" ist für mich besonders gelungen. Er drückt einen Hauch von Verdrängen aus, von "bereits Vergessen".
Zitat:ir müssen doch zusammenhalten, irgendetwas zwischen uns müssen wir doch öffnen können, etwas Hilfloses vielleicht - einen Brief, oder einen Abgrund.
Einen Brief öffnen, oder einen Abgrund ... sehr krasses Wortspiel. Toll.
Zitat:Jemand muss uns doch halten, uns lieben, irgendjemand muss doch die Kinder weiterlieben, wenn ihre Eltern sterben?
Hier haben wir dann die Quintessenz des Textes. Die Verzweiflung über den Tod eines Elternteils, die einen komplett aus der Bahn wirft. Die einen alleine zurücklässt.
Zitat:Nein. Nein, antworte ich, das ist nicht wichtig, es kann, darf nicht wichtig sein, ich verbiete es.
Die Wiederholung des "ich verbiete es" in neuem Zusammenhang gefällt mir gut. Ein Stilmittel das Struktur verleiht und das Thema betont.
Zitat:Nicht weinen, unter keinen Umständen, ich könnte es bemerken
Für mich die inhaltsstärkste Stelle der Geschichte. Wer soll nicht weinen? "Er"? Wohl eher "sie" selbst - sie will sich nicht erinnern, will nicht konfrontiert werden, mit dem, was die Decke der Normalität wieder zerfressen kann ... weit über den Füßen.
Der Gegensatz, den du schon weiter oben einmal aufgreifst: man weint, aber bemerkt es nicht/will es nicht bemerken, der reißt mich als Leser richtig mit.
Zitat:Aber das ist nur ein Schnitt, glatt und makellos wie ein Schlag in den Magen.
Was für ein Vergleich! Nur ein Schnitt (beschwichtigend) - Schlag in den Magen (lässt Widerstand zusammenklappen). An dieser Stelle denke ich auch an "sich selbst verletzen" über die Metapher heraus. Das lässt du offen, du könntest einen seelischen oder einen realen Schnitt (der sich aber ja dann aus einem seelischen ergeben würde) meinen. Aber ich finde gut, dass du dem Leser hier seinen eigenen Raum lässt.
Zitat: Das ist nur ein Zufall, die Millimeter, die der Decke fehlen, die Widerhaken, das ist alles nur ein Zufall.
Schön die Decke der Normalität wieder aufgegriffen.
Zitat:Aber es ist zu gefährlich. Etwas oder jemanden könntest du wecken. Nein, ich lasse ich dich alleine hinter deinen Wänden seufzen.
Den inneren Zwiespalt auf den Punkt gebracht: die Erzählerin weiß genau, wie der andere sich fühlt, weiß genau, dass sie ihm Halt geben könnte - aber sie will nicht, traut sich nicht, will nicht wieder mit dem eigenen Leid konfrontiert werden, dass sie so gut in dem hintersten Winkel ihres Selbst versteckt hat - vor sich selbst.
Zitat:Sicher, ich seufze auch alleine hinter meinen Wänden. Aber wenigstens weiß ich nicht mehr, warum.
Genial.
Was bleibt mir noch zu sagen? Ich hatte ja überhaupt nichts ernsthaft zu kritisieren. Dein "Ich-Erzähler" überzeugt mich, ich werde gut mitgenommen in einen Geist, der damit beschäftigt ist, sich irgendwie die zu kurze Decke über die Füße zu ziehen, konfrontiert mit der klirrenden Kälte im Leben eines anderen, die der eigenen so ähnlich ist.
Du hast Metaphern, Bilder, Vergleiche drin, die mich überzeugt haben - du hast sie auch nicht einfach an einander gereit, sondern schließt Kreise, wiederholst sie in immer neuem Gewand. So wirkt deine Geschichte sehr rund, so nimmst du den Leser sehr gut mit, so wirkt es (für mich) auch nicht überfrachtet.
Auch die Fassade als Wettbewerbsthema ist gut umgesetzt - denn dein Prot. will die eigene Fassade der Normalität nicht vor den anderen, sondern auch vor sich selbst aufrecht erhalten, während er die Fassade des anderen durchschaut ... und der Leser bekommt einen Blick hinter die Fassade deines Prots.
Ich bin auch weiterhin schwer beeindruckt von dieser Geschichte und finde, sie hat völlig verdient gewonnen.
Liebe Grüße vom Wanderer!
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RE: Zwischen Wänden
Hallo Ichigo,
nach langer Zeit komme ich endlich dazu, diese Geschichte zu kommentieren. Auch wenn ich mich - um ehrlich zu sein - frage, was ich dir hierzu noch schreiben könnte.
Vielleicht, wie es wirkt, wie die Geschichte die Umgebung für die zehn Minuten völlig ausblendet:
Es ist eine unglaublich traurige Geschichte von zwei Menschen, die jemanden verloren haben, wahrscheinlich beide ein Elternteil oder mehr. Zwei Menschen, die sich nie wirklich nah standen, die Einsamkeit vielleicht als Schlaftrunkenheit gedeutet haben, vielleicht als morgendliche Zerstreutheit. Zwei von zehn, und jeder sitzt hinter seinen Wänden und versucht, die kalten Fußspitzen unter die Bettdecke zu ziehen, die doch zu kalt bleibt. Du beschreibst sehr nah, wie weit die Distanz ins Nebenzimmer ist - und wie nah die beiden doch sind. Die zwischenzeitige völlige Verzweiflung, das In-sich-Kehren, vllt auch Anzeichen von Verbitterung, wer sich dann um die Kinder kümmert. Das ist in seiner wiederkehrenden Art, im ständigen Mantra in dieser Geschichte, noch viel trauriger.
Vielleicht ist die Geschichte nur etwas lang geworden, wiederholst du die Beteuerung, den Brief zu öffnen, etwas zu häufig, den Tee, die Rettungsversuche, da hätten es vielleicht anderthalb Seiten noch stärker wirken lassen als zwei. Aber im Grunde gibt es keine Stelle, die wirklich zu viel wirkt, nichts, das wirklich herausgestrichen werden könnte.
Mir gefällt diese Geschichte, nein eher: dieses emotionale Fragment sehr gut. Und herzlichen Glückwunsch zum ersten Platz im Wettbewerb!
Einige wenige Anmerkungen:
Zitat:Etwas oder jemand hat ein Loch hineingerissen, eine Lücke, die alle Worte verschluckt.
Die Prot weiß doch schon, ob es "etwas" oder "jemand" war ...
Zitat:Worte unter Vorbehalt.
Ja ... sehr gut.
Zitat:So ist das mit der Normalität, immer ist sie hilflos, zieht krampfhaft ihre stickige kratzige Decke über die Abgründe, aber die Decke bleibt zu kurz, Kälte nistet sich in meine Zehen, während ich lache ...
Auch das!
Zitat:Dass es etwas so köstliches gibt
etwas so Köstliches
Zitat: vielleicht ist es wichtig, dass das BAföG-Amt wissen will
"Vielleicht" groß
Zitat:Woher kommen die Tränen auf dem Spiegelbild, seltsam, waren die schon immer da?
Mit solchen Sätzen schaffst du diese eigenartige Stimmung der Geschichte, die irgendwo zwischen Reflexion über jemand anderen und über sich selbst liegt. Und das macht sie so ausdrucksstark.
Zitat:irgendetwas zwischen uns müssen wir doch öffnen können, etwas Hilfloses vielleicht - einen Brief, oder einen Abgrund.
Und die Verzweiflung, die steckt auch in jedem Satz - wie hier.
Ohne dabei platt oder überemotional zu wirken.
Liebe Grüße,
Libertine
... und von den wundersamsten Wegen bleibt uns der Staub nur an den Schuhen. (Dota Kehr)
Avatar von Eddie Haspelmann
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RE: Zwischen Wänden
Hallo Ichigo,
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich deinen Namen gerade heute zum ersten Mal in der Shout Box gelesen habe. Dann spionierte ich ein bisschen auf deinem Profil herum und las mal eine Geschichte und war ... baff.
Mitreißend emotional, spannend von der ersten bis zur letzten Zeile. Ich konnte gar nicht mehr aufhören und musste bis zum Ende lesen.
Ein Spiegelbild unserer heutigen Gesellschaft. Wir verstecken uns hinter Wänden (oder Smartphone) und zeigen die Gesichter, die wir andere sehen wollen, aber nie wie wirklich sind.
Was weiß man denn schon über den Mitbewohner? Den Nachbarn? Oftmals überraschen uns selbst die Ehepartner nach Jahren des Zusammenlebens?
Genau das beschreibst du mit deiner Geschichte.
Ich werde noch Weiteres von dir lesen und freue mich schon drauf.
Viele Grüße Persephone
Den Stil verbessern, das heißt den Gedanken verbessern
(Friedrich Nitzsche)
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RE: Zwischen Wänden
Hallo Persephone,
danke für deinen Kommentar 
Ich sehe gerade auch zum ersten Mal, dass du Moderator bist... Ich vermute, meine Foren-Abstinenz hat sich mit deinem Foren-Eintritt überschnitten. Aber schön, dass wir uns jetzt auch kennenlernen.
Viele Grüße und bis demnächst
ichigo
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