31-12-2011, 17:51
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 01-01-2012, 12:22 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Königsberg, östlicher Stadtrand, Krankenhaus der Barmherzigkeit
Husten. Röcheln. Stöhnen.
Es roch nach durchgelegenen Matratzen und durchgeschwitzten Laken. Ab und zu mischte sich im großen Saal der Duft von Fäkalien aus den angrenzenden Aborten dazu.
Mehrere Dutzend Betten neben- und hintereinander, in denen Männer jeglichen Alters lagen. Ab und zu stahlen sich Gesichter von Jungen und Kindern in Annemaries Blick. Einige apathische Minen, andere wirkten, als säßen sie auf Starkstromleitungen. Nur die etwas älteren Herrschaften wirkten äußerlich ruhig, doch sie wusste, dass in ihrem Inneren die Alpträume immer noch die Oberhand hatten.
Sie schob einen alten Teewagen vor sich her, auf dem sich ein alter Rundfunkempfänger befand.
Hinter ihr folgte Hendrik, der eine Kabeltrommel abrollte.
Einige der Bettlägrigen hoben müde den Kopf und verfolgten Mutter und Sohn, wie sie durch die engen Gassen bis zu einem etwas freieren Platz in der Mitte des Saals ankamen.
Hendrik schob die Stecker ineinander, während Annemarie einen Knopf betätigte. Rauschen drang aus den Lautsprechern und hallte durch den Saal. Hastig drehte sie das große Rädchen an der Seite, bis schließlich das Rauschen verschwand und eine männliche Stimme erklang.
"Kann das jeder hören?", fragte sie, erhob sich und schaute durch die Reihen der fragenden Gesichter.
Einer der älteren Männer in einem Bett in ihrer Nähe räusperte sich.
"Was soll das werden?", fragte er. "Wollen Sie uns jetzt mit den Comedian Harmonists heilen?"
Sie lachte.
"Nein, Hans", sagte Annemarie. "Heute ist doch das Halbfinalspiel."
Verwirrung, einige Männer schauten sich verwundert an.
"Halbfinalspiel?"
Annemarie seufzte und stemmte frustriert die Arme in die Hüften.
"Seit Jahr und Tag bringe ich ihnen allen die Zeitung, selbst in schweren Zeiten erzähle ich ihnen, was dort draußen jenseits der Fenster geschieht - und niemand von ihnen hört mir zu?"
Schweigen breitete sich aus, dann hob sie die Hände.
"Gut, noch einmal", rief sie. "Heute ist Donnerstag. Und es läuft bereits das Halbfinalspiel der Fußballweltmeisterschaft hier in Königsberg statt."
Hans richtete sich in seinem Bett auf.
"Halbfinalspiel", meinte ein anderer Mann und richtete ein Ohr schwerhörig in Richtung des Radios. "Und wer spielt gegen wen?"
Sie lächelte.
"Das finden Sie schon heraus."
***
Irgendwo über der Ostsee
Die Wolken hingen tief, stießen ineinander und hetzten sich gegenseitig auf. Dunkel und trüb wie der Tag sahen sie aus, während sie ihren Weg in Richtung des Frischen Haffs nahmen.
Aus Nordwesten näherten sich kleine Punkte. Unterschiedliche Höhen, verschiedene Größen.
Schnittige zweimotorige Flugzeuge in silberner Farbe, unter der Pilotenkanzel das Abzeichen der ABA - ein weißer Vogel auf blauem Grund. Am Leitwerk der Maschinen hatte man die schwedische Nationalflagge aufgemalt, zusätzlich dazu stand in großen Buchstaben 'SWEDEN' auf beiden Seiten der Rümpfe.
Die zwölf Dakotas der AB Aerotransport rauschten in einem Abstand von mehreren Minuten hintereinander dicht unter der Wolkendecke davon, während die sechs weitaus größeren Maschinen versetzt einige hundert Meter unter ihnen über die Ostsee brummten. Sie sahen robuster und klobiger aus, hatten einen wulstigen Bug und weite, ausladende Flügel, die mit jeweils drei Motoren bestückt waren. Die Pilotenkanzeln waren im Gegensatz zu den silbernen Flugzeugen nicht integriert, sondern oben auf dem Rücken zwischen den Tragflächen und dem Bug aufgesetzt worden.
Auf den dunkel gestrichenen Seiten der Giganten waren die Eisernen Kreuze der Reichsluftwaffe zu sehen, während die dunkelblauen Jagdflugzeuge der US-Navy zwischen den Dakotas und Giganten herumschwirrten und Begleitschutz gaben.
Im Giganten, der brummig am Ende der Linie flog, konnte man unter der Kanzel auf beiden Seiten das selbstgemalte Bild einer Elfe auf blauem Grund sehen, darüber war der Schriftzug Lady des blauen Mondes zu erkennen.
In der Pilotenkanzel, in der mattes Oliv dominierte, hallte das Dröhnen der Motoren durch die Ohren der drei Personen.
Die beiden Flugzeugführer links und rechts starrten durch die Fenster nach draußen auf die anderen Himmelsflieger.
Vor ihnen das Gerätebrett mit den jeweiligen Instrumenten. Links Borduhr, Fahrtmesser, Fein- und Grobhöhenmesser, daneben der pneumatische Horizont. Unten in der Mitte und rechts jeweils sechs kreisrunde Ladedruckmesser unter den Drehzahlanzeigern, darüber sechs Zündschalter, rechts daneben der Sicherungskasten. Zwischen den beiden Sitzen die sechs Schubhebel für die Motoren, darunter ein Kasten mit einem kreisrunden Ausschnitt, auf dem an der Seite H2S Mark III stand. Zwischen den Beinen der beiden Piloten die Steuersäulen mit den Steuerhörnern und im Fußraum die Bremspedalen.
Der links sitzende Flugzeugführer im Range eines Oberstleutnants zupfte an seinem engen Hemd, das aufgrund der Hitze im Flugzeug den Schweiß wie einen Schwamm aufsog. Und überdies hinaus für ihre Büstenhalter nicht gemacht zu sein schien.
"Verdammte Hitze!", rief sie und schaute zu ihrem Nachbarn, der anstelle der Steuerhörner eine Karte in den Händen hielt. Nur ab und zu schaute er auf und ließ seinen Blick kontrollierend über die Anzeigen der Instrumente wandern.
"Wie sieht es aus, Paul?", fragte sie, als er sich wieder der Karte zuwandte.
"Wenn man noch nie dort war, ist es schwierig", brummte er und tippte mit dem Finger auf die Stadt.
"Nimm nur die markanten Punkte."
"Ja-Erna!"
"Und die Verbindungswege." Sie schmunzelte. "Aber bitte nicht die Gassen!"
"Bestimmt nicht." Er starrte noch einen Moment auf die Karte, dann legte er sie beiseite. "Gut, ich versuchs."
"Ich bin ganz Ohr."
Paul schloss die Augen.
"Die Straßen, die auf den alten Festungsanlagen erbaut wurden, ziehen sich kreisförmig um die Innenstadt herum", meinte er. "Bis auf eine Stelle: Im Südosten ist keine Verbindung vorhanden. Es sieht aus, als würde ein Stück aus einer Torte fehlen."
"Und wie nennt sich die Gegend?"
"Lomse, manchmal taucht auch der Name 'Sackheimer Bürgerwiesen' auf."
"Ein guter Anfang."
"Nach Westen führen drei große Straßen stadtauswärts, an denen sich die Neubaugebiete entlang hangeln." Er fasste sich nachdenklich an die Nase. "Zum Fluss: Von Osten kommen der Alte und der Neue Pregel, die sich in der Innenstadt bei der Kneiphofinsel treffen, die Insel umfließen und als ein Strom zuerst in Richtung der drei Hafenbecken und dann zum Frischen Haff führen."
"Sehr gut."
"Gegenüber von den Hafenbecken befindet sich der Bahnhof Ratshof, von dem aus der Holsteiner Damm entlang des Flusses nach Pillau führt."
Sie nickte und schaute erst aus dem Fenster auf den außen angebrachten Spiegel, in dem die drei Motoren der linken Tragfläche zu sehen waren - dann aus dem Augenwinkel auf ihre Armbanduhr.
"Gut, Paul!"
"Südlich der Hafenbecken befindet sich Marschland. In der Nähe Schutthalden aus der Stadt. Weiter nach Süden erstreckt sich die Reichsstraße 1, die von Südwesten kommend durch Ponarth nach Nordosten am westlichen Rand der Stadt verläuft."
"Jetzt noch die markanten Punkte!"
"Das Schloss mit dem zerstörten Turm westlich des Schlossteichs, rechts davon die Kommandantur, das Krankenhaus der Barmherzigkeit und die Kronprinzkaserne, die aussieht wie ein großes D." Er überlegte. "Westlich der Ringstraßen befinden sich von Nord nach Süd: der Nordbahnhof, der Park mit dem Stadion und danach die Eisenbahnbrücke zum Hauptbahnhof im Süden."
Erna nickte ihm anerkennend zu.
"Lob und Anerkennung!", rief sie und schaute rechts über ihre Schulter nach hinten, als Paul die Steuerung übernahm. "Wie siehts aus, Gustav?"
Der Funker saß mit dem Kopftelephon auf seinen Ohren in seiner harten Sitzschale und hantierte an seinen Geräten herum.
"Moment!"
Er tastete nach einem Knopf und eine verzerrte Stimme ertönte.
'Un. gle..h erfol.t d.. An..i.f, .e.ne Dam.. ..d H..ren!'
"Gustav!"
"Muss das erst noch richtig einstellen", murmelte er und drehte an einem Regler, bis die Stimme klar und deutlich zu hören war.
'... nd Herren an den Empfangsgeräten. Hier ist WW - ihr Berichterst..ter aus Kön..s..rg. Die Verzög...ng bitt. .ch zu entschuldigen.'
Gustav schüttelte den Kopf, hantierte weiter an seinen Geräten und drehte wieder vorsichtig am Knopf.
'Und jetzt ist es soweit Schiedsrichter Jansson pfeift das Halbfinalspiel Deutsches Reich gegen die UdSSR an!'
Unterschwellige Töne, die sich zwischen den Worten der Stimme versteckte. Ein leiser langgezogener und ein etwas stärkerer kurzer Ton, die sich endlos wiederholten.
Gustav drehte sich zu Erna um.
"3° Backbord!", rief er.
Sie nickte, beobachtete die Instrumente vor sich, während sie das Flugzeug um einige Grad leicht nach Backbord flog.
"Ich habs gleich!"
'Und es geht stürmerisch los, meine Damen und Herren.'
Das Flugzeug flog noch einige Grad weiter nach Backbord, bis beide Töne gleich laut in Gustavs Kopftelephon zu hören waren.
'Die Sowjets in der deutsche Hälfte, jetzt, bereits nach wenigen Minuten preschen sie den Ball nach vorn!', rief WW. 'Nein, da sah die deutsche Mannschaft nicht gut aus!'
Nicht mehr lange, und sie würden sich derart überlappen, dass nur noch ein durchgehender gleichstarker Ton zu hören wäre.
'Und jetzt der erste Konter, von links über ...'
"Sehr gut", sagte der Funker und hielt einen Daumen in die Höhe. "Wir sind auf Kurs!"
***
Königsberg-Roßgarten, Krankenhaus der Barmherzigkeit
Martha und Jakob standen vor dem leeren Zimmer des Pförtners. Ein Radiogerät stand auf dem Tisch und eine aufgeregte Stimme sprach aus dem Lautsprecher.
'Die letzte Minute der ersten Halbzeit - und die Abwehr schwankt!'
"Für Sie, Herr Koper", sagte sie und deutete auf den Hörer, der neben dem Radiogerät lag.
Er nickte dankend, trat ein und hielt sich den Hörer ans Ohr.
'Aber da: Wolkow ist mit dem Stollen noch dran, schiebt das Leder zur Seite, zu Ströker, der den Ball zornig ins Aus donnert. Unglaublich, das Glück ist uns heute hold.'
"Oberst Koper", sagte er, kniff die Augen zusammen und hielt sich das andere Ohr zu. "Was?"
'Und jetzt pfeift Jansson die erste Halbzeit ab!'
"Moment!", rief Jakob.
Er schaltete das Radiogerät aus und hob erst erstaunt eine Augenbraue, bevor er lachte.
"Nein, ich habe mich nicht selbst befördert. Das macht in Namibia der Präsident persönlich. Wer sind Sie überhaupt? ... So so, Hauptgefreiter Plassen, eingesetzt als Melder - und?"
Er verharrte, horchte dem, was die Frau am anderen Ende der Leitung sagte.
"Das ist mein Bruder ..., ...wahrscheinlich im Stadion" Er schwieg einen Moment. "Ja, er leitet die Ermittlungen gegen Alois Heinrich. ... Ja."
Martha stand am Türrahmen und ihr Gesicht wurde leichenblass, als sie den Namen hörte.
"Wie, in der Kommandantur sind nur italienische Wachsoldaten?", fragte Jakob. "Ach, und ich bin jetzt der Befehlshaber?" Das Lachen in seinem Gesicht erstarrte nach kurzer Zeit, als der Melder sprach. "Bitte was?" Er drehte sich erstaunt zum Fenster um, hinter dem die verlassene Straße zu sehen war. "Das können die doch nicht ... Wann soll er in die Botschaft verlegt werden?" Er schaute auf seine Armbanduhr. "Drei Viertel zehn?" Er nickte zu sich selbst. "Gut, wir machen Folgendes: Sie fahren ins Stadion und kämpfen sich zum Admiral durch, ich versuche den Botschafter zu erreichen - verstanden?"
Er legte auf und starrte den Telephonapparat noch eine Weile an, bevor er Martha im Türrahmen wahrnahm.
"Frau Poppert, haben Sie ein Fernsprechverzeichnis zur Hand?", fragte er die alte Dame. "Ich muss ein paar Telephonate führen."
Sie nickte.
***
Königsberg-Mittelhufen, Walter-Simon-Stadion
In der Kabine.
Gotthold fasste sich an das schmerzende Knie. Trowe und Ströker tranken aus den Wasserflaschen. Wolkowa rieb sich das rechte Ohr, während die anderen einen völlig abgekämpften Eindruck machten.
"Das war gut, Männer", meinte Lothar, der in der Mitte stand und jeden einzelnen scharf anschaute. "Aber so wie es aussieht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie durchbrechen."
Schweigend starrten sie ihn an, dann hob Kleinhans hob den Arm.
"Und jetzt?", fragte er, während Overbeck neben ihm die Wasserflasche absetzte.
"Ich dachte, wir halten das Null zu Null bis zum Ende der Verlängerung?", meinte er und wischte sich einige Tropfen vom Mund.
"Das war der Plan - aber wir sollten sie jetzt überraschen."
"Sie rennen gegen uns an und kommen nicht zum Zuge", rief Gotthold. "Reicht das nicht?"
Lothar schüttelte den Kopf.
"Nein."
Stiebig hob die Hand.
"Und was machen wir jetzt?"
"Wir stellen um." Lothar fasste sich nachdenklich ans Kinn. "Sie und Ströker rücken aus der Abwehr ins Mittelfeld. Kretschmer und Schirmschok gehen dafür nach vorne und unterstützen Gotthold als Stürmer."
Schweigend starrten ihn die Spieler an.
"Vertrauen sie mir", rief er. "Wolkow, Trowe und Neuhaus in der Abwehr sitzen als Dreier-Gespann fest im Sattel."
Einige seufzten, andere tranken noch einen letzten Schluck, bevor es wieder an der Tür klopfte.
"Sobald sie ein Tor kassiert haben, werden sie unruhig. Das ist unser Vorteil, dann machen sie noch mehr Fehler! Noch Fragen?"
Golz hob die Hand.
"Was, wenn wir kein Tor schießen?", fragte er. "Auch nicht in der Verlängerung?"
Lothar schüttelte den Kopf.
"Wir - werden - ein Tor schießen."
***
31-12-2011, 18:53
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 01-01-2012, 12:24 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Irgendwo über der Ostsee
Der Himmel hatte sich in die Gehirnwindungen Gottes verwandelt, unter denen die Flugzeuge über die schweigende See flogen. Eine Formation wie ein V: die riesigen Giganten links unten, die Dakotas rechts oben und die Begleitjäger der Shangri-La verteilt dazwischen.
In der ' Lady des blauen Mondes' saßen Erna und Paul schweigend in der Pilotenkanzel des Giganten und starrten in den trüben Tag hinaus. Jeder der beiden hing seinen eigenen Gedanken nach, während die Stimme eines Mannes namens WW durch die Kopftelephone in ihren Ohren herumschwirrte.
Es ist unglaublich, meine Damen und Herren. Die fünf haushohen Stürmer der Sowjets dribbeln, flanken, spielen das Leder durch die Beine der deutschen Abwehr, aber sie kommen nicht zum torgefährlichen Abschluss. Mehr noch, ihren Frust kann ich sogar ohne Augenhilfe von hier oben im Turm erkennen. Sie wirken genervt, hatten sie sich doch schon auf diese leichte Beute gefreut - und nun dieses unsägliche Spiel, das Prallen auf eine schier unüberwindliche Mauer. Jetzt wieder: Flanke von rechts in die Mitte. Der sowjetische Spieler nimmt den Ball mit dem Oberkörper an, dribbelt einmal um sich selbst, sucht einen anderen Genossen zum Anspielen - da sind die Abwehrspieler bereits zur Stelle. Und ... Was macht er da? Er drückt und schiebt die deutschen Spieler beiseite, ein kleines Gerangel auf deutscher Hälfte. Und ... Was ist das? Er kämpft sich alleine durch die deutschen Reihen, quetscht sich durch enge Lücken, er macht es alleine. Einer der deutsche Spieler kommt von der Seite, ... ich kann es nicht genau erkennen. Jetzt fasst er sich an die Nase und fliegt zu Boden. Nein, Neuhaus mit der Nummer 2 fliegt in einem hohen Bogen!
Unterschwellig konnte man die störenden Töne hören, doch sie hatten sich bereits daran gewöhnt. "Wir haben nicht mehr viel Zeit", sagte Paul und schaute auf die Anzeigen der Instrumente. "Es ist gleich soweit."
Der Schiedsrichter pfeift. Der Sowjet donnert trotzdem den Ball an Golz vorbei ins Tor, will jubeln - doch der Schiedsrichter schüttelt den Kopf und fasst sich in seine Brusttasche und zückt die gelbe Karte.
Was ist da unten los, meine Damen und Herren. Selbst das Theaterstück von Borchert ist nicht so dramatisch, wie dieses Spiel. Der sowjetische Stürmer baut sich vor dem Schiedsrichter auf, hebt drohend die Fäuste. Die deutschen Spieler eilen zu ihm hin, bauen sich vor den heranrückenden Sowjets auf. beide Seiten stehen sich feindselig gegenüber, während zwei Männer mit einer Bahre zum Verletzten Neuhaus auf den Boden eilen, über den sich Golz gebeugt hat.
Erna nickte, als die beiden Töne sich derart überlagerten, dass ein einziger durchgehender Ton zu hören war.
Ich kann die Trainer sehen, meine Damen und Herren. Selbst sie stehen dort unten am Spielfeldrand und schreien sich an - der deutsche wird von Herrn Amann vom VfB und Admiral Rheinhardt zurückgehalten. Ich sehe es: sein Gesicht hat eine tiefrote Farbe angenommen und ich glaube, er würde seinen Amtskollegen am liebsten erwürgen, auch wenn dieser einen Kopf größer ist, als er.
"Es geht los!", meinte sie, doch ein blauer Blitz in den Wolken backbords erhellte für einen Moment die Kanzel, dann verschwand es wieder so schnell, als wäre es nie dagewesen.
Sie schauten sich erschrocken an, dann drehte sich Erna nach links.
Was wird er machen? Auswechseln? Doch damit wäre diese Option erfüllt, nur eine ist erlaubt. Jetzt zieht der Ersatzspieler - Bednarz - seine Jacke aus und legt sie ab.
Der Begleitjäger war verschwunden. Und rechts war ebenfalls niemand mehr zu sehen.
"Was zum Teufel ist hier los?", rief Erna und drehte sich zum Funker hinter ihnen um. "Gustav!"
Der Funker hielt sich den Kopfhörer fest an die Ohren und horchte, dann schüttelte er den Kopf.
"Hören sie!", meinte er und schaltete auf die Bordlautsprecher um.
"... Leader 2, repeat contacts lost", schrie eine Stimme, und eine zweite fuhr dazwischen. "Hier Himmelsmeister. An alle. Umschalten auf H2S. Operation wie geplant fortsetzen!"
"Copy Sir", meldete der zweite Staffelführer der Begleitjäger und der Funker drückte auf die Sprechtaste.
"Hier Lady, verstanden", rief er und schaute fragend zu den beiden Piloten. "Waren das die Polen?"
Erna schüttelte den Kopf.
"Ohne Granaten?", meinte sie fassungslos. "Dann hätten die aber ein verdammt zielgenaues System entwickelt!"
"Wie auch immer", knurrte Paul und schaltete das Gerät mit dem kreisrunden Ausschnitt an, an dem an der Seite H2S Mark III stand, während Erna über sich griff und einige Schalter nach oben kippte.
"Unheimlich", murmelte der Funker, als zwei baugleiche Maschinen der Begleitjäger links und rechts von ihnen auftauchten. "Blaue Blitze und verschwindende Maschinen."
***
Königsberg-Roßgarten, Krankenhaus der Barmherzigkeit
Sie stand in ihrem Zimmer. Die Vorhänge vor dem Fenster sperrten den Tag genauso aus, wie die Wolkendecke die Sonne. Nur schwaches Licht, eine immerwährende Dämmerung, die durchs Zimmer waberte. Die Decke aufgeschüttelt und ordentlich ans Ende gelegt. Das Kopfkissen, ein luxuriöser Gegenstand, vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, als die Tage in die Steinzeit zurückgefallen waren. Außer dem Bett stand nur noch eine Kommode im weiß tapezierten Zimmer, und darauf ein gerahmtes Bild. Alt, viel zu oft berührt, viel zu oft beweint. Ein Mann und eine Frau in der Blüte ihres Lebens. Unbeschwertes Lachen.
Martha starrte auf die Photographie, die eine gefühlte Ewigkeit entfernt zu sein schien, und doch waren es nur ein paar wenige Jahre.
"Albert", flüsterte sie und versuchte, dem Mann die widerspenstige Locke aus der Stirn zu streichen, doch die Photographie blieb hartnäckig.
Sie zog die oberste Schublade auf und förderte eine Schatulle zutage. Ihre Finger hantierten nervös am Verschluss, dann öffnete sich der Deckel und ein goldener Ring erschien.
Wir hätten nie nach Palmnicken gehen sollen, Albert.
Stumm schaute sie in die Schatulle. Auf den goldenen Ring. Auf die verblichenen Bilder vom ...
... Strand. Sand, das tosende Meer. Aufgewühlt, es wollte nicht. Es musste, so wie wir. Der Gang zurück zur See, aus der die Menschen einst kamen. Kinder, Mütter, Väter - Menschen gleich welcher Couleur zurückgedrängt, geflohen, panisch aufs Eis gelaufen. Vom Strand kam Gelächter. Und die ersten Schüsse.
Sie nahm den Ring aus der Schatulle und schaute auf die Innenseite. Für immer. Albert. Schlicht, sonst nichts. Nur Albert ...
... neben ihr. Das Nachthemd blutig, die Finger hielten sich am Rand der Eisscholle fest, während die See den Rest von ihm festhielt. Die Schüsse hatten das Meer aus seinem Winterschlaf aufgeschreckt, es brökelte, riss auf und trieb auseinander.
'Martha', murmelte er, als der nächste Schuss durch die Schulter ging und er den Halt verlor. Er rutschte hinab ins eisig nasse Grab. Sie schrie, griff nach seiner Hand und wurde mit ihm von der Scholle heruntergerissen. Hinab in die Dunkelheit, während weitere Geschosse durch das Eis schlugen, nur Sekunden, nachdem sie versunken war.
Die zittrigen Finger der linken Hand vermochten es kaum, den Ring auf den ebenfalls zitternden Ringfinger zu stecken. Es war kalt, so unheimlich kalt, hier ...
... unter dem Meer. Albert sank, das Gesicht erfroren, erstarrt. Die Augen noch geöffnet, das Leben nur noch so groß, wie der Mund die Luft behielt. Seine Hand schob sie von sich fort nach oben, sie wollte nicht. Erst als der Mund sich öffnete und das Leben frei ließ, wandte sie sich ab und schwamm mit den Luftbläschen nach oben ...
Es klopfte an der Tür.
"Frau Poppert?", rief Hendrik von draußen. "Alles in Ordnung?"
Zitternde Finger, der Ring saß endlich wieder dort, wo er hingehörte. Und die Erinnerung an den Tag am Meer verblasste. Stattdessen erschien eine Bank auf dem Dach vor ihrem geistigen Auge. Die Landschaft, der weite Blick über die geschundene Stadt, die ein Abbild des ganzen Landes war.
Sie holte tief Luft und schrie förmlich zur Tür:
"Natürlich ist alles in Ordnung." Sie hoffte, dass alles andere in ihrer Stimme nicht durch die dicke Holztür zu Hendrik drang. "Was gibt es denn?"
Tot ist tot. Doch das Leben geht immer weiter. Und die Gerechtigkeit findet ihre Möglichkeiten. Aber die Zeit?
"Das Spiel geht gleich weiter."
Das Spiel, ein Spiel. Konnte es so einfach sein? Sind wir alle nur Spielbälle der Zeit? Was ist das Spiel? Leben und lernen? Und wer bestimmt die Regeln?
"Ich komme gleich, Hendrik."
Jenseits der Tür entfernten sich Schritte.
Kein Spielball mehr. Kein Fisch an der Angel. Kein Ziel mehr auf einer Eisscholle.
Dann schaute sie auf Albert und sich selbst.
Kant. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Doch handelt die Zeit auch danach?
Sie stand unschlüssig vor der Kommode und starrte auf die zweite Schublade.
Niemand soll dies noch einmal durchleben. Leben, leben sollen sie. In Sicherheit. Hendrik, Annemarie - alle Menschen.
Sie öffnete die Schublade und griff hinein ...
Zeit, das allgemeine Gesetz zu definieren.
***
Über der Ostsee, kurz vor Pillau
"Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf!", rief Erna und tippte auf den Bildschirm des Radargeräts, auf dem die Küste mit dem dahinterliegenden Frischen Haff auftauchte.
"Moment!", rief Gustav und drückte die Hörer an die Ohren. "Ich hab' es."
Er schaltete auf die Bordlautsprecher.
'Hier Zulu an alle', rauschte die Stimme durch den Äther. 'Delta und Julliet Kanal 1. Golf Wechsel auf 2. Kommen'
'Delta verstanden.'
'Julliet copy.'
Der Funker schaltete auf Kanal 2.
'Golf, hier Sierra. Bleiben sie auf 2.'
Nacheinander meldeten sich die Transportflugzeuge vor ihnen, schließlich drückte auch Gustav die Sprechfunktaste.
"Lady verstanden."
'Hier Sierra. Abstand zum Ziel: 20 Seemeilen. Ihre Höhe: 3000 Meter. Geschwindigkeit 250 km/h. Gehen sie bei 10 Seemeilen auf 2000 Meter und 200 km/h.'
"Lady verstanden."
Erna schaute auf die sechs Anzeigen für die Motoren und schob langsam die Hebel zurück, bis die Nadeln langsam nach links schwangen.
"Drosselklappen!", rief sie Paul zu, schaute vom Höhenmesser auf und beide betätigte gleichzeitig einige Schalter über ihnen, während der Funker wieder nach dem Sprechfunkgerät griff.
"Hier Lady", meldete Gustav. "2000 Meter, 200 km/h bei 10 Seemeilen."
Die Silhouette eines langen Schiffes mit schweren Geschütztürmen tauchte vor ihnen auf und schoss unter ihnen vorbei.
'Hier Sierra', rief die piepsende Stimme. 'Verstanden. Kurs korrekt. Schicke Elfe.'
Ein Knall war zu hören, dann vibrierte die Backbordseite des Flugzeugs. Auf einer der linken Anzeigen für die Motoren sank plötzlich die Nadel stärker nach unten.
"Verdammt nochmal", knurrte Erna. "Lady, nicht jetzt!"
Paul schob die Hebel für die verbliebenen zwei Motoren links wieder ein Stück vor und die rechten ein Stück nach hinten. Doch der Geschwindigkeitsmesser rutschte ebenfalls erst von der Zahl 200 in Richtung 180, dann 160. 150.
'Lady, hier Sierra. Sie verlieren an Geschwindigkeit!'
"Das sehe ich auch", fauchte Erna. "Diese blöden Rhôn-Motoren!"
Sie zog den Steuerhebel ein wenig zurück und versuchte die Nase oben zu halten, doch der Sinkflug nahm merklich zu.
"Friedrich?", rief sie in das Helmmikrophon, drehte sich um und schaute auf die gläserne Klappe im Backbordflügel, in dem einer der beiden Mechaniker lag. "Wie siehts aus?"
"Kraftstoffpumpe arbeitet nicht", meldete Friedrich. "Versuche umzuleiten."
'Hier Sierra. Abstand zum Ziel: 5 Seemei-'
Die Stimme verschwand.
Einige Lämpchen gingen zwinkern aus und auch das grünliche Schimmern des H2S starb einen schnellen Tod.
"Ach Du Scheiße!", rief Erna und rüttelte an einigen Schaltern, doch nichts geschah. "BLINDFLUG!"
***
Königsberg-Roßgarten, Krankenhaus der Barmherzigkeit
Martha trat in den verregneten Tag hinaus, ging schnellen Schrittes über den Vorplatz des Krankenhauses in Richtung Straße und wandte sich dann nach links.
Sie konnte bereits die Kommandantur erkennen, während sie mit klopfendem Herzen am Anbau des Krankenhauses mit seinem alten roten Backstein entlang eilte.
Durch die Fenster des Erdgeschosses konnte sie die Stimme des Berichterstatters hören, der seit Stunden sprach.
'... Wetter wird schlechter, doch die Sowjets wirken müde. Ihre Beine bewegen sich nur noch schwer - trotzdem sind sie gefährlich ...'
Ohne Unterlass.
Ein paar Meter weiter auf der Höhe der Kommandantur bog sie in die Altroßgärter Kirchenstraße ein, die Hände noch immer in den Taschen ihrer weißen Krankenjacke vergraben.
Rechts nur Trümmer, links der verwilderte Innenhof des Krankenhauses, der durch die immer noch ausgebrannten Ruinen zu erkennen war.
Sie marschierte strammen Schrittes und lief weiter in Richtung Osten. Aus der Ferne konnte sie bereits die backsteinrote Fassade der alte Kronprinzkaserne erkennen. Die Gebäude dazwischen bereits abgetragen, die Gruben der Keller aufgefüllt, der Boden mehr schlecht als recht eingestampft und begradig. Eine Handvoll Männer und Frauen aus den IRK-Notunterkünften saßen neben Schaufeln und Schubkarren im trockenen Eingang eines Hauses. Ein Radio auf den kalten Stufen zwischen ihnen.
'Und die Sowjets stürmen wieder nach vorne, diesmal über rechts, Pass in die Mitte ...'
Sie marschierte weiter, den Blick sturr geradeaus, die Hände in den Taschen verkrampften sich, je näher sie dem Eingang jenseits des Parkplatzes kam. Militärfahrzeuge, Laster und Geländewagen, davor einige Soldaten in italienischer Uniform, die ebenfalls der Radiostimme lauschten.
'Flanke, kurzer Pass zurück, ..., was ist da los? Alle fünf Stürmer stehen vorne und drücken die deutsche Abwehr förmlich zusammen ...'
Einige hatten schon im Krankenhaus gelegen, sie grüßten Martha freundlich und beachteten sie nicht weiter.
Die halbbogenförmige Durchfahrt zum Innenhof. Verschlossenes Tor, davor wartete eine schwarze Limousine mit italienischem Kennzeichen. Der Fahrer lehnte am linken Kotflügel und lauschte ebenfalls der Stimme aus dem Radio, als sich die Doppeltür schließlich öffnete.
Ein italienischer Offizier trat mit einem hageren Mann heraus - sie erkannte ihn sofort.
Als wären die letzten Jahre nur Sekunden gewesen.
Das Gesicht, die Brille, der Schnurrbart.
Sie stand wieder am Strand von Palmnicken.
Im Pulk der anderen, mit dem Rücken zum Meer.
Albert neben ihr. Er hielt ihre Hand fest umschlossen, murmelte leise Worte.
Gleich würden die uniformierten Soldaten vor ihr wieder die Maschinenpistolen heben, teuflisch grinsen und abdrücken - und sie alle aufs Eis hinaus treiben.
Doch diesmal würde sie zurückschießen.
***
01-01-2012, 02:14
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 03-01-2012, 16:22 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Königsberg-Contienen
Die ersten Giganten vor ihnen sackten langsam weiter herab und begannen unter dem verregneten Himmel den Landeanflug auf das nasse Marschland südlich der Schiffswerft.
"Und was jetzt?", fragte der Funker. "Trotzdem landen?"
Erna seufzte, schaute Paul an, dann durch die Fenster nach draußen.
Unter ihm verengte sich das Haff zum breiten Pregel. Man konnte einen dunklen Flugzeugträger am nördlichen Ufer des Flusses erkennen, gegenüber der Werftanlagen. Die ersten Maschinen der Begleitjäger landeten nacheinander auf dem Flugdeck und wurden von einem Fangseil gebremst. Seeleute rannten über das Deck, als die Propeller abgeschaltet wurden. Sie klappten in Windeseile die Flügel um und schoben die Maschinen zu den drei Aufzügen, mit denen sie ins Innere des Rumpfes verschwanden.
"Wir können nicht alle gleichzeitig landen", sagte sie und starrte auf die langgezogene, beinahe geraden Straße des Holsteiner Dammes, die direkt am Ufer verlief.
"Dort vielleicht?", fragte Paul. "Wir brauchen doch nur knapp 800 Meter."
Die letzten Dakotas der ABA landeten nacheinander auf dem Damm, als die ersten bereits das Ende des Damms erreichten. Ein großer weiter Platz, der sich teilweise hinter dem Flugzeugträger und den Hallen der Zellstofffabrik verbarg. Sie holperten über das Feld und hielten in der Nähe von Eisenbahnschienen, wo kleine Waggons auf sie warteten.
"Nein", murrte Erna, während ihre Augen fieberhaft nach einer günstigen und freien Fläche suchten. "Das gäbe eine Katastrophe."
Paul lachte, als unten mehrere Männer mit Handkarren und Pferdefuhrwerken zu den Fliegern eilten. Ein hastiges Abladen erfolgte, während sie rechts am Flugzeugträger vorbei schossen und sich nach Osten wandten.
"Wir drehen eine Runde über die Stadt", sagte Erna. "Irgendwo muss was frei sein."
"Bist Du sicher?"
Sie presste die Lippen zusammen und nickte.
"Jetzt bist Du dran!", sagte Erna und Paul schaute angestrengt aus dem Fenster. Die westlichen Vorstädte glitten unter ihnen vorbei. Teilweise abgebrannt, gesprengt - nur die wenigsten noch in tadellosem Zustand.
Er starrte durch die Scheiben, versuchte sich zu orientieren und zeigte schließlich auf das vollbesetzte Stadion, das sich ihnen langsam näherte.
"Wir müssen die Höhe halten!", rief er.
"Ganz ruhig", knurrte sie und nickte zum Turm des Stadions.
"Wie hoch?"
"Keine Ahnung!"
"Auch gut." Sie lenkte das Steuer weiter nach rechts und die Maschine legte sich schwerfällig auf die Steuerbordseite, als die vollbesetzten Tribünen größer wurden und schließlich unter ihnen vorbei schossen. Ungläubige Gesichter, in den Nacken gelegte Köpfe, die staunend zu ihnen heraufschauten.
"Ich hoffe, wir haben ihnen nicht das Spiel verdorben."
"Höhenmesser funktioniert wieder", rief Paul und schlug gegen die Instrumentenanzeigen. "Und der Geschwindigkeitsmesser auch!"
"Gut!"
"Nach Süden, Erna!" Paul zeigte auf das Gebäude, das aussah, wie ein großes D. "Da vorne hört die Freiheit auf!"
Die Stadt drehte sich unter ihnen. Der Schlossteich und die Kronprinzkaserne flogen links an ihnen vorbei, und sie näherten sich der kleinen Insel namens Lomse, auf dem ein Lager zu erkennen war.
"Höhe 800, abnehmend."
"Geschwindigkeit 120!"
Die Turmspitze des Doms auf der Insel schoss rechts knapp an ihnen vorbei.
"Wo ist die Reichsstraße?", fragte Erna und Paul schaute sie ungläubig an.
"Das wird zu eng!"
"Nein!"
"ERNA!"
Sie schüttelte den Kopf.
"Du kannst gerne aussteigen!"
***
Königsberg-Mittelhufen, Walter-Simon-Stadion
Im Stadion.
Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Jung und alt hatte es von den Sitzen gerissen, und die, die sowieso bereits standen, drängten nach vorne zum Spielfeldrand. Doch auf der Laufbahn standen die Italiener und hielten die aufgeregten Menschen zurück - manchmal mit einem höflichen 'Scusi', aber an anderen Stellen auch etwas rabiater.
Die Reporter auf der Tribüne unter dem Turm knipsten, was das Zeug hielt und schrieben sich ihre Finger wund, während die beiden Trainer sich wieder beruhigt hatten. Friedlich grimmig standen sie vor der Laufbahn den Italienern gegenüber, die kompromislos blieben. Auch dem Admiral gegenüber, der bei Lothar stand und seine kalte Pfeife mit den Zähnen fast zerbiss.
Die sowjetischen Spieler drängten wieder nach vorne, diesmal über den rechten Flügel.
Neben Wolkowa startete Stiebig, doch er würde es nicht schaffen. Sie presste die Lippen zusammen, ignorierte die schmerzenden Beine, die knackenden Knie und rannte los. Der hagere Smirnow vor ihr sah sie, drehte ab und schoss den Ball zurück in die Mitte, wo der lange Stürmer stand. Ein finsterer Blick, dann nahm er den Ball mit der Brust an, ließ ihn nach unten tropfen und schoss mit dem Leder in Richtung Golz davon. Viel zu schnell - und niemand bei ihm.
Stiebig kam gerade beim lachenden Smirnow an, während Jelena mit den Augen dem Ball gefolgt war und sich dem Stürmer von der Seite näherte.
Schnaufen, Keuchen. Sie rannten nebeneinander - dann rammte der Stürmer ihr erst den rechten Ellenbogen in die Seite, dann knallte sein Unterarm an ihr Ohr.
Ein Dröhnen schlug sich durch ihren Kopf und die Welt verstummte hinter feinen Klingelgeräuschen.
"Aus Dir mache ich Hackfleisch, Bubi!", schrie sie und versuchte ihm den Ball von den Füßen zu nehmen, als er beinahe frei vor dem Tor stand. Sie schubste ihn erst ein Stück zur Seite, dann grätschte sie ihm den Ball von den Füßen und rutschte in den nassen Rasen.
Der Stürmer hatte sich nach einem tadelnden Blick vom Schiedsrichter lächelnd wieder nach hinten gewandt und wartete.
Für eine Sekunde war alles starr. Zeitlos. Ruhig - abgesehen vom Klingeln in ihrem Ohr. Die gegnerische Mannschaft vor ihr, die eigenen Kameraden links und rechts. Nirgendwo eine Anspielstation. Die Sowjets standen wieder viel zu kompakt im Mittelfeld, das andere Tor nur ein unerreichbares Ziel in der Ferne.
Das Klingeln ebbte nicht ab, zum Dröhnen gesellten sich jetzt auch noch Kopfschmerzen, die sich durch die Gehirnwindungen bohrten. Sie starrte jeden gegnerischen Spieler an, versuchte sie alle auf einmal zu hypnotisieren, als sich plötzlich die feindseligen Minen abrupt änderten.
Sie schauten in den Himmel, wirkten überrascht und leicht verwundert.
Das ist es!
Sie grinste, schaute nach links zu Bednarz, der als einziger nicht den Blicken gefolgt war. Sie nickte - dann schoss sie los.
***
Königsberg-Roßgarten, Krankenhaus der Barmherzigkeit
"Joseph?", rief Annemarie, als sie das kleine Zimmer betrat, doch nur Jakob drehte sich mit einer kleinen Tasche um.
"Nein", sagte er. "Der ist im Stadion - was gibt es denn?"
Sie wirkte panisch, die Augen weit aufgerissen, der Mund trocken.
"Annemarie?" Er trat auf sie zu und rüttelte an ihren Schultern. "Was-ist-los?"
"Hast Du Martha gesehen?"
"Nein - wieso?"
Annemarie schüttelte den Kopf. Das Gesicht wurde rot und feucht.
"Ich ... kann Sie nicht finden!"
"Warst Du in Ihrem Zimmer?"
Sie zog die Hände aus ihren Kitteltasche.
Ein leeres Holster in der rechten. Und ein Bild eines Mannes mit seiner Frau. Glückliche Gesichter, eng aneinander liegend. Darunter stand: Palmnicken, 13.12.1940.
"Verdammt", knurrte Jakob, schaute von ihren Händen in ihre Augen. "Heinrich?"
Sie nickte.
Keine Sekunde später sprintete er aus dem Zimmer auf den Flur. Er quetschte sich durch Rollstühle mit alten Menschen, die über den Flur fuhren. Ein Krankenbett tauchte aus einem Zimmer auf, er sprang drüber hinweg. Dann zur alten Treppe - keine Stufen nehmend, er sprang einfach von Absatz zu Absatz, während er schließlich hechelnd unten im Erdgeschoss ankam und durch den unteren Flur rannte. Am verlassenen Speisesaal, am Schlafsaal mit der Radioübertragung vorbei zum hinteren Ausgang des Krankenhauses und warf sich gegen die schwere wuchtige Tür, die polternd zur Seite schwang.
Weiter!
Er raste über den wild wuchernden Rasen des Innenhofes zu den Absperrungen auf der anderen Seite, wo die Altroßgärter Kirchstraße lag.
Er lief, hielt seine Atmung gleichmäßig und rannte durch den Regen die Straße hinab zur Kronprinzkaserne. In einem der Eingänge saßen Männer und Frauen neben Schaufeln und Schubkarren davor und lauschten den letzten Minuten des Fußballspiels.
Da!
Er konnte die alte Dame erkennen, die vor ihm zwischen den geparkten Lastwagen verschwand.
Sein Herz pochte wild hinter seinen Rippen, und sein Unterhemd schabte unangenehm an den Pflastern. Schweiß gesellte sich hinzu, lief mit den Regentropfen von seiner Stirn unter seine Jacke und sickerten durch die Pflaster in die wunden Stellen.
Schneller!
Er rannte auf die Laster zu, zwischen ihnen hindurch. Er sah Martha. Mit einer Pistole in der Hand. Vor ihr ein hagerer Mann mit Brille und Schnurrbart, daneben ein Capitano, der seine Hände gehoben hatte.
Die anderen Italiener hatten sich von den Radios abgewandt, hielten ihre Waffen auf die alte Frau gerichtet und bellten " ABBASSO L'ARMA - ORA!" über den Parkplatz.
"NICHT ... SCHIESSEN!", rief Jakob keuchend, während er durch die Reihen der Soldaten rannte. "MARTHA!"
Die alte Frau wirkte starr, hielt die Pistole ohne nervöses Zucken in ihrer rechten Hand und zielte unvermindert auf die Stirn des hageren Mannes mit der Brille.
Einige italienische Soldaten drehten sich um, hoben die Hände und wollten Jakob aufhalten, ...
"MARTHA!"
... doch er warf sie zur Seite und boxte sich durch, ...
"WEG DA!"
... während ein tiefes Dröhnen aus dem verregneten Himmel ertönte. Und kurz darauf raste ein riesiges Flugzeug mit einer blauen Elfe unter der Pilotenkanzel über sie hinweg und ...
"NICh-!"
... erstickte jeden Ton im Keim.
Nur wenige Meter, Jakob konnte fast schon nach Marthas Armen greifen, als es in ihren Händen blitzte.
Ein stummer Schuss brach. Die Zeit erschrak und stand für einen Moment still. Der Rauch aus der alten Pistole in Marthas Händen erfror und die Bestürzung wich nur langsam aus dem Gesicht des Capitanos. Schließlich rauschten Bilder eines vergangenen Tages am Meer hinter den Augen der alten Dame vorbei, als sich die Zeit von ihrem Schrecken erholt hatte.
Der Mann namens Heinrich sackte mit einem hässlichen Loch in seiner Stirn nach hinten weg.
Und bevor Jakob die alte Frau zu Boden reißen konnte, schossen die Wachsoldaten.
***
01-01-2012, 03:20
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 04-01-2012, 09:23 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
Königsberg-Mittelhufen, Walter-Simon-Stadion, Radiomittschnitt
***
Königsberg-Ponarth, südliche Vorstadt, Reichsstraße 1
Die ' Lady des blauen Mondes' flog über die Insel in der Mitte der Stadt nach Süden, drehte nach Südwesten, als sie über die anderen Seite des Pregels flog. Nahe des Hauptbahnhofs verlor sie weiter an Höhe; zwei der Steuerbord-Motoren hatten ebenfalls den Geist aufgegeben.
"Verdammter Mist!", fluchte Paul und betätigte die Zündschalter immer wieder, doch nichts geschah.
"Erich?", rief Erna in das Mikrophon ihres Kopftelephons. "Friedrich?"
"Nichts zu machen", meldete die beiden nacheinander. "Tot."
Eine breite Straße tauchte auf und führte schnurstracks am Hafengebiet vorbei nach Südwesten.
"Komm schon, Lady!", knurrte Erna und hielt das Steuer eisern fest. "Du bist die Beste!"
Zum Glück waren kein Auto, kein Lastwagen auf der Fahrbahn oder auf den Bürgersteigen abgestellt.
"Wir sind zu schnell!", rief Gustav von hinten, als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzte, die Nase mit dem gewölbtem Bug nur wenig nach oben gerichtet.
"Das sehe ich auch!"
Die Tragflächen vibrierten und sie wurden kräftig durchgeschüttelt, als die acht kleinen Räder quietschend auf den holprigen Asphalt trafen.
"Das ist zu eng!", schrie Paul und stand förmlich auf den Bremsen und hielt die zurückgezogenen Motorenhebel fest umschlossen. "Viel zu ..."
Mit einer Restgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern schoss der Großraumtransporter über die Straße, bevor die ersten Ruinen nahe des Straßenrands auftauchten.
Das Flugzeug rauschte auf der Straße zwischen den Häusern hindurch. Laternen wurden reihenweise geköpft - erst an alten Stahlmasten scheiterten die Propeller. Sie verbogen sich, rissen ab und flogen pfeifend hinfort.
Die Häuser rückten bedrohlich näher zusammen. Ein metallisches Knirschen ertönte und fraß sich durch ihre Ohren. Dann schepperte es und sie wurden in ihren Sitzen nach vorn geworfen. Paul knallte mit dem Kopf an die Instrumente, als die beiden Flügel auf der Höhe der äußeren Motoren abknickten.
Die Instrumente der Motorenleistung fielen auf Null zurück, als der Funker aus seinem Sitz flog und stöhnend zwischen den Piloten landete. Nur Erna mit zusammengebissenen Zähnen das Steuer fest in der Hand, während die nächsten Häuser auf sie zu schossen. Aus den Eingängen traten verdutzte Menschen, schauten ungläubig auf die riesige Maschine - dann stoben sie panisch auseinander und rannten um ihr Leben, als der gewölbte Bug schließlich knapp vor der Hausfassade eines intakten hohen Gebäudes zum Stillstand kam.
Stille.
Einige der Flüchtenden eilten zurück und versuchten ins Flugzeug zu gelangen. Der gewölbte Bug wies einen senkrechten Spalt auf. Sie drückten sich dazwischen und schoben die beiden Bugtore zur Seite. Im Inneren standen nur zwei Raupenfahrzeuge. Mit Schaufeln.
Andere krabbelten auf den Rücken des riesigen Flugzeugs. Sie öffneten die verbogenen Klappen in den Flügeln und zogen die beiden Bordwarte heraus.
Einer der beiden nickte dankend, wankte, fiel vor der durchsichtigen Decke der Pilotenkanzel auf die Knie. Er stöhnte, griff unter die Verkleidung und hob die Decke hoch.
"Erna?", rief er, doch niemand antwortete. Der Funker lag zwischen den Piloten, Paul reglos in seinem Sitz, nur Sie hielt noch immer das Steuer fest und starrte apathisch aus dem Fenster.
***
Königsberg-Mittelhufen, Walter-Simon-Stadion
'Das Spiel ist aus! Deutschland schlägt die UdSSR mit einem klassischen Eins-zu-Null!'
Sie waren alle aufgestanden.
In den Kurven, auf den langen Tribünen. Dicht gedrängt schrien und freuten sich die Zuschauer überall auf den Rängen, während der Schiedsrichter die unterlegene Mannschaft zurückhielt. Die Sowjets wütend, wild gestikulierend schimpften sie abwechselnd auf den Schiedsrichter und die Deutschen ein, die ihrerseits teilweise erschöpft am Boden lagen, oder sich gegenseitig stützten.
Admiral Rheinhardt stand neben dem Oberst und klopfte ihm auf die Schulter.
"Gut gemacht, Herr Oberst", rief er, griff in seine Tasche und holte eine silberne Tube hervor.
"Die ist für Sie."
Er hielt sie Lothar auffordernd hin, der ihn irritiert anstarrte.
"Was soll das?", fragte er doch der Admiral schmunzelte.
"Das ist ein Gruß von Winston Churchill - Sie kennen ihn doch noch?"
Lothar nickte und nahm die Zigarre.
"Und was soll ich damit?"
Rheinhardt lachte.
"Nur nicht essen!", rief er und verstummte, als er den sowjetischen Botschafter bemerkte, der sich ihm am Spielfeldrand unter Flüchen und wüsten Beschimpfungen der Haupttribüne näherte.
"Herr Borodinow", sagte er. "Was für ein schönes Spiel!"
Der Botschafter hielt vor den Beiden und funkelte erst Lothar, dann den Admiral zornig an.
"Herzlichen-Glückwunsch-zum-gewonnenen-Halbfinalspiel"
"Es war mir ein persönliches Vergnügen, Herr Borodinow", sagte Rheinhardt. "Und im Übrigen können Sie die Blockade mit ihren polnischen Freunden getrost wieder aufheben."
"Bitte?"
"Sie sind durchschaut." Der Admiral starrte den Botschafter feindselig an. "Und fast wäre ich auf die Komödie hereingefallen."
"Sie wissen gar nichts", lachte Borodinow, drehte sich wieder um und ging steifen Schrittes den sowjetischen Spielern hinterher, die niedergeschlagen durch den Tunnel in die Kabinen entschwanden.
"Er klang aber nicht sehr freundlich", meinte Lothar.
Im Hintergrund humpelten Golz und Bednarz mit Wolkow auf den Schultern am Spielfeldrand entlang, während die anderen noch immer erschöpft und erschlagen im Gras saßen.
"Die Prawda wird ihn zerreißen." Admiral Rheinhardt verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust. "Und Berija wird ihn wahrscheinlich direkt danach in einen namenlosen Gulag werfen."
"Aber wieso lacht er dann?"
***
Königsberg-Mittelhufen, Walter-Simon-Stadion
Der Oberst und der Admiral saßen noch auf der Trainerbank, als der verregnete Tag damit begann, sich auf sein Nachtlager zu begeben und starrten auf das leere Fußballfeld. Die Begeisterung hatte sich zum Feiern aus dem Stadion verabschiedet, Die Ränge und Plätze der Tribünen und Kurven waren leer und versanken langsam in der aufkommenden Dunkelheit.
Der Oberst saß links mit der angeschnittenen Zigarre, und der Admiral rechts hatte seine Pfeife wieder hervorgekramt.
"Also war das ganze Spiel nur ein Ablenkungsmanöver?", fragte Lothar und hielt sich das Feuerzeug an die Zigarrenspitze, zog kräftig und atmete den Rauch ein - dann hustete er ihn genauso schnell wieder aus.
"Ver-damm-mt!", röchelte er. "Ein-Kraut ..."
"Nicht so", murrte der Admiral. "Paffen, Krieger - nicht einatmen!"
Lothar nickte nur und versuchte es noch einmal. Schließlich stiegen feine Kringel aus seinem Mund in den Himmel hinauf.
"Winston hätte Sie zur Minna gemacht!", rief Rheinhardt und lachte. "Seien Sie froh, dass er als Premierminister noch andere Sorgen hat."
Lothar schaute den Befehlshaber von der Seite an.
"Beantworten Sie die Frage, Admiral."
Schweigendes Paffen, dann schwebten mehrere Kringel von der Trainerbank empor und verloren sich auf dem Platz.
"Die Roten und die Polen stecken unter einer Decke", sagte er schließlich. "Misstrauisch wurde ich, als Wiedemann mir die Photos der Schiffe zeigte, die sich angeblich selbst beschossen hatten - denn diese lagen einige Tage vorher noch abgerüstet oben in Finnland."
"Ist das Ihre Antwort?"
"Nein." Der Admiral schmunzelte. "Ich hole nur weiter aus, verstanden?"
Lothar nickte.
"Nun gut", sagte Rheinhardt. "Für die Russen ist diese Stadt ungeheuer wertvoll. Der eisfreie Zugang zur See, das Haff als Liegeplatz der Baltischen Flotte. Und sie wissen, dass diese Sonderzone praktisch die Eier des Westens sind - ein fester Griff und es tut weh. Salopp formuliert." Er paffte an seiner Pfeife. "Aber sie wissen auch, dass wir bei einer Blockade mit massiver Vergeltung antworten werden, daher brauchten sie jemanden, den wir nicht so ohne Weiteres in die Steinzeit zurück bombardieren können. Ein nicht-kommunistisches Land. Der Völkerbund hätte der NATO wortwörtlich die Hammelbeine langgezogen."
"Und dann?"
"Ich musste an das Rätsel denken, dass man Major Koper aus Namibia geschickt hatte - wie lange ist das jetzt her, Krieger? 18 Jahre?"
Lothar seufzte erst und nickte dann.
"Ja ...", sagte er. "Mein Sohn wurde geboren und ich war nicht da ..."
"Es war mir sofort klar, dass der alte Hendrik Wittbooi die Zukunft beschrieben hatte und mit diesem Rätsel dem Major die Lösung für das noch kommende Problem mit auf den Weg gab."
"Inwiefern?"
Der Admiral lachte.
"1. Buch Samuel, Vers 17 handelt von David und Goliath - schauen Sie sich um. Königsberg ist so klein wie David es einst war. Und das weite Land der Russen ist Goliath."
Lothar starrte ihn verblüfft an, als Rheinhardt fortfuhr.
"Der Zettel mit der Taschenuhr und der Uhrzeit: 08:19 Uhr. Und dem Zusatz 'Noch fünf Minuten!' - Das sind die Einheiten hier. Landsturmregiment 8, die Italiener mit der Nummer 10. Und sie, Lothar, die 54 ergibt eine 9. Und die fünf Minuten als Dringlichkeit, sozusagen Fünf vor Zwölf."
"Und das Daumenkino?"
"Das X war sehr wichtig - und das Strichmännchen mit dem Wort Leben. Das X-Verfahren, zusammen mit der Funkübertragung die einzige Möglichkeit, wie gerade die wichtigen Flugzeuge der ersten Welle ungehindert hierher kommen konnten." Rheinhardt lachte. "Am Anfang planten wir die Luftbrücke mit Hubschraubern, aber das wäre erstens zu gefährlich geworden und zweitens hätten die Maschinen nicht soviel tragen können."
"Das die Dakotas mit den wichtigsten Arzneien und Lebensmitteln auf dem Holsteiner Damm landen - von mir aus. Aber warum die waghalsige Aktion mit den Transportern?"
Rheinhardt schaute in den Himmel.
"Wir haben kein schweres Baugerät hier, Oberst. Das haben die Transporter hierher gebracht. Und in 90 Tagen - wenn alles gut geht - wird Königsberg einen Flughafen haben und nicht länger allein auf die Seeverbindung angewiesen sein."
"Aber der Waffenstillstandsvertrag ..."
Der Admiral schüttelte den Kopf.
"Die Maschinen wurden direkt nach der Landung zerlegt. Die Motoren abgenommen, die Tragflächen abmontiert undsoweiter. Das Material wird beim Bau Verwendung finden, die Rümpfe selbst als Lagerraum, Unterkunft oder Arbeitsraum." Er seufzte zufrieden. "Somit ist der Vertrag erfüllt: keine Luftfahrzeuge auf diesem Grund und Boden. Nur Schrott, wenn man so will."
"Und die Jäger auf dem Träger?"
Rheinhardt lachte.
"Die Graf Zeppelin gehört dem VfB - nicht der Reichsmarine, Oberst."
"Sie scheinen wirklich an alles gedacht zu haben."
Der Admiral grinste zufrieden.
"Der perfekte Plan - und jetzt wo die 8. US-Flotte aus Japan hier ist, werden die Russen definitiv nichts mehr unternehmen!"
Der Oberst nickte nur, während sie schweigend weiter pafften. Schließlich meinte er:
"Wir haben Ihnen damals aber nicht alles über dieses Rätsel gesagt, Admiral."
"Bitte was?"
Lothar nickte.
"Es stimmt, was Sie gesagt haben - nur wissen Sie nicht, dass die Zettel und das Daumenkino nummeriert waren." Der Oberst beugte sich zum Admiral. "Es fehlen nämlich noch welche!"
***
Kurz nach Mitternacht ...
7.500 Kilometer weiter östlich ...
Eine Halbinsel nahe der machtlosen japanischen Inseln. Der 38. Breitengrad zog sich wie ein Schnitt quer durchs ganze Land.
Nördlich davon schauten Offiziere auf ihre Uhren, dann schossen sie mit ihren Pistolen in die Luft.
Niemand mehr da, der sich ihnen in den Weg stellen konnte.
Der Angriff begann ...
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RE: Countdown
1969: Phönixfeuer
Teil 1: Brandbeschleuniger
"Ich komm' schon klar. Ihr werdet hier mehr gebraucht."
Sie sah den nervösen Blick der Freundin, über die Schulter, hin zu der Brigade Schutzmänner, deren makellose Uniformen sich im Gleichschritt an ihnen vorbei vom Bahnsteig entfernten.
"Adrett. Fehlt nur noch ein Aufnäher mit der Aufschrift 'Es lebe die Diktatur'", meinte sie mit einem bissigen Lächeln, dem Blick folgend, und fiel Gudrun dann doch noch um den Hals, während es für deren Freund nur bei einem Nicken blieb. Von den dunklen Augen ging etwas aus, das sie auf Abstand hielt, so sehr sie ihn im Dienst der Sache auch schätzte, die Kompromisslosigkeit in seinem Handeln und Denken.
"Passt auf euch auf."
Sie wusste, dass es das Richtige war, und doch schnürte sich ihre Kehle zusammen. Vielleicht waren es die verdammten Hormone, genauso wie bei der ersten Schwangerschaft, denn sonst kannte sie sich selbst nicht als sentimental. Sie war ein Kopfmensch. Und tat, was getan werden musste. Doch sie wusste auch, dass sie kämpften wie David gegen Goliath - mit Plakaten und Pamphleten kam man nicht gegen Wasserwerfer und Tränengas an, das hatte sich in den letzten Tagen nur zu oft gezeigt. Gudrun versteckte die blauen Flecken und genähten Risse auf ihren Armen nicht, ganz bewusst, und sie sah, wie misstrauisch die DB-Sicherheit die hübsche Blondine beobachtete. Berlin war ein heißes Pflaster geworden - nicht nur auf dem Alexanderplatz.
"Auf Gleis 12 fährt ein: InterCity 14 nach Duisburg über Potsdam, Magdeburg, Münster, planmäßige Abfahrt 13:43, bitte Vorsicht bei der Einfahrt."
Sie drehte sich nicht mehr nach den Freunden um, die auch schon in der Menge verschwunden waren. Stattdessen strebte sie zu einem Platz, holte hastig den zerfledderten Block hervor und begann zu schreiben.
Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht.
...
*
Ihr erster Weg hatte sie zu den Aaseewiesen geführt, dort, wo die Studentenmassen jeden Tag größer wurden. Er gefiel ihr sehr, dieser Stützpunkt der Proteste in der ganzen Stadt direkt vor den Augen derer, die sie so gern provokativ als establishment bezeichnete, vor den Nasen all der zufriedenen Bürger, die sich in den gehobenen Lokalen des Ufers die Wampen vollschlugen und sich in einer heilen Welt wähnten. Biedermeier-Ästhetik und Flanieren unter den Bogengängen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, auf wie vielen Leichen das alles erbaut war - dafür hatte sie das Städtchen schon damals gehasst. Und doch war sie zurückgekommen - denn jetzt hatte sich der Wind gedreht.
Unwillkürlich legte sich ihre Hand auf ihren Bauch. Manchmal bildete sie sich ein, es würde sich bewegen.
Ja, sie war zurückgekommen. Nichts ging über alte Kontakte.
Leichte Dunstschwaden am Ufer, hinter den stehenden Grüppchen wurden rauchende Kreise von Menschen sichtbar, die sich auf dicke Decken gesetzt hatten. Es war kalt, und trotzdem konnte sie noch immer Frauen ausmachen, die in Minirock und Top ihren heißen Punsch hinunterschütteten und die Westfälischen Nachrichten schon vor Wochen zu aufgebrachten Artikeln über Sittenverfall animiert hatten. Sie hatte gemeinsam mit Gudrun darüber gelacht, der Artikel hing nun neben anderen in deren Berliner Wohnung. Ein Drecksloch, aber die Pressewand war sehenswert...
"Ulrike!"
Die alten Freunde hatten sie erkannt und nach der lauten Begrüßung hörte sie um sich spontanen Applaus, als habe sie mit ihrer Anwesenheit hier irgendetwas erreicht. Es freute sie nicht, im Gegenteil - am liebsten hätte sie ihnen entgegengerufen, sie sollten mal selbst etwas bewegen, anstatt blind Menschen zuzujubeln, wie sie es immer schon getan hatten, egal wer vorne stand.
"Wie ist die Lage in Berlin? Gibt die Polizei endlich nach?"
"Was können wir für die Leute tun, die jetzt in Haft sind? Ihr habt damit doch Erfahrung."
Eigentlich waren andere Sorgen in ihrem Kopf gerade viel präsenter, doch die Fragen und Sorgen der Umstehenden ließen sie wieder entflammen, löschten alles andere aus ihrem Gedächtnis.
"Wann wurde hier denn verhaftet? Ich dachte, die hätten die Randalierer aus dem Hafenviertel nicht bekommen..."
Noch fuhr die Polizei hier einen Deeskalationskurs, wollte mit "Vernunft" kleinreden, was nicht mehr aufzuhalten war. Hier war noch nicht auf Demonstranten eingeprügelt worden, hatte es noch keine offenen Auseinandersetzungen gegeben - noch nicht.
"Die haben das letzte SDS - Treffen hochgenommen und alle wegen Volksverhetzung eingebuchtet. Ein paar von den SPDlern hat es auch noch erwischt - die wollen denen den Prozess machen. Unser Anwalt sagt, dass er nichts machen kann... Aber die können die doch nicht so einfach verurteilen - oder?"
Sie hätte gerne in einem Staat gelebt, in dem sie dazu "Nein" sagen könnte.
*
Das Glockenspiel der Herz-Jesu-Kirche war noch nie das schönste der Stadt gewesen, und an diesem Abend schien es eine derart durchdringende Anklage zu läuten, dass Ulrike innehielt, die Hand wieder auf ihrem Bauch, in ihren Augen die Ahnung kommender Schuld.
"Vergib mir, aber es geht nicht anders. Nicht jetzt."
Ihre Schritte wurden ein wenig kürzer, während sie durch einen Schleichweg eine der traurigsten Straßen erreichte, die sie kannte. Stille, austauschbare Häuser lehnten sich leicht modernd aneinander und atmeten diesen Hauch von Gutbürgerlichkeit aus, bei dem sich ihre Nackenhaare sträubten. Nie gewaschene Spitze verdeckte Zimmer, die ihre Insassen zu erdrücken schienen. Noch eine Gasse zwischen zwei Häusern, deren schimmelnde Novemberwände ihren Mantel verschmutzten, ein Hinterhof, dann die Treppe, an der Gottfried sie empfing. Sein Gesicht hatte sie niemals als sonderlich einprägsam erlebt, aber seine warmen, fleischigen Hände, die kaum ihre Geschicklichkeit vermuten ließen, die kannte sie noch immer.
Damals, während ihrer Zeit hier, hatte er Medizin studiert.
"Dann wollen wir mal. Es geht schnell vorbei, keine Sorge. Aber Ulrike, du weißt von den Risiken, ich habe dich gewarnt."
Sie nickte nur und folgte ihm in den schmuddeligen Keller, in dem er verzweifelten Frauen das heranwachsende Leben aus ihrem Leib schabte.
Er verdiente gut daran. Und machte sich strafbar.
*
Ächzend schleppten die beiden Männer die verpackte Leiche der Frau, deren Artikel auf Plakaten und Flugblättern die Stadt geradezu zu pflastern schienen. Wagner schwitzte und hatte wieder dieses untrügliche Gefühl, das ihn manchmal veranlasste, bestimmte Wirtshäuser zu meiden oder den Kassler seiner Frau auf dem Teller zu belassen.
Ihm war klar: Es würde einen Aufruhr geben. Die Frage war nur, wer als Schuldiger dienen würde - Wagner wollte es nicht sein.
Die Nacht war schöner als gedacht, nicht regnerisch und zudem klar, trotzdem lag die Straße verlassen vor ihnen, während fernes Gejohle aus den Kneipen am Hafen sie gemahnte, wie der Wind stand.
"Los, hier neben die Bank - und dann endlich weg hier. Ich will mit der Alten nichts mehr am Hut haben."
Schallbruchs gehisste Anweisung hatte etwas Panisches und Wagner gehorchte. Unsanft setzten sie den Leichnam auf einer Scholle halbgeschmolzenen Eises ab, als würden sie ein bisschen Hausrat deponieren, und verschwanden dann mit rasenden Herzen in der Seitenstraße, die sie vor immerwachen Blicken hinter Spitzengardinen schützte.
"Hah, die werden erstmal damit zu tun haben, die Studenten zu besänftigen. Sind ja jetzt schon in der Schusslinie...zu Recht. Scheiß Bullerei."
Fast lächelnd, aber ebenso mitleidvoll blickte Wagner auf die erleuchteten Fenster der Hauptwache, die sowohl Schmähschriften als auch eingeschlagene Fenster zu verzeichnen hatte. Blaue Müllsäcke deckten provisorisch ab, was ohnehin jeder sah - die Demütigung der Staatsgewalt.
Und das schon ohne Ulrike Meinhofs Leiche zwei Querstraßen weiter.
Teil 2: Sonntagskinder
"Omama! Omama!"
Ein helles Klingeln erfüllte den warmen Verkaufsraum, zweimal laut und intensiv, dann einmal langsamer, ein bisschen müde, ebenso wie die dritte Besucherin, die ihren beiden Jungen kaum hinterherkam.
"Mama hat gesagt, du hast Frankfurter Kranz gebacken!"
Mit erwartungsvollen Augen blickte Ariberth den Tresen hinauf, hinter dem er seine Großmutter mehr vermutete, als wirklich erkennen konnte. Sein kleiner Bruder klebte währenddessen mit beiden Händen sowie Gesicht vor der gläsernen Barriere, die ihn von den Köstlichkeiten trennte.
"Ariberth, wenn du..."
Doch bevor seine Mutter zu Wort gekommen war, hatte der Kleine sich schon seinen Weg um den Tresen gebahnt und hing an der Schürze seiner Großmutter, unruhig auf und ab springend, während diese mit großer Gelassenheit und einiger Müdigkeit auf den Schultern erst hinunter in die runden, braunen Augen, die fast immer unternehmungslustig glitzerten, dann kurz zu ihrer Schwiegertochter schaute und mild lächelnd den Kopf schüttelte.
"Du bist mir ein kleiner Pirat... nicht immer so ungestüm!"
Wirklich böse wirkte das nicht, auch wenn etwas großmütterliche Autorität nicht zu überhören war - woraufhin Ariberth sich darauf verlegte, das Aussehen eines treuen, sehr hungrigen Cockerspaniels anzunehmen.
"Ich habe Frakfurter Kranz gebacken, da hast du recht", fügte sie dann schmunzelnd hinzu.
"Wir wollen Kranz!", fiel der kleinere der beiden Brüder ihr fast ins Wort, sein Ton einem Vierjährigen völlig angemessen und mit einem so unverschämten, vollkommen unschuldigen Grinsen unterstrichen, dass beide Frauen anfingen, zu lachen.
"Ludsche, immer machst du alles falsch!"
Ariberths wehleidige Stimme verstärkte das Gelächter noch ein wenig.
"Ludger, wir haben doch geübt, ordentlich 'Bitte' zu sagen. Und Ariberth, sei doch nicht so gemein zu deinem kleinen Bruder"
Bevor die Jungen noch einen ernsthaften Streit anfingen oder weinten, hatte die Oma schon beide eingesammelt und in den Arm genommen.
"Wenn ihr brav seid, dann trinken wir heute Nachmittag alle gemeinsam Kaffee und essen Frankfurter Kranz, ja?"
Ein kleiner Jubelsturm, dann wirbelten die Kleinen schon wieder hinaus in den sonnigen Vormittag, was ihrer Mutter einen leichten Seufzer entlockte.
"Luise, lass die beiden doch ein wenig dem Opa und Joseph im Garten helfen - obwohl, vermutlich schrauben sie wieder an Lothars Spielzeug, aber so oder so, die kriegen die Jungs schon müde."
Annemaries Blick auf die Schwiegertochter war wohlwollend, während sie in den kleinen, lichtdurchfluteten Verkaufsraum trat und sich neben sie stellte. Beide schauten hinaus auf die Straße, auf der die Nachbarskinder wie jeden Sonntag nach der Kirche Fußball spielten, die Sonntagskleider entweder gegen altes Zeug getauscht oder recht verdreckt.
"Läuft das Geschäft?"
"An Sonntagen immer."
Annemarie lächelte weiter, doch ihr leiser Seufzer blieb der Jüngeren nicht verborgen.
"Ich kann bald wieder mehr mitarbeiten, es dauert ja nicht mehr lange, bis Ariberth in die Schule kommt."
"Mach dir keine Sorgen, Luise. Für uns beide hinter der Theke ist unser kleines Lädchen ohnehin zu eng."
Luise antwortete nicht, ihre Augen folgten dem braunen Lockenkopf ihres Ältesten über das Straßenspielfeld, ein bisschen Stolz spiegelte sich in ihrem Gesicht, neben dem Unmut, den verdreckte Sonntagskinder nun einmal auslösen mussten.
"Hier, nimm das mit raus zu den Bengels, die kriegen gleich sicher Hunger."
Luise nahm die Tüte, deren Aufschrift "Bäckerei Krieger" in schwarzen Lettern auf blauem Grund prangte.
Es klingelte wieder.
*
"Das, Jungs, ist die Zündkerze."
In den grauen Strähnen klebte ein bisschen Ruß, und um die Augen hatten sich so einige Fältchen gebildet, doch die Begeisterung und das wache Glitzern in Lothars Augen standen denen seiner Enkel in nichts nach. Tief über den offenen Motorraum gebeugt wischte er sich den Schweiß aus der Stirn, den die Sonne des frühen Sommers auf seine Stirn getrieben hatte. Ariberth versuchte neben ihm, sich an dem Wanderer 1600 A hochzuziehen, um besser zu sehen. Ludger dagegen saß neben dem Reifen auf den Pflastersteinen, hatten den Kopf gegen den silbergrauen Lack des Kotflügels gelehnt und linste fast sehnsüchtig in Richtung der Fußballer, die ihn schon eben nicht hatten mitspielen lassen.
"Opa, bitte bitte, fahren wir gleich mal?"
Der Größere streichelte das Auto, als sei es ein Haustier, während Lothar als Antwort ein wenig grummelte und doch lächeln musste.
"Aber wohin denn?"
"Zum Pregel! Und dann gehen wir schwimmen!"
Ludger wurde hellhörig.
"Jaaaa! Opaopaopaopa! Schimmen!"
Das W wollte ihm noch nicht recht gelingen, aber dieses Mal lachte ihn der große Bruder nicht aus, sondern hüpfte nur begeistert um seinen Großvater herum, der sich aufrichtete und halb amüsiert, halb verärgert den Kopf schüttelte.
"Wo nehmen die beiden nur die Energie her?"
Auch Luise schüttelte den Kopf, während Hendrik vom Küchentisch aufstand und zu ihr ans Fenster trat. Von dort aus konnte man die Einfahrt genauso wie einen Teil der Straße überblicken, ein Umstand, der für die Erwachsenen des Hauses immer mehr zum Vorteil wurde.
"Das sind halt echte Krieger", verkündete Hendrik nicht ohne Stolz, und wurde prompt von seiner Frau ausgelacht.
"Jaja, echte Krieger... wollen wir mal sehen, wie sich der erste echte Krieger schlägt, wenn's in der Schule stillsitzen heißt."
"Ach, mach dir nicht wieder Sorgen - dumm sind die beiden nicht."
Sie lächelte und öffnete die Schleife ihrer Schürze. Der Tag war wunderschön, Rasen und Bäume leuchteten noch in dem hellen, frischen Grün des Frühlings.
"Ach, lass doch das Radio. Gehen wir raus und bringen den Kindern schonend bei, dass es heute statt Ausfahrt und Schwimmen 'nur' beim Familienkaffee bleiben wird."
Hendrik wurde fast ärgerlich, während er an den Knöpfen des alten Radios herumdrehte und schließlich - seine Frau nicht beachtend - die Stimme des Radiosprechers zum Leben erweckte.
Die vertikalen Falten zwischen seinen Brauen wurden immer tiefer, während er den Nachrichten zuhörte.
"Proteste, Proteste. Und das für nichts und wieder nichts. Was wollen die denn, den Staat vollkommen zersetzen? Wieder Krieg?"
"Nun reg dich nicht wieder auf - die Regierung bekommt das in den Griff, das sagst du doch selbst immer. Aber meinst du nicht auch, dass es längst überfällig war? Franco, Mussolini - wir haben uns die nun lang genug angeguckt, ohne Partei für das Richtige zu ergreifen."
Hendrik schaute seine Frau an, fast wütend.
"Jetzt fängst du auch noch an. Das ist doch alles nur Vorwand - für irgendwelche Spinner und Esoteriker und wilde Verschwörungstheorien um Uranwaffen..."
"Vieles ist Unfug. Aber einiges ist auch wahr. Ich fühle mich auch nicht wohl dabei, wenn ich daran denke, dass da Uranwaffen auf Abruf bereit stehen - und nicht mal in der Kontrolle Deutschlands. Und der Skandal mit den Kinderheimen, das hat dich doch genauso mitgenommen!"
"Das macht aber kein Protestzug und kein verprügelter Polizist wieder rückgängig!"
Seine Stimme wurde lauter, dann verstummte er. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führten - möglichst außerhalb der Hörweite von Hendriks Eltern.
"Dich wurmt doch nur der Frauenprotest. Und DER war seit den Fünfzigern längst überfällig."
Mit diesen Worten verließ Luise die Küche - Hendrik blieb noch einen Moment dort, zählte die weiß-beigen Schachquadrate der Fliesen und versuchte, sich nicht zu sehr zu ärgern. Schließlich war Sonntag.
Und eigentlich waren sie ja ganz ähnlicher Meinung
*
Die Sonne stand schon tief am Himmel und selbst die beiden Kinder bewegten sich nach dem Kaffee eher träge auf dem Weg am Ufer des Pregels entlang. Die Häuser und Kirchen der Altstadt standen in einiger Entfernung, dazwischen die hässlichen Neubauten der Nachkriegszeit, meist hoch hinaufragend wie einzelne Getreidepflanzen in einer Brachwiese.
Die Männer rauchten, Hendrik ging neben seinem Vater und schwieg, während Luise die Jungen an die Hand nahm. Oma Annemarie war mit Joseph zuhause geblieben.
"Sie schläft schlecht. Albträume. Kein Wunder, wenn man sich die Nachrichten anschaut", hatte Lothar gemurmelt, als sie das Haus verlassen hatten.
"Bleibt es bei nächstem Samstag, VfB?"
Lothar nickte und drehte den Zigarrenstummel zwischen den Fingern, Hendrik zog an seiner Zigarette.
"Wie erträgst du diese Dinger bloß?"
Luise musste lächeln und vermutlich sah ihr Mann das, während er einen leicht säuerlichen Seitenblick auf seinen Vater warf.
Die Abende kühlten sich schnell ab, ein leichter Wind zog über den Fluss, und sie kehrten recht schnell wieder in Richtung Wagen um, den sie nach langem Bitten und Betteln der Kinder tatsächlich genommen hatten. Lothar war einen ziemlichen Umweg gefahren, ohne es zugeben zu wollen, und schien schon ganz mit dem Gefährt verschmolzen, das er erst seit drei Wochen sein eigen nannte. Dass es vor dem Spaziergang am leicht schmutzigen Straßenrand abgestellt werden musste, hatte so einiges Grummeln seinerseits zur Folge gehabt.
"Schau, was für prächtige Hunde."
Luise hatte sich bei Hendrik eingehakt, zeigte nun auf einen alten Mann, in dessen Umkreis sich zwei schneeweiße Samojeden bewegten.
"Ludger! Hierbleiben!"
Auch der Kleinste hatte die Hunde entdeckt und rannte nun praktisch genauso schnell auf sie zu, wie diese näherkamen, wohl etwas unschlüssig, wie sie auf das kleine Kind reagieren sollte.
"Die tun nichts!"
Wirklich beruhigend klang der Ruf des Besitzers nicht - doch als die Mutter Ludger erreicht hatte, hing dieser ohnehin schon im Fell des einen Hundes und versuchte, ihn ungeschickt zu streicheln, was dieser mit wachsender Skepsis über sich ergehen ließ.
"Ludger! Lass sofort den Hund los und komm zu mir!"
Hendrik und Lothar folgten mit einigem Abstand, beide schmunzelnd.
"Weibsleute. Der bringt ihn schon nicht um."
Trotzdem hatte Hendrik sich Ariberth geschnappt und trug diesen nun auf den Schultern, wo er fortwährend darüber klagte, auch zu den Hunden zu wollen.
"Immer darf Ludger alles und ich nicht!", war das leise schluchzende Ende vom Lied.
Natürlich hatte Ludger den Hund nicht losgelassen. In Tränen aufgelöst saß der Vierjährige auf dem Rasen und betastete sein Ärmchen, was nur zu weiteren Weinkrämpfen führte.
"Wir sollten ins Krankenhaus fahren."
Luise war blass, genauso wie Ariberth, der aus Sympathie gleich mitweinte.
"Er hat bestimmt nichts ernstes. Aber sicher ist sicher."
"Hören Sie, es tut mir furchtbar leid. Lenin hat sowas noch nie gemacht..."
Inzwischen hatte der alte Herr seine Hunde an der Leine, schaute verlegen zu der Familie. Vermutlich fürchtete er eine - durchaus angebrachte - Tirade über verantwortungslose Hundebesitzer, die ihre Bestien von der Leine ließen, ganz besonders wenn kleine Kinder in der Nähe waren.
"Allerdings sollte man sich dann wohl auch über Eltern beschweren, die ihre Kinder nicht an der Leine hatten und sie auf unschuldige Pelztiere losließen", dachte Hendrik später schmunzelnd, als die Tränen bei den Kindern schon fast wieder vergessen waren. Am Ende blieb ein blauer Fleck, und noch viel länger eine mehr oder minder amüsante Anekdote für Geburtstage, Familienfeiern und Sonntagskaffeerunden.
Teil 3: Sternenfeuer
Der Erkennungsruf des Acht-Uhr-Fernsehens verhallte fast ungehört in der halb dunklen Wohnung, in der sich das Licht der angeschalteten Lampen geradezu durch den Rauch zu quälen schien. Andreas rauchte, irgendwo im Hintergrund pinselten einige Frauen an den Plakaten, die ohnehin niemanden interessierten.
"Ganz Berlin bereitet sich auf den Staatsbesuch Francos vor. Überschattet werden die geplanten Feierlichkeiten von weiteren Ausschreitungen: Laut Polizeiberichten haben die Proteste trotz leicht sinkender Teilnehmerzahl am vergangenen Montag wieder zahlreiche Schäden und Gewalttaten zur Folge gehabt. Die Berliner Polizei meldet 16 verletzte Polizisten, davon mussten drei im Krankenhaus..."
"Kann mal jemand diesen verlogenen Scheißdreck ausschalten?"
Er übertönte die Stimme des alten Mannes im Flimmerkasten ohne Probleme, leichtes Gekicher in der Kücher verstummte.
"Entspann dich doch."
Gudrun legte ihm die Hand auf die Schulter, aber er schüttelte sie ab.
"Entspannen? Die machen Hetze gegen uns - und wer spricht von unseren Verletzten? Von unseren Leuten, die jetzt in irgendwelchen Zellen hocken und von der Polizei ganz legal gefoltert werden? Und die wird auch kein verficktes Plakat da rausholen!"
Sein Blut pulsierte wild in seinen Adern, geladen knüllte er eines der frischen Banner zusammen.
"Die rollen einem wie Franco hier den roten Teppich aus - denen ist das doch scheißegal. Völkermord, Folter, Kinderschändung - wissen die doch alles, interessiert die nicht. Was laufen wir da eigentlich noch rum und machen uns zur laufenden Zielscheibe?!"
*
Motorengeheul, Pferdewiehern. Wieder Berittene.
"Keine Atomwaffen in Deutschland!"
Rufe, Schreie in der Ferne.
"Frauen haben auch Rechte!"
Wasserwerfer und Tränengas.
"Keine Gnade für Verbrecher - Franco raus!"
Erste Steine, Fäuste, Glasscherben. Rauchbomben. Feuer in den Straßen, wieder.
"Tod der Diktatur!"
Ganz nah ein Schuss, dann noch einer.
Wieder welche, um die Zellen zu füllen.
"In the year 2525
If man is still alive
If woman can survive
They may find
In the year 3535
Ain't gonna need to tell the truth, tell no lies
Everything you think, do, and say
Is in the pill you took today
..."
Eine leicht eigenwillige Stimme, die herausstach - allerdings hätte es die nicht gebraucht, um Aufsehen zu erregen. Englisch klang für die meisten noch immer fremd, geradezu bedrohlich, selbst für diejenigen, die hier über das establishment schimpften.
Er hatte Bart, die dunklen Haare waren inzwischen länger, und seine Eltern hätten ihn am liebsten im Friseurstuhl festgebunden, doch er war kein Kind mehr. Nun saß er im Kreis, um ihn rauchten, tranken und sangen sie mit, irgendwann. Die abgegriffene Gitarre in seinen Händen ächzte ein wenig, schon wieder das gleiche Lied, schon wieder ein anderer Platz, bevor die Polizei ihnen nachkam.
Es dämmerte leicht, Rauch lag über der Nebenstraße, und er sah Andreas und Gudrun erst sehr spät.
" Jan! Wir müssen reden."
Der Gesang brach ab und er ließ sich mitziehen, die Gesichter des Pärchens voll von besorgniserregender Wut.
"Die haben Rudi erschossen, Rudi Dutschke. Heute Nachmittag. Erinnerst du dich noch an ihn?"
"Diese verdammten Faschisten..."
Sie sahen sich an, schauten sich um. Kurzes Schweigen.
"Früher oder später sterben noch mehr."
"Ihr wisst, das das heißt - Die wollen Krieg. Und wir können das nicht weiter hinnehmen."
*
"...setzt die Landefähre LK erfolgreich zur Landung an."
Selbst die langatmige Expertendiskussion konnte keinen vom Fernseher vertreiben, die beiden Jungen auf dem Teppich ver dem Gerät, hinter ihnen auf den Sitzmöbeln Eltern und Großeltern. Oma Annemarie waren die Augen zugefallen, während Joseph wie immer mit gewisser Restskepsis auf die Flimmerscheibe blickte.
Seit die Mondlandung angekündigt worden war, hatten sie alle sehnsüchtig auf die Übertragung gewartet - zwei Mal hatte der Termin sich wegen der Wetterverhältnisse verschoben. Während zwei Kosmosforscher nun die Probleme um den Start des LOK-Mondorbitalraumschiffs diskutierten, stand Lothar auf. Trotz aller Vorfreude und Spannung, er war unruhig. Kurz schaute er zu seiner schlafenden Frau, dann verließ er das Wohnzimmer, ging die Treppe hinauf und blieb im halbdunklen Flur vor ihrem Schlafzimmer stehen. Hier war die Luft kühler, kein Fernsehgerät flimmerte unentwegt vor sich hin, Stille umfing ihn.
Mit langsamen Bewegungen holte er die Brieftasche hervor, in der er die vergilbten Zettel aufbewahrte - sinnlos, eigentlich, denn er kannte jede Spitze der Kurrentschrift wie seine eigene Unterschrift. Tief in Gedanken blätterte er durch das Papier, zuoberst die beiden neusten Zettel.
"Nur Feuer bringt kühlenden Frieden", las er leise, die Stirn in Falten gezogen. War es dieser Satz, der ihn so unruhig machte?
"Und: 'Vorsicht vor dem Meer der Ruhe.' - es wird sich bewahrheiten, nicht wahr?"
Er seufzte leise. In seinem Kopf die Bilder der Zeitungen, die Proteste, die Aufrüstung. Vielleicht war die Mondlandung ja nur der nächste Schritt.
"Nur Feuer...muss es Krieg sein?"
Er verharrte kurz, dann stieg er die Treppe hinab, setzte sich in den gewohnten Sessel, nickte Joseph kurz zu.
"Wir hören nun German Stepanowitsch Titow in Echtzeit von der Mondoberfläche."
Ein leise rauschendes und knackendes Signal war zu hören, darüber eine hastige Sofortübersetzung.
"Das ist er, der große Schritt zur Eroberung des Weltalls. Nicht nur für die große sozialistische Gemeinschaft, sondern für alle Völker der Welt, für Fortschritt, Frieden, Wohlstand."
Dann wurde der Jubel eingespielt, in Moskau, bei den restlichen Kosmonauten, in Berlin, und auch in der fernen Innenstadt ließen sich Hupen vernehmen, als habe der VfB gerade das Endspiel erreicht.
"Meine Damen und Herren, das war die Mondlandung. Ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit."
Mit einem leisen Knacken erstarb der Fernseher für diesen Tag, Lothar und Hendrik streckten sich fast simultan ein wenig, während Ariberth noch immer gebannt auf den Bildschirm starrte. Erst nach einigen Augenblicken war er wieder in der Wirklichkeit angekommen, wandte sich dann mit vor Begeisterung glitzernden Augen zu Hendrik.
"Ich werde Kosmonaut."
Geschreibselerinnerungshilfe
--- öffne die tür dem nein // sollen die vögel doch fliegen ---
--- Le Clézio ---
When I was 5 years old, my mother always told me that happiness was the key to life. When I went to school, they asked me what I wanted to be when I grew up. I wrote down ‘ happy.’ They told me I didn’t understand the assignment, and I told them they didn’t understand life.
- John Lennon -
06-01-2012, 19:57
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 06-01-2012, 20:00 von Lilly.)
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RE: Countdown
(1978) Aus tiefstem Herzen
1.
„Ludger!“
Ein beständiges Rütteln an seinem linken Arm. Der Junge gab einen protestierenden Laut von sich und drehte sich um, zur Wand. Schnell, zurück zu …
… der Pass erreichte ihn, als wäre er nur für ihn gemacht. Das war seine Chance! Er, Ludger Krieger, würde seiner Mannschaft zum Sieg verhelfen. Nur noch ein einziger entscheidender Schuss. Jetzt! Er trat kräftig zu und -
„Ludger! Ludsche! Jetzt wach doch endlich auf!“ Ungnädig wurde ihm die Decke weggerissen. Mit schlaftrunkener Unbeholfenheit schrak Ludger auf und fuhr herum, versuchte, den Störenfried, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht an seiner Bettkante hockte, zu fixieren. „Aber nur noch der eine Pass zum Sieg ...“, murmelte er.
Ariberth runzelte die Stirn. „Du kannst auch an nichts anderes mehr denken als diese olle Weltmeisterschaft, oder? Wahrscheinlich wünschst du dich direkt ins Aztekenstadion. Fußball ist doch ...“
„ 'Fußball verändert die Welt'“, unterbrach Ludger ihn würdevoll. Ariberth verdrehte nur die Augen, ohne den oft zitierten Ausspruch einer Antwort zu würdigen.
Ludger setzte sich gerade hin und schwang die sommergebräunten Beine aus dem Bett. „Warum weckst du mich eigentlich so früh?“
Ariberth sprang auf und setzte sich neben seinen jüngeren Bruder. Wie üblich stand ihm das dunkelbraune, gelockte Haar nach allen Seiten vom Kopf ab, als hätte er in eine Steckdose gegriffen. Seine dunklen Augen funkelten, als hätte er gerade die Idee seines Lebens gehabt – was nicht selten vorkam, denn Ariberth war leicht zu entflammen – verglomm allerdings ebenso schnell wieder, wenn etwas Neues seine Begeisterung packte.
Ludger empfand es oft als anstrengend, an der Seite seines ungestümen Bruders zu leben. Andererseits liebte er ihn innig und hätte ihn gegen keinen anderen Bruder der Welt eintauschen mögen. Ariberths Herz war so groß wie seine Begeisterungsfähigkeit, nur dass ersteres niemals leichtfertig erlosch. Die beiden Jungen waren trotz ihrer Unterschiedlichkeit ein Herz und eine Seele – zumindest, seitdem sie in ein gewisses Alter gekommen waren. Aus Erzählungen wusste Ludger, dass die „Bengels“ im Kleinkindalter oft wie Hund und Katze gewesen waren, was sicher zum Teil von ihren unterschiedlichen Charakteren herrührte. Doch inzwischen verstanden sie sich famos. - Meistens.
„Also?“, drängelte Ludger.
„Ich wollte, dass wir vor Mama und Papa in der Küche sind. Du hast doch nicht vergessen, was heute ist? Ich habe Mama ein paar Blumen aus dem Garten gepflückt. Du kannst den Tisch decken, ich mache Plinsen. Das fetzt!“
Ludger war bereits aufgestanden. „Ganz sicher wird Mama sich freuen.“ Er warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch. Viertel vor sieben. Das heißt, ihnen blieb mindestens noch eine Dreiviertelstunde. Vor halb acht würden die Eltern nicht aufstehen an einem Sonntagmorgen.
„Dann sputen wir uns. Ich habe einen Bärenhunger!“
***
Den „Familientag“ feierten sie nun im dritten Jahr. Dabei war der ursprüngliche Anlass keineswegs ein Grund zum Feiern gewesen. Ludger, wenn auch zu diesem Zeitpunkt erst neun, erinnerte sich noch zu gut an den schlimmen Sommer 1975. Wie seine Mama, erst strahlend und in freudiger Erwartung, jäh aus guter Hoffnung gerissen worden war und im Zuge dessen beinahe ihr eigenes Leben verloren hätte. Ludger und Ariberth hatten ihre Eltern nie vom Wunsch nach einem dritten Kind sprechen hören. Vielleicht hatte es diesen auch nie gegeben, doch das dritte Kind gab es wohl. Wenn es auch niemals das Licht der Welt erblickt hatte. Nur hinter vorgehaltener Hand wagten Ariberth und Ludger es, über die Geburt ihrer toten Schwester zu sprechen. Weshalb sie in Mamas Bauch gestorben war, dafür fand niemand die richtigen Worte für sie. „Es hat einfach nicht sollen sein“, murmelte Omama mit rotverweinten Augen, als Ludger sie schüchtern fragte, warum es hatte geschehen müssen. „Seid lieb zu eurer Mama, ihr seid jetzt alles, was sie noch hat“, hatte die Großmutter hinzugefügt und Ludger an ihre nach Kuchengewürzen duftende Schürze gedrückt.
Das Baby hatte nur um die Hälfte seiner Zeit im Bauch erlebt und war somit zu früh gestorben, um als existierender Mensch zu gelten. Nicht einmal einen Namen hatte die kleine Schwester bekommen, sodass sie Ariberth und Ludger immer fremd, wie ein sonderbarer Traum, vorgekommen war.
Was die beiden umso stärker miterlebten, war die Trauer der Mutter, die Schweigsamkeit des Vaters. Es waren schwere Wochen gewesen, für jeden von ihnen.
Bis Mama eines Morgens in die Küche, an den Frühstückstisch, gekommen war, und erst Ludger, dann Ariberth einen dicken Kuss auf die Wange gegeben hatte. „Ihr zwei seid meine Augensterne, meine größten Schätze. Ich bin sehr dankbar, euch zu haben, wisst ihr das? Wir alle werden uns heut einen wunderschönen Tag machen, einverstanden?“
Während Ludger das gute Geschirr aus der Vitrine holte, erinnerte er sich an jenen Morgen und die Erleichterung, die er verspürt hatte, als seine Mama wieder seine Mama wurde; freier von Kummer als in den dunklen Tagen und Wochen davor.
Sie hatten diesen Tag beibehalten und zu ihrem „Familientag“ gemacht. Jedes Jahr durften sich Ludger und Ariberth auf eine besonders schöne Unternehmung und vor allem viel Zeit mit den Eltern – und hin und wieder auch den Großeltern – freuen. Es war wie ein zusätzlicher Geburtstag. Und alle waren bestrebt, ihre noch junge Tradition aufrecht zu erhalten.
„Was, meinst du, werden wir heute unternehmen, Ariberth?“, fragte Ludger gedankenversunken, während er den großen Holztisch in der Mitte der großen Wohnküche mit Tellern, Untertassen und Tassen bestückte.
Ariberth, der am Holzherd stand und gerade fachmännisch Butter in der heißen Pfanne zerlaufen ließ, gab ein unschlüssiges Brummen von sich. „Vielleicht gehen wir schwimmen? Oder machen ein Picknick? Oder vielleicht fahren wir auch in die Altstadt und bummeln durch die Geschäfte. Oder essen einen großen Eisbecher! Oder -“
Luise Kriegers Stimme unterbrach ihn. „Oder möglicherweise gehen wir erst etwas schwimmen und essen dann ein großes Eis, und am Abend gibt es von den Großeltern noch eine Überraschung für euch zwei Rabauken.“
Ariberth und Ludger wandten sich gleichzeitig zur Tür und wurden des verschmitzten und liebevollen Lächelns ihrer Mutter gewahr, die nun die Küche betrat und ihre Nase in die Luft streckte und schnupperte. „Mhm, mein Lieblingsgericht“, sagte sie.
„Guten Morgen, Mama!“ Ludger stellte den letzten Teller an seinen Platz und trat zur Mutter, um ihr einen Gutenmorgenkuss zu geben. Sie legte eine ihrer kühlen Hände auf seine Wange und strich mit dem Daumen sanft darüber. „Morgen, Ludsche“, gab sie zurück und trat dann an den Herd, warf einen kurzen, prüfenden Blick in die Pfanne und küsste dann ihren ältesten Sohn auf die Wange. „Guten Morgen, mein fleißiger Koch“, lächelte sie.
„Wo ist Papa, schläft er noch?“ Ariberth wendete die Plinsen und war dabei so enthusiastisch, dass sie ihm beinahe aus der Pfanne gerutscht wären. Im letzten Augenblick tauchten die Plinsen wieder in ihren goldgelben Saft ein.
„Euer Vater kommt gleich“, versichterte Luise und half dem erst protestierenden, dann sich fügenden Ludger beim Decken des Tisches. Der zarte Hauch ihres Parfüms durchflutete die Küche, und jede ihrer Bewegungen war klar koordiniert und doch sanft und behutsam. Ludger verehrte seine Mutter, beinahe noch ein kleines bisschen mehr als seinen Vater, zu dem Ariberth den besseren Draht hatte. Doch Mama und ihn verband eine Seelenverwandtschaft, an die nichts anderes heranreichen konnte. Ludger war als kleines Kind häufig krank gewesen; oft ans Bett gefesselt, müde und ausgezehrt. Doch Mama hatte ihn stets ablenken können; wenn sie ihm eine Geschichte vorlas, ihm von den Schandtaten des um ein Jahr älteren Bruders erzählte, dem kein Abenteuer zu riskant war, oder wenn sie einfach nur an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten hatte. Ludger war von beobachtendem Charakter; zurückhaltend, ohne unfreundlich zu sein. Hielt sich gern im Hintergrund, um die Dinge zu verfolgen. Seine Mutter war ihm nicht unähnlich. Luise Krieger war der beschwichtigende Part in der Beziehung zu Ludgers und Ariberths Vater, der Anker, der das Schiff erdete.
„Ja, sind denn die Bengels tatsächlich schon wach?!“, erklang es kurz darauf von der Küchentür, als Hendrik Krieger frisch rasiert und in legèrem Freizeitanzug den großen Raum betrat, in der Hand die Hartungsche Tageszeitung, die tagtäglich vom Zeitungsjungen geliefert wurde.
„Aber klaro, Papa!“, ertönte es wie eine Stimme aus dem Mund der beiden Jungen.
„Setz dich doch, Papa“, fügte Ariberth eifrig hinzu, der sich beeilte, das Frühstück fertig zu bekommen. Nach einer Begrüßung des jüngeren Sohnes folgte Hendrik Ariberths Worten und bedeutete erst seiner Frau mit einer galanten Geste, Platz zu nehmen, um sich dann selbst zu setzen. „Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich vite die wichtigsten Schlagzeilen überfliege?“, fragte er, während er bereits die Zeitung aufschlug. Ariberth setzte eine Kanne Kaffee auf dem Herd auf. Ludger öffnete den Kühlschrank und holte die Marmelade und alles, was sonst noch zum Frühstück benötigt wurde, heraus.
„Eine Schande, diese Vereinigung“, murmelte Hendrik in seinen nicht vorhandenen Bart hinein.
Ludger wandte sich um und erblickte die Überschrift des Artikels, mit dem der Vater gerade beschäftigt war. „Auch fast ein Jahr nach Mogadischu: Keine Ruhe vor der RAF“ lauteten die Worte. Nur dunkel erinnerte sich Ludger an die ohnmächtige Wut, die sein Vater im Oktober des vergangenen Jahres verspürt hatte, als die Deutschen Halunken, wie er die Rote Armee Fraktion verächtlich nannte, eine Passagiermaschine der Lufthansa entführt und am Ende in die Luft gesprengt hatte. Keine Überlebenden. Und noch weniger Vernunft und Verstand, hatte sein Vater gesagt.
Ludger fühlte sich hier, in Königsberg, viel zu weit entfernt, um wirklich verstehen zu können, was vor sich ging. Ostpreußen hatte durch seine isolierte Lage in der Republik noch immer einen Sonderstatus inne und wirkte immer etwas außen vor, wenn es um die Angelegenheiten des Landes ging. Zwar kannten Ludger und Ariberth die alte Heimat der Familie – Meerane in Sachsen – aus unzähligen Schilderungen von Großmutter Annemarie, doch hatten sie sie nie mit eigenen Augen gesehen. Ludger störte es nicht.
In Königsberg ließ es sich gut leben. Im Winter, wenn sie auf dem Königsberger Schlossteich Schlittschuh liefen und sich ehrgeizige Wettrennen lieferten, ehe sie am Büdchen eine wunderbar heiße Schokolade zu sich nahmen; mehr noch aber im Sommer, wenn die Tage lang und hell und die Abenteuer, zu denen der große Bruder aufrief, groß waren. Ludger liebte Westfalenheim, das Viertel, in dem sie lebten, weil es noch viele unberührte Flächen gab, auf denen man sich austoben konnte, weil man Radfahren konnte, bis man keine Lust mehr hatte und weil alle seine Freunde auch hier lebten und Ariberth und ihn auf ihren Streifzügen begleiteten.
„Nun, Ludsche – wieder in Gedanken versunken?“, holte ihn die freundliche Stimme seiner Mutter in die Gegenwart zurück. Vor sich auf dem Teller fand er einen duftenden Eierkuchen. Seine Mutter hielt ihm das Quittengelee hin.
„Danke, Mama“, beeilte er sich zu sagen, ohne direkt auf ihre Frage zu antworten.
„Hendrik, leg die Zeitung zur Seite und iss, ehe es kalt wird“, ermahnte Luise ihren Gatten. „Dir bleibt noch genügend Zeit, und die Zeitung läuft sicher nicht davon. Heute ist -“ Sie brauchte nicht zu Ende zu sprechen, Hendrik hatte die Hartungsche bereits zur Seite gelegt. „Du hast ja Recht“, stimmte er ihr zu und griff nach seinem Kaffeebecher und seiner Gabel. „Nun denn, meine Jungens, hat eure Mutter euch schon verraten, wie unser Tag aussehen wird?“
„Ich meinte etwas von einem großen Eisbecher gehört zu haben, Papa“, antwortete Ariberth eifrig. Hendrik schmunzelte. „Erst die Leibesertüchtigung, dann die Belohnung, mein Sohn“, meinte er, scherzhaft mit dem Zeigefinger mahnend.
Ludger nickte ihm zu. „Bei dem Wetter muss man schwimmen gehen!“, stimmte er seinem Vater mit einem Blick aus dem Fenster zu.
Es versprach, ein herrlicher Tag zu werden. Schon seit Tagen trübte kein Wölkchen den blauen Himmel, und die nächste Schlechtwetterfront lag in weiter Ferne. Die Temperaturen bewegten sich konstant um 25 Grad Celsius und selbst der Ostwind, der den Temperaturen so manches Mal ein Schnippchen zu schlagen pflegte, hielt sich vornehm zurück. Seit dem Beginn der Sommerferien streiften die beiden Jungen beinahe täglich durchs Lomser Land und waren schon ordentlich braun geworden. „Ihr könnt bald unserem Joseph Konkurrenz machen!“, lachte Großmutter Annemarie das eine ums andere Mal.
Joseph. In diesem Sommer hatte sich der alte Freund und engste Vertraute des Großvaters eine stille Sehnsucht erfüllt und war auf einer Wanderung durch die Alpen unterwegs. „In deinem Alter!“, war es Luise Krieger beinahe entrüstet entfleucht, als sie mitsamt dem Rest der Familie vor vollendete Tatsachen gestellt worden war. Joseph durfte ob dieses Spruches zurecht beleidigt sein, fand Ludger. Der alte Mann war der sportlichste und behändeste Mensch, den der Junge kannte. Niemals hatte er einen Zweifel daran gehegt, dass Joseph nicht fähig wäre, diese Rucksackreise zu meistern. Auch Ariberth war Feuer und Flamme angesichts der Pläne gewesen und hätte ihn am liebsten begleitet. Doch Joseph Koper, auch wenn er es so deutlich nicht sagte, sehnte sich nach etwas Einsamkeit. Seit so vielen Jahren nun schon wandelte er treu an der Seite des Großvaters und der Familie.
„Die Plinsen schmecken köstlich, mein Lieber“, lobte Luise nun den älteren Sohn.
„Kunststück, Mama! Du hast sie mir beigebracht!“ Ariberth lachte. Ludger wusste, dass sich sein Bruder nicht dafür schämte, „Frauenarbeit“, wie es mancherorts genannt wurde, zu verrichten. Er hatte Interesse an so vielen verschiedenen Dingen, dass sich auch Dinge wie Kochen und Backen nicht ausschließen lassen mochten.
„Wenn das so weitergeht, wirst du uns noch damit kommen, in den Hauswirtschaftszweig deines Gynmasiums wecheln zu wollen“, zog ihn der Vater mit einem gutmütigen Zwinkern in den Augen auf.
„Selbst schuld, Papa. Deinetwegen gehen Ludger und ich auf das Friedrichs-Kollegium, und das ist nun einmal eine gemischte Schule. Du hättest uns auch auf ein reines Jungengymnasium schicken können.“ Er streckte dem Vater die Zunge heraus, eine Respektlosigkeit, die normalerweise mit einem strafenden Blick oder einer Rüge geahndet worden wäre, doch Hendrik Krieger hatte an diesem Morgen außerordentlich gute Laune, und so blieb es bei einem drohenden Fingerzeig.
„Es ist eines der besten Gymnasien der Stadt“, sagte er nur, und dem war nichts hinzuzufügen.
„Wollt ihr an diesem wunderschönen Tag tatsächlich über die Schule sprechen?“, mischte sich die Mutter ein. „Wenn ihr mit dem Essen fertig seid, zieht euch an und geht rasch hinunter, um den Großeltern Guten Morgen zu sagen. Ich werde in der Zeit unsere Sachen zusammenpacken, und dann wollen wir auch gleich losgehen. Später wird es am See doch wieder sehr voll sein.“
„Und die Überraschung?“, konnte sich Ariberth nicht verkneifen zu fragen.
„Das erfahrt ihr, wenn es soweit ist. Geduld ist eine Tugend, Ariberth.“ Mama strich ihm übers gelockte Haar. „Es wird euch gefallen“, sagte sie.
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RE: Countdown
2.
„Achtung, Ludsche!“
Der regenbogenfarbene, dick mit Luft aufgepustete Ball traf Ludger, der gemächlich auf den Rücken im Wasser schwebte, beinahe am Kopf. Instinktiv hob er die Arme und konnte ihn gerade noch fangen. Ludger drehte sich, sodass er auf dem steinigen Grund des Oberteiches zu stehen kam. „Selber Achtung!“, rief er und warf den Ball zu Ariberth zurück, der ihn geschickt fing. „Kein schlechter Wurf, Kleiner!“, brüllte er über die Meter hinweg, die sie trennten.
Während Ariberth sich dem Vater zuwandte, legte sich Ludger zurück auf den Rücken und ließ sich wieder treiben. Noch war es nicht sehr voll am im Sommer so gut besuchten Ufer der Badeanstalt, wo die Ausläufer des Fischdorfs genügend Badegäste freigaben, die sich am eigens für die Badestelle aufgeschütteten Sandstrand tummelten oder sich in die Wiesen setzten, um zu picknicken. Vor allem jetzt, im Sommer, war die Stadt voller Touristen. Das kulturelle Herz Ostpreußens hatte den Reisenden allerdings auch viel zu bieten: Nicht nur die Altstadt, wo zu regelmäßigen Zeiten Pferdekutschen zu einer Stadtführung aufriefen, luden zum Flanieren ein. Auch die zahlreichen Museen und Kunstausstellungen lockten die Besucherscharen. In den Jahren nach dem Krieg waren zahlreiche der niedergebombten Gebäude der Stadt wiedererrichtet worden, sodass auch Architekturbegeisterte voll auf ihre Kosten kamen.
Für Ludger war Königsberg die schönste Stadt der Welt. Nicht, dass er schon sonderlich weit herumgekommen war. Doch das wollte er auch gar nicht. Hier zu sein, mit seiner Familie und seinen Freunden, und sein Leben zu leben, genügte ihm vollauf. Langweilig wurde ihm nie.
Der Weltenbummler – wenn auch bislang nur in seiner Phantasie - war Ariberth. Der strebte sogar nach den Sternen. Seitdem er ein kleiner Junge gewesen war, sprach er davon, einmal Raumfahrer werden zu wollen. Für Physik und Mathematik büffelte er am härtesten, um seinem Traum näher zu kommen. Ludger hingegen besaß noch keinen Plan für seine Zukunft. Es würde sich schon etwas ergeben, dachte er.
„Na, mein Junge? Wo bist du mit deinen Gedanken schon wieder?“ Von links gesellte sich Luise Krieger an die Seite ihres Sohnes und machte nach einigen Schwimmzügen bei ihm halt.
„Überall und nirgends.“ Ludger zuckte mit den Schultern. „Ich musste nur gerade darüber nachdenken, wie sehr Ariberth und ich uns in dem, was uns besonders wichtig ist, unterscheiden. Nein -“, unterbrach er sich. „Ich meine damit nicht, dass ihm nicht wichtig ist, was mir wichtig ist. Aber er denkt über viele andere Dinge nach, die mir nicht so wichtig sind. Kannst du mich verstehen?“ Er blickte seine Mutter an und lächelte verlegen.
„Es ist nicht wichtig, was euch unterscheidet, solange ihr nur zusammenhaltet“, erwiderte seine Mutter. „Ariberth war schon immer der Ungestümere von euch beiden. Wir mussten oft zwischen euch vermitteln. Und doch gab es immer etwas, das euch verband – ihr seid Brüder.“
„Familie“, betonte Ludger und grub die Zehen in den Sand am Boden des Sees.
„Ja, genau. Das Wichtigste überhaupt. Ohne eine Familie im Leben fehlt ein essentieller Rückhalt. Die Gewissheit, dass es stets jemanden geben wird, der für dich da ist, der ein offenes Ohr hat – selbst wenn er dich womöglich nicht immer versteht, sondern ganz andere Ansichten hat.“ Gedankenverloren blickte seine Mutter aufs Wasser. Ludger musterte sie verstohlen.
„War es für dich sehr schwer, allein zurechtzukommen?“, fragte er leise.
Luise antwortete nicht sofort, sondern starrte ins Blaugrün, als lägen dort die Antworten auf all ihre Fragen verborgen. Dann hob sie den Kopf, als wäre ihr wieder eingefallen, wo sie war und mit wem sie sprach.
„Ich habe mich oft sehr, sehr einsam gefühlt, Ludger … ja, das muss ich zugeben. Doch als ich deinen Vater kennenlernte, änderte sich das. Omama und Opapa haben mich aufgenommen wie eine Tochter, und auch Joseph war stets für mich da. Mit deinem Vater bekam ich auch wieder eine Familie. Und dann kamt ihr zwei – meine Augensterne ...“ Sie lächelte, doch Ludger konnte sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und er wusste, dass sie an die verlorene Tochter dachte; begriff in jenem Augenblick, wie sehr der Verlust die Mutter geschmerzt hatte und noch immer schmerzte.
Rasch griff er nach ihrer im Wasser schwimmenden Hand und drückte sie. „Ich werde immer für dich da sein, Mama“, sagte er das erste, was ihm auf der Zunge lag.
Glücklicherweise entlockte die eifrige Zusicherung ihres Jüngsten der Mutter ein kurzes Auflachen. „Das weiß ich doch, Ludsche“, versicherte sie ihm, und der Bann der Trauer, der sie kurzzeitig übermannt hatte, war gebrochen. „Wenn ich dich auch in zehn Jahren noch einmal fragen sollte, ob dein Versprechen ernst gemeint war“, fügte sie mit einem scherzhaften Augenzwinkern hinzu.
„Ich geh nicht aus Königsberg weg!“ Ludgers Stimme klang entschlossen, und er wollte gerade noch hinzufügen, dass er gar nicht wusste, wohin er gehen sollte, als Ariberth und der Vater neben ihnen auftauchten. „Wie sieht es aus, ihr zwei? Habt ihr auch solche Lust auf ein Eis wie wir?“, fragte Hendrik Krieger.
„Na sicher haben sie!“ Ariberth wartete die Zustimmung von Mutter und Bruder gar nicht erst ab, sondern zog Ludger am Arm. „Komm, Kleiner! Ich wette, ich bin der erste am Ufer!“
In einer seltenen Anwandlung von Übermut schlug Ludger dem Bruder seinen Wasserball aus der Hand. Unter Ariberths Protest drehte er sich um und schwamm aufs Ufer zu. „Die Wette verlierst du!“, rief er über die Schulter hinweg.
06-01-2012, 22:09
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 07-01-2012, 18:23 von Lilly.)
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RE: Countdown
3.
Wer Tolkien gelesen hat, weiß, dass das Auenland – die Heimat des kleinen, mutigen Hobbits Bilbo Beutlin – zu den schönsten Orten in ganz Mittelerde gehört. Tolkien wird niemals müde, die Einzigartigkeit der mal flachen, mal hügeligen Landschaft zu beschreiben; das Grün der weiten Wiesen, das im Auenlang viel kraftvoller und schmeckbarer zu sein scheint als irgendwo anders. Die Wälder wachsen dichter und verwurzelter, die Früchte sind saftiger und die Luft nährt nicht nur Körper, sondern auch Geist.
Gäbe es ein irdisches Äquivalent zum Auenland, so wäre Westfalenheim sicher ein Anwärter auf diesen Titel. Das Lomser Land besticht durch seine Ursprünglichkeit; nur wenige Häuser, die am „Weg“ stehen - dem alten Festungsdamm, der inzwischen eine Straße geworden ist -, unterbrechen den Lauf der Natur, doch sie fügen sich harmonisch ins Gesamtwerk ein mit ihren niedrigen Steinwällen oder Holzzäunen und reich bepflanzten Gärten. Die andere Seite des Weges wird von Getreidefeldern gesäumt; Getreidefelder, soweit das Auge reicht. Die Kornkammer Deutschlands zählt Roggen zum vorherrschenden Anbaugetreide. Blühstreifen voll roten Klatschmohns vereinen sich mit den hoch aufragenden Roggenähren und verleihen dem Gesamtkunstwerk eine sommerliche Harmonie. Es leuchtet aus den Feldern heraus - grün, gelb und rot - und der laue Sommerwind streicht neckisch durch die Früchte.
***
Es war früher Abend geworden. Nach einem ausgelassenen Vormittag in der Badeanstalt, dem Mittagsmahl, bestehend aus Kartoffelpüree und frischem Räucherfisch, den die zahlreichen Händler auf der Insel feilboten und einem anschließenden Eisessen am Hafen, waren die Kriegers für eine kleine Mittagsruhe, die weniger von den Kindern, mehr von den Eltern gewünscht wurde – Hendrik Krieger sehnte sich schließlich noch immer nach der Tageszeitung – nach Hause zurückgekehrt. Wie heimlich von Ludger und Ariberth erhofft, hatte sich die Familie anschließend ins Erdgeschoss, in die Wohnung der Großeltern, begeben, wo Großmutter Annemarie ein paar feine Kuchen aufgetischt hatte, die, zusammen mit der frisch geschlagenen Sahne, den schon wieder hungrigen Mägen der Bengels gut bekamen.
Den Spaziergang durch Westfalenheim, den die Eltern dann anregten, hatten Ludger und Ariberth mit Begeisterung aufgenommen, zumal Opapa versprochen hatte, seine brandneue Konica C35-AF mitzunehmen. „Famos!“, begeisterte sich Ariberth und hätte den Fotoapparat am liebsten gar nicht mehr aus der Hand gegeben. Nacheinander musste ihm jeder Modell stehen, doch Ludger, der seinem Bruder gutmütig den Vortritt ließ, bemerkte, dass Ariberth, so fahrig er auch oft war, beim Fotographieren eine besondere Konzentration an den Tag legte. Zielsicher suchte er nach dem richtigen Motiv und ließ sich Zeit, es einzufangen, ehe er auf den Auslöser drückte.
Der ausgedehnte Spaziergang hatte sich über die gesamten Sackheimer Wiesen erstreckt. Nun waren die sechs Krieger wieder in der Nähe des Hauses angelangt. Der Westhimmel mit seinen im Vordergrund schwebenden, schon dunkelblauen Zirruswolken erglühte in tiefen Orange- und Rottönen, in dessen Zentrum sich die runde Glut der Sonne langsam vom Tage verabschiedete. Das imposante Schauspiel eines Sonnenuntergangs faszinierte Ludger immer wieder aufs Neue. Staunend ließ er sich orangerote Kringel ins Gesicht malen, während er die Schönheit des Himmels ganz in sich aufsog. Was auch für gute Bilder eine Photokamera machen konnte – an die Tiefe, Schärfe und Detailfähigkeit des menschlichen Auges würde sie nie heranreichen.
Ariberths Rufen riss ihn aus seinem Staunen.
„Joseph! Was machst du denn schon hier?“
Ariberth rannte die letzten Meter zum Haus, auf Joseph Koper zu, der am Tor stand und ihnen ruhig entgegen blickte. Seine große, imposante Gestalt hob sich dunkel vom Hintergrund ab, und wie immer blickte Ludger ihm mit einer Mischung aus Schüchternheit, Zuneigung und Respekt entgegen. Joseph und Großvater Lothar waren durch die gemeinsame Lebensgeschichte so eng miteinander verbunden, dass Ludger manchmal vergaß, dass Joseph ursprünglich aus Namibia stammte und nicht vom Blute her zu den Kriegers gehörte. Die Symbiose Koper/Krieger war so perfekt, wie sie nur sein konnte. Sämtliche Familienmitglieder wussten, dass sie sich blind auf den Freund, ja, den Beschützer, verlassen konnten.
Auch Omama freute sich, Joseph zu sehen, doch Ludger ahnte, dass sie und sicher auch Opapa von der frühzeitigen Rückkehr Josephs gewusst hatten. Überrascht wirkten sie zumindest nicht.
Während Ariberth den älteren Mann ungestüm umarmte, trat Großvater Lothar an diesen heran und klopfte ihm kräftig auf den Oberarm. „Gut, dich zu sehen, alter Weltenwanderer“, dröhnte der tiefe Bass seiner Stimme. Und Omama umarmte ihn und sagte: „Schön zu sehen, dass du es heil nach Hause geschafft hast, lieber Joseph.“
Josephs Miene war unergründlich, doch freundlich. „Ihr seid sicher hungrig. Das Essen ist bereits vorbereitet. Ich habe einige Mitbringsel dabei, die ihr euch nicht entgehen lassen solltet.“
Dann wandte er sich Ludger zu, der ein wenig im Hintergrund geblieben war. Bedächtig legte er ihm eine Hand auf den Kopf. „Schön, dich zu sehen, seuntjie“, sagte er leise.
Ludger sah zu ihm auf und ihm wurde warm angesichts der Zuneigung, die aus dem Blick des alten Mannes auf ihn herabsank. „Ich freu mich auch, Joseph“, sagte er.
***
„... und dann kam der Pass, an den schon niemand mehr zu glauben gewagt hatte, zu Bednarz. Zugespielt von Wolkowa - diesem Teufelsweib! Bissig und hartnäckig wie ein Jagdhund, das gesamte Spiel über! Und Bednarz nutzte die Chance - nahm den Ball an und kämpfte sich unerbittlich durch die sowjetische Verteidigung. Am Strafraumeck schoss er – und traf zum Eins zu Null! - Heissa, das war ein Sieg in letzter Minute! Und ich habe selten glücklichere Gesichter gesehen als die der Spieler. Die Dortmunder Kompanie war grandios!“
Ludger, der wie gebannt an den Lippen seines Großvaters hing, fühlte sich beinahe, als wäre er dabeigewesen, damals an jenem schicksalhaften Tag 1950, als eine ungewöhnliche, aber umso erfolgreichere deutsche Nationalmannschaft die UdSSR mit einem 1:0 geschlagen und das Halbfinale der Weltmeisterschaft so für sich entschieden hatte. „Ach, Opapa“, seufzte er. „Wie gerne wäre ich jetzt in Mexiko und würde mir ein genauso famoses Spiel anschauen, wie du es damals durftest.“
Gegenüber am Tisch lachte seine Mutter hell auf und legte die Gabel beiseite. „Hast du mir nicht gerade heute noch versprochen, mich nie zu verlassen, mein Kleiner? Und jetzt hör dich an – nach Mexiko sehnst du dich! Ich bin brüskiert.“
„Ach ...“, versuchte Ludger sich an einer – zugegebermaßen schwachen – Verteidigung. „Träumen wird man ja wohl dürfen ...“
„Ganz recht“, mischte sich sein Vater ein. Hendrik Krieger war noch mit dem Abendessen beschäftigt, das die Familie unten bei den Großeltern einnahm. Zur Feier des Tages gab es für die Bengels sogar Coca-Cola – ein Getränk, das die Eltern unter normalen Umständen nicht gestatteten, doch als Joseph die Flasche mit der braunen Köstlichkeit aufgetischt hatte, gab es ausnahmsweise keinen Widerspruch von den Eltern. Nur der Großvater brummelte leise vor sich hin, doch das konnte alles mögliche oder auch nichts bedeuten.
„Fußball steckt dem Kleinen eben im Blut“, sagte sein Vater an niemand Bestimmten gerichtet. Er fügte hinzu: „Träume sind nichts Verwerfliches. Träume und Ziele. Manch einer besitzt weder das eine noch das andere. Und doch haben Träume und Ziele diese Stadt wieder zu dem gemacht, was sie einst war. Oder vielleicht sogar noch besser. Menschen, die nie aufgegeben haben, auch wenn das Ziel in weiter Ferne lag und kaum zu erkennen war. - Stimmt es nicht, Vater?“, wandte er sich dann an Großvater Lothar, der ihn nachdenklich ansah. „Du sprichst ein wahres Wort, Hendrik“, antwortete er bedächtig. „Auch in meinem Leben gab es eine Zeit, in der ich nicht an 'das gute Ende' glaubte. Glücklicherweise wurde ich eines Besseren belehrt.“
Großmutter Annemarie tätschelte ihm die Hand. „Wir haben alle gelernt, diese Stadt als unser Zuhause anzuerkennen. Auch mir fiel es am Anfang nicht leicht. Manchmal träume ich immer noch von Sachsen. Auch wenn ich weiß, wo mein Herz ist. - Hier, bei euch.“
Ariberth rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er schien, als wären ihm die sentimentalen Anwandlungen, die am Esstisch aufzusteigen drohten, zu viel. Ludgers Bruder war vieles – aber nicht sentimental oder romantisch veranlagt.
Dafür jedoch trieb ihn die Neugierde um. „Was ist denn nun mit der Überraschung, die ihr uns am Morgen versprochen habt?“
Ludger sah, wie die Eltern einen geheimnisvollen Blick tauschten. Luise zwinkerte ihrem Mann zu und erhob sich von ihrem Stuhl. „Wir helfen der Omama erst beim Aufräumen und dann gehen wir nach draußen, in den Hof. Einverstanden? Und dann gibt es die Überraschung.“
„Spitze!“ Ariberth war schon aufgesprungen. Eifrig räumte er Teller und Besteck zusammen. Ludger half ihm, auch Mutter und Großmutter waren fleißig dabei, während die Männer leise miteinander sprechend die Küche verließen.
***
Es war dunkel, aber nicht wesentlich kühler geworden, stellte Ludger fest, als er durch die Tür, die an der linken Seite des Hauses auf den Hof führte, trat und auf den steinernen Stufen stehenblieb. Noch immer lag die Temperatur bei deutlich über zwanzig Grad. Die schwache Abendbrise war angefüllt vom Aroma der Sommerblumen, die Mutter und Großmutter rings um den Hof gepflanzt hatten. Hinten im Garten klang das Zirpen der Grillen. Frieden lag in der Luft und Ludger merkte, wie sich langsam eine wohlige Müdigkeit in ihm ausbreitete. Es war ein schöner, aber langer Tag gewesen.
Die alte Stalllaterne über dem Hauseingang spendete gerade so viel Licht, dass Ludger und Ariberth hinter ihm einen Rundblick über den Hof erhaschten, ehe an jedem Ende die Welt in flüsternden Schatten versank. Vater, Großvater und Joseph standen mitten auf den unebenen Pflastersteinen des kleinen Platzes in der Mitte des Hofes. Ludger runzelte die Stirn angesichts der ballonartigen Gebilde, nach denen sie sich bückten.
„Nur zu, ihr zwei. Geht.“ Hinter ihnen erklang die Stimme der Mutter, die sich von Großmutter Annemarie einen wollenen Umhang geliehen hatte, den sie sich nun über die Schultern zog. Omama folgte der Schwiegertochter.
Neugierig stolperten Ludger und Ariberth die wenigen Stufen der Treppe hinunter, die auf den Hof führte. „Was habt ihr da?“, fragte Ariberth im Näherkommen.
„Wollt ihr ein paar neue Sterne am Firmament erschaffen?“, antwortete Hendrik Krieger mit einer Gegenfrage und winkte seine Söhne heran.
Von Nahem sahen die Ballons aus wie papierne Tüten. Ludger erkannte, dass es sich um eine Art Laternen handeln musste und wurde in seiner Vermutung bestätigt, als Großvater Lothar erklärte: „Das sind Himmelslaternen, Jungens. Man entzündet diesen Streifen im Innern -“ Er wies auf ein Stück Stoff, vielleicht auch Wachs, der zwischen einen dünnen Holzrahmen gelegt war, welcher die Laterne in Form hielt. Mit sicherem Griff entflammte er ein Feuerzeug und zündete den Streifen an. „Dann ...“ Er drehte die Laterne um, sodass ihre Öffnung nach unten zeigte. Wie von Geisterhand blähte sie sich auf, bis sie eine quaderhafte Form angenommen hatte. „Dann kann man sie in den Himmel aufsteigen lassen.“
Er ließ die Laterne los, die sich sofort fast senkrecht nach oben bewegte. Ludger war überrascht von der relativen Schnelligkeit, mit der sie gen Himmel flog. Vor dem Indigo der Sommernacht hob sie sich hell leuchtend ab – ein fantastisches Schauspiel.
„Himmelslaternen werden auch 'Wunschlaternen' genannt“, erklang die leise lächelnde Stimme Josephs. „Wenn ihr eure Laterne aufsteigen lasst, verratet ihr euren sehnlichsten Wunsch. Vielleicht wird er euch erfüllt.“
„Ich weiß, wie dieses Prinzip funktioniert!“, erklärte Ariberth eifrig. „Durch die Wärme im Innern der Laterne entsteht ein Auftrieb, der sie leichter macht als ihre Umgebung. Dadurch steigt sie auf – wie eine Art Heißluftballon, bei dem dieses Prinzip ganz ähnlich funktioniert. - Ich würde gern wissen, wie weit sie fliegen kann.“
„Probieren wir es doch aus.“ Hendrik Krieger zwinkerte.
„Darf ich auch eine fliegen lassen?“ Ludger war weniger an physikalischen Eigenschaften interessiert als vielmehr an der Erfülllung seiner Wünsche. Eigentlich war er zu alt, um an einen solchen Kokolores zu glauben, doch sein Jungenherz schlug trotzdem höher, wenn er darüber nachdachte. Schließlich war auch er es, der stets einen Pfennig in den Schlossteich warf, der unter den Königsbergern als „Wunschbrunnen“ galt – zumindest hatte ihm irgendjemand einmal eine Geschichte dazu erzählt, die ihn sehr beeindruckt hatte.
Eifrig ergriff er die Laterne, die sein Vater ihm reichte. Auch Ariberth bekam eine Laterne.
„Luise – Mutter - wie steht es mit euch? Ihr habt einen Wunsch frei“, neckte Hendrik Krieger die beiden Frauen. Während Großmutter Annemarie dankend ablehnte und ihre Laterne an die Jungen weitergab, nahm Luise eine an sich, um sie eigenhändig nach oben steigen zu lassen.
Mit leicht zitternden Fingern und der Hilfe Josephs gelang es Ludger schließlich, die Flamme seiner Laterne zu entfachen. „Du darfst sie nicht irritieren, sie muss ganz ruhig aufsteigen, sonst geht sie in Flammen auf“, mahnte der alte Mann seinen jungen Gefährten. Ludger tat, wie ihm geheißen, und es gelang ihm tatsächlich, seine Himmelslaterne unversehrt aufsteigen zu lassen.
Während sie an der Seite der anderen fünf Laternen – die allererste war schon hoch oben und nur noch als strahlender weißer Punkt zu erkennen – nach oben schwebte, spürte Ludger, wie sich eine tiefe Zufriedenheit in ihm ausbreitete. Links neben ihm stand Joseph, den Blick in den Nachthimmel gerichtet. Von rechts legte ihm seine Mutter einen Arm um die Schultern und drückte ihn an sich, als er leicht fröstelte. Ariberth begeisterte sich über den Anblick der Laternen-Armada und Vater und Großvater unterhielten sich leise, während sie das Schauspiel über sich verfolgten. Hier gehöre ich hin, dachte Ludger und sein Herz drohte überzulaufen vor lauter Glück.
Lass uns immer so sein, wünschte er sich aus tiefstem Herzen, während er dabei zuschaute, wie seine Laterne ebenfalls rasch an Höhe gewann und zusehends ihre Konturen verlor. Ein heller Punkt wurde, wie einer der vielen anderen funkelnden Himmelskörper dieser sternklaren Nacht.
Es war Sommer, es war der Himmel auf Erden für einen kleinen Jungen, der im 13. Jahr seines noch jungen Lebens stand und dem die Welt alles offen hielt.
***
In dieser Nacht, in seinen Träumen, gelang Ludger der Sieg.
Das war seine Chance! Er würde seiner Mannschaft zu Ruhm und Ehre verhelfen. Nur noch ein einziger, entscheidender Schuss. Jetzt! Er trat kräftig zu und – brachte den Ball auf klarer Linie ins Tor. - Sieg! Sieg! Die Leute jubelten und applaudierten. Er hatte gesiegt! Sie hatten ALLE gesiegt!
Ludger zog sich die Decke fester um den Körper und lächelte im Schlaf.
07-01-2012, 00:35
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 08-01-2012, 13:31 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
(1987) "Die längste Nacht"
1
In einem Zelt.
Zwei dunkelhäutige Männer. Einer gefesselt auf einem alten Stuhl. Ein anderer vor ihm, der dem weißhaarigen Gefangenen mit einem Schlagstock drohte.
"Jakob, Jakob", murmelte der Jüngere. "Zum letzten Mal: Bist Du allein gekommen?"
Die geschwollenen Augen des alten Gefangenen loderten auf, dann spukte er einen Klumpen Blut auf den Boden.
"Verräter!", zischte er und kassierte dafür einen weiteren Schlag im Gesicht. "Mehr ... hast ... Du nicht ... drauf?"
Der Zelteingang raschelte, er bemerkte es nicht.
Der Mann schüttelte sich die schmerzende Hand und beugte sich zu Jakob herunter.
"Nichts wird von Dir übrig bleiben, Opa", zischte er. "Und die Kleine ist die n-!"
Eine Hand schoss vor und der Hals verschwand hinter einem Arm. Ziehen, Knacken - dann sank der Mann mit der schmerzenden Hand lautlos zu Boden.
Ein Messer blitzte vor seinen Augen, dann wurden seine Fesseln durchgeschnitten.
"Jakob?"
Vor ihm stand sein verschwommener Bruder. Mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm.
"Kannst Du gehen?"
Jakob nickte.
***
Weiße Wände, mit einem ähnlich kalten Licht, das von den Deckenlampen nach unten auf die zerfahrenen grauen Fließen fiel.
Im Vier-Bett-Zimmer roch es nach Desinfektionsmitteln. Auch wenn es sehr sauber wirken sollte - ab und zu schlichen sich fäkalische Gerüche in die Nase. Drei leere Betten, nur eines belegt mit einem Mann Mitte 50. Er lag unter der weißen Decke auf seinem Krankenbett, daneben Rollwagen, in denen die unterschiedlichsten Geräte untergebracht waren. Monitore, auf denen sich eine zackige Kurve von rechts nach links bewegte und dabei beruhigend vor sich hinpiepsten.
Ein junger Mann stand an der Seite und schaute auf den dünnen Schlauch, der sich zwischen den spröden Lippen hindurch quetschte, am schlafenden Gesicht hinabglitt und irgendwo unter dem Bett verschwand.
"Papa ...", murmelte er und drückte wieder die kalte Hand am Bettrand. Doch die Augen des Kranken schliefen weiter vor sich hin.
"Herr Krieger, Sie können hier nichts mehr tun", sagte die Frau im weißen Kittel hinter ihm. "Gehen Sie nach Hause und gönnen Sie sich eine Portion Schlaf."
"Ich kann sowieso nicht schlafen."
Ein fester Händedruck auf seiner Schulter.
"Ich rufe Sie an, wenn sich etwas ändert - versprochen."
Er ließ nur widerwillig die Hand los und sich von der Schwester aus dem Zimmer begleiten. Hinter seinen Augen sah er noch lange den Schlauch, der aus dem Mund lief - erst die alten knirschenden Stufen verdrängten langsam das Bild, als er die Holztreppe herunter schlich. Unten im ruhigen Erdgeschoss, im erweiterten Eingangsbereich, saß eine ältere Frau hinter der Theke mit dem Schild 'Pförtner/Anmeldung', darüber das Bild des Reichspräsidenten von Weizsäcker.
Sie schaute von ihren klobigen Überwachungsmonitoren auf und lächelte.
"Einen guten Abend, Herr Krieger", sagte sie. "Und einen guten Rutsch."
Er nickte, versuchte ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, doch der Kloß in seinem Hals zerschlug den Versuch.
"Ihnen auch. Und gute Nacht."
Er trat durch die Doppeltür hinaus auf den kleinen Vorplatz des Barmherzigkeit und blieb für einen Moment gedankenverloren stehen. Kleine Schneeflocken schwebten von oben herab und es war wieder bitter kalt geworden. Das Grau des Asphalts hatte sich bereits unter dem Weiß versteckt und würde sich in diesem Jahr nicht mehr hervor wagen.
Schüsse und tiefer Donner tönten durch die Straße und irgendwo westlich des Schlossteichs stiegen Raketen pfeifend und heulend in den Himmel, wo sie explodierten und in den unterschiedlichsten Farben aufleuchteten und wieder herabregneten.
"Wunderschön", murmelte er. "Schön, wenn Du das nur sehen könntest ..."
Er zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche und ging seufzend zu seinem 924er.
***
Die Fahrt über die Hinterroßgärterstraße an der alten leerstehenden Kommandantur vorbei, war spurlos an ihm vorbeigezogen.
Es roch immer noch nach Leder, auch wenn der Porsche schon sieben Jahre alt war. Schwarze Innenausstattung - vom Lenkrad mit dem Emblem von Porsche über die Innenraumverschalung bis hin zu den leicht eingerissenen Sitzen. Über dem Schaltknauf die Warm- und Kaltregler, drei kreisrunde Anzeigen und unten schließlich das Radio, aus dem eine Kassette halb eingeschoben herausschaute.
"Nein, bloß keine Feierlichkeiten mit heiteren Menschen", murmelte er und starrte stumpf durch die Windschutzscheibe. "Das ist kein gutes Jahr ..."
Der Schlauch dominierte seinen Kopf. Gaspedal, Kupplung, Schalten, Blinker - alles automatisierte Vorgänge, während er langsam über die Straßenbahnschienen fuhr.
"... und das nächste kann nicht besser werden."
Erst als er an der roten Ampel halten musste, drangen die Schüsse und Donnerschläge wieder durch seine Ohren. Er fühlte sich wie ein Voyeur, der sich die Passanten außerhalb der geschlossenen Fenster anschaute.
Alt und jung. Stoffhosen, dicke Mäntel und adrett zurückgekämmte Haare gegen zerrissene Jeans, hochgegelte Haare in allen Farbvariationen sowie englischen Bomberjacken.
Mittendrin ein Plakat an einer Litfasssäule, die auf das Silvesterfest im Schloss hinweisen und zur Hälfte die Ankündigung des 37. Graf-Zeppelin-Hallenfußball-Turniers überklebte, das bereits lange vorbei war.
Angetrunkene Menschen bei der Straßenbahnhaltestelle, die sich gegenseitig stützten. Der alkoholgeschwängerte Atem aus ihren Mündern glich dem von Drachen, doch im Gegensatz zu diesen vermochten sie nicht mehr gradlinig zu laufen. Mittendrin immer wieder Päarchen, alte und jüngere Menschen - eng umschlungen. Traute Glückseligkeit im Anbeginn des Endes.
Er schüttelte den Kopf, als die Ampel auf Grün sprang und riss sich vom Anblick los. Kupplung, Gaspedal - und er fuhr weiter durch den letzten Tag, begleitet vom donnernden Feuerwerk im Rückspiegel.
"Fröhlichkeit", murmelte er, verzog verärgert den Mund und schaute auf das Kassettendeck. "Warum nicht?"
Ein Knopfdruck und das Radio erklang. Mit dem Sendeprogramm des Ostdeutschen Rundfunks glitt die Knallerei in den Hintergrund.
'Nager dans les eaux troubles ..., des lendemains.'
Die erleuchtete Altstadtnacht verlor sich im Rückspiegel, als er über die klapprige Holzbrücke fuhr, und ein Ortseingangsschild begrüßte ihn mit 'Westfalenheim - Stadt Königsberg'.
'Attendre ici la fin ..., flotter dans l'air trop lourd.'
Dieser Schlauch, dachte er wehmütig. Ohne Schlauch würde es nur so aussehen, als würde er schlafen.
Erst als er auf den Festungsdamm einbog, hatte sich das leblose Bild des alten weißhaarigen Mannes hinter seinen Augen allmählich verflüchtigt und er bemerkte die weite Auenlandschaft, in der sich im Laufe der Jahre längs des Damms weitere Häuser dazugesellt hatten.
'Tout est chaos ...'
Er parkte vor einem der ersten Häuser, drehte den Zündschlüssel herum und der Motor erstarb.
Ein Blick zum Haus. Das Erdgeschoss hell erleuchtet, die Etage darüber blieb dunkel. Er seufzte, griff nach seiner großen Reisetasche auf dem Rücksitz und stieg aus.
Vor dem Haus befand sich noch ein nachträglich angebrachter Flachbau, dessen linke Seite an die Hofeinfahrt grenzte. Die alte Bäckerei, die seit Jahren nur noch leerstand. Die großen Einkaufshäuser hatten die kleinen Unternehmer ausradiert.
Im Innenhof trat er die fünf seitlichen Stufen zum Haupthaus hinauf und drückte auf die untere Klingel.
Für einen Moment passierte nichts, dann summte der Türöffner und er trat in den Flur. Sechskantige handtellergroße Fliesen in dunkelrot zierten den Boden und eine Holztreppe neben der Tür führte über einen Zwischenabsatz nach oben.
Es befanden sich nur zwei Türen im Eingangsbereich. Die eine, etwas kleinere, führte unter der Treppe hinab in den Keller. Die andere in die untere Wohnung, aus der ihn bereits das Gesicht einer Frau müde anschaute.
"Ariberth!", rief sie und winkte ihn herein. "Komm doch herein."
Er trat in die Wohnung.
Links des querverlaufenden Flurs die Küche, mittig das alte Kinderzimmer mittig und rechts ging es am breiten Kaminschacht vorbei ins Wohnzimmer. Helles Licht warf seine Schatten vom Kronleuchter unter der Decke auf die beiden braune Ohrensessel, die lange Sitzgarnitur an der Wand, Regale mit Büchern, kleine Kommoden mit Radioempfängern und dem Tisch mit einem Deckchen, auf dem noch der Adventskranz stand.
"Die Fenster hängen von Jahr zu Jahr schiefer", meinte er und nickte zu den Scheiben, vor denen sich die Kälte tummelte.
"Das wird leider auch nicht mehr grade", antwortete sie. "Drainage hin oder her, die Lomse wird immer nass bleiben."
Sie seufzte, während er auf ein gerahmtes Bild schaute.
Unscheinbar stand es vor den Büchern von Kant, Arendt und Musashi. Leichter Staub auf dem Rahmen, wehmütige Fingerabdrücke auf dem Glas. Ein alter Sommer grüßte aus der Vergangenheit. Sechs weiße - und ein dunkles Gesicht. Nebeneinander, die Arme lagen auf den Schultern der Nachbarn.
"Wie lange ist das jetzt her?", murmelte er und nahm das Bild vorsichtig in die Hand. "Ich kann mich daran erinnern, ..., dass hat einer der Nachbarn gemacht, an einem unserer Familientagen." Er überlegte. "Wir haben da Wasserball gespielt - nicht?"
Sie blieb vor ihm stehen, nickte und rieb sich nervös die Hände.
"Setz Dich doch", sagte seine Mutter und wies auf einen der beiden leeren Sessel. "Soll ich Dir einen Kaffee machen?"
Ariberth schüttelte den Kopf.
"Lass nur", meinte er und winkte müde ab. "Ein Bett, die Fahrt auf der Transitstrecke durch Polen war anstrengend genug."
Sie nickte mit dem Kopf zur Decke.
"Ich habe Dir in Josephs Wohnung oben das Gästezimmer hergerichtet."
Er hob fragend eine Augenbraue.
"Wo ist er denn?" Er stellte das Bild zurück und setzte sich doch in den Sessel. "Hat ihn das Fernweh ein zweites Mal gepackt?"
"Er ist in Namibia." Sie seufzte. "Kurz bevor Dein Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde, kam ein Anruf aus der Botschaft."
"Und?"
"Ach ...", rief sie und setzte sich. "Es sind so schwere Zeiten."
"Mutter!", rief er und beugte sich vor. "Ich bin seit einem Jahr das erste Mal wieder hier, geht es auch genauer?"
Sie schaute ihn traurig an.
"Das in Namibia der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, weißt Du schon, oder?"
Er nickte.
"Jakob, sein größerer Bruder hat über die Botschaft ein Hilferuf geschickt. Joseph wollte erst nicht, weil Hendrik doch seit Langem nierenkrank ist." Sie faltete die Hände und seufzte. "Es gab unschöne Worte. Er solle endlich an seine Familie denken, hat Hendrik gemeint. An seine Zukunft! Und Joseph ..., er ist schließlich geflogen."
Ariberth lehnte sich mit großen Augen zurück.
"Unglaublich", murmelte er, dann rieb er sich nachdenklich das Kinn. "Und Ludger? Wo ist er?"
Sie schaute zu Boden, als ihre Augen zu glitzern begannen.
"Mutter?"
"Dein Bruder ist weg", flüsterte sie. "Schon lange."
"Bitte?" Er richtete sich wieder auf. "Was?"
***
Eine dreiteilige Dachbodenwohnung. Links und rechts die Schlafgemächer, in der Mitte das große Wohnzimmer, irgendwo an den Rand gestreut das kleine Bad abseits des schmalen Flures.
Überall lagen leere Bierflaschen neben dicken Staubwolken auf dem alten braunen Teppich herum, der nicht nur alt war, sondern auch schon seit Langem keinen Staubsauger mehr gesehen hatte.
Es roch muffig, mit einem unterschwelligem Duft von Salzbraten und Knödeln. Obwohl das halbbogenförmige Fenster geöffnet war, hielt sich der Geruch hartnäckig. Eine unsichtbare Wand gegen die Eiseskälte, die außerhalb herschte.
Auf dem Tisch im Wohnzimmer alte Pizza-Schachteln neben Aschenbechern, Tassen mit kaltem Kaffee und einer aufgeschlagenen Ausgabe der Hartungschen Zeitung mit der Schlagzeile
auf Seite 12:
Wird Weihnachten verlegt? Der russische Beirat im Magistrat forderte die Einführung des 07. Januars als Feiertag für die russische Minderheit in Ostpreußen
Die Tapeten eine uneinheitliche Mischung aus Rauhfaser und edlen Stücken mit eingearbeiteten Gravuren. Mal mit warmen lebendigem Orange bemalt, mal mit kaltem Blau.
Ein großer schwerer Fernseher stand auf einer alten Anrichte an der Wand, flankiert von schweren müden Büchern, die an das Plastikgehäuse angelehnt waren. Im Zimmer ein L-förmiges Sofa aus den Fünfzigern. Hölzerne Verzierungen, geschwungene Armlehnen, durchgesessene Sitzkissen - und darauf ein junger Mann unter einer Decke. Nur der Kopf schaute hervor. Schwarzes kurzes Haar, die Sonnenbrille leicht von der Nase gerutscht, während die Augen fernab der Realität sich einen Weg durch die Dachschräge suchten. Aus seinen Ohren sprossen Kabel hervor, hangelten sich unter die Decke zur verborgenen Tragbaren Musik box - kurz TMB. Aus den Mini-Hörern klang laut 'Sounds like a melody.
Ein anderer junger Mann im selben Alter, aber mit blondem lockigen Langhaar kam mit einem Handtuch ins Wohnzimmer und rubbelte sich die letzten Überbleibsel des Rasierschaums aus dem Gesicht. Auf seinem Pullover das Bild eines einäugigen Admirals mit dem darunter stehenden Satz:
'Lassen Sie das meine Sorge sein!'
"Schläfst Du?", rief er. "Ludsche!"
"Lass mich in Ruhe, Bela."
"Mensch, willst Du den Rest des Jahres verpennen?"
"Ich finds hier gerade sehr angenehm ..."
"Angenehm, angenehm ...", äffte Bela ihn nach. "Sag mal, lebst Du noch oder bist Du schon im Vegetieren angekommen?"
"Ich hab keine Lust."
"Du bist echt eine Ludsche."
"Ach, von mir aus ..."
Bela warf das klamme Handtuch in Ludgers Richtung.
"Wir gehen jetzt zum Silvesterfest", knurrte er. "Mach Dich fertig - und keine Fisimatenten!"
***
"Ich werde ihn suchen!"
"Ari - lass es. Er wird Dir nicht zuhören."
"Mutter, wo wohnt er?"
Sie schüttelte den Kopf, dann stand sie mit zittrigen Beinen auf und ging zum Telephontischchen "Ich weiß nur, dass er mit irgendeiner Freundin zusammenwohnt", sagte sie, zog die Schublade auf und holte einen fein säuberlich gefaltetes Stück Papier hervor. "Hier, diese Adresse hat er uns dagelassen."
Er nickte dankend, als er den Zettel einsteckte.
"Fährst Du noch in die Barmherzigkeit?", fragte er. "Soll ich Dich mitnehmen?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Hab Dank, aber ich schaffe es schon." Sie wischte sich mit einem Tempo die stillen Tränen aus den Augen und nickte zum Flur. "Hinten im Kasten hängt der Schlüssel, damit Du nachher auch herein kommen kannst. Ich kann hier sowieso nicht schlafen." Sie schaute nachdenklich im Wohnzimmer von den Kommoden zur Tür zum Schlafzimmer. "Zum Glück hat mir die Nachtschwester ein Bett neben ihm versprochen."
Ariberth holte tief Luft und umarmte seine Mutter.
"Ich werde ihn finden", sagte er. "Und wenn ich die ganze Stadt durchsuchen muss."
"Ich weiß", murmelte sie und nickte erschöpft. "Du konntest noch nie lange still sitzen."
***
Die Wolken am nächtlichen Himmel über der Tragheimer Palve schwebten wie Wattebäuschen über ihren Köpfen hinweg, als sie an der beleuchteten Haltestelle 'Samitter Allee' direkt vor ihrem Haus standen und auf die ankommende Straßenbahn starrten. Weiß, auf Höhe der unteren Stufe verlief ein roter Streifen von vorn nach hinten. Nur manchmal unterbrochen von der Aufschrift 'Königsberger Straßenbahn GmbH' und ' DUEWAG'.
"Kannst Du auch mal ein freundliches Gesicht aufsetzen?", fragte Bela und knuffte seinen Mitbewohner in die Seite.
"Mein Aussehen ist doch freundlich genug", murrte Ludger und zog an seiner dicken Bomberjacke. "Reicht das nicht?"
"Mitnichten, teurer Freund."
"Mir auch egal."
"Ist es immer noch wegen ..., wie hieß Sie noch gleich?"
Ludger presste die Lippen zusammen.
"E-li-sa-beth, Bela. Wie oft noch?"
Es knisterte zwischen der Oberleitung und den Strombügeln, als die Bahn anhielt und die Türen mit einem leisen Zischen öffnete.
"Gut", meinte Bela, als sie einstiegen und sich auf einen leeren Viererplatz in braunem Leder setzten. "Aber so langsam solltest Du anfangen zu leben."
Ludger fixierte den bunten Übersichtsplan der 14 Straßenbahnlinien an der cremefarbigen Wand an.
"Das tue ich gerade."
"Herumvegetieren nennst Du 'Leben'?"
"Ich tue es, weil ich es will. Und niemand sonst mir das aufzwingt."
Bela schüttelte den Kopf.
"So oder so - ewig kannst Du nicht bei mir pennen, Ludsche. Du musst mal so langsam aufwachen. Auf eigenen Beinen stehen und so. Arbeit, Geld verdienen, Wohnung - dann klappts auch wieder mit dem Leben."
Ludger seufzte und schaute durch die Scheibe nach draußen, als aus den Lautsprechern eine weibliche Stimme erklang.
' Deutsche Ostmesse - Ausstieg rechts.'
Die Kreuzung war mit langen Kolonnen von Fahrzeugen belebt, die wartend vor den Ampeln standen. Graue aneinandergereihte Häuserfassaden aus den Sechzigern an den Seiten. Schnörkellose Bürgersteige mit kleinen Karrees, in denen sich auf engstem Raum zierliche Bäumchen den Platz teilten.
"Sagte mein Vater auch immer."
"Vielleicht hat er ja Recht?"
"Recht? Das ich nicht lache. Vorschreiben tut er nur. Dies machen, das machen, dort hin ... und ein Wort des Dankes? Fehlanzeige! Nur Gehorchen, wie beim Militär. Bloß nicht denken."
Sie schwiegen, als sich die Gelenkbahn wieder ruckelnd in Bewegung setzte.
"War das der Grund, warum Du zum Zivilschutzkorps gegangen bist?"
Ludger nickte.
"Keine Waffen. Gut, eine Uniform - aber dort ging es nicht so zu wie auf einem Kasernenhof."
"Aber war Dein Großvater nicht auch bei der Reichswehr?"
"Was soll das denn?", zischte Ludger. "Nur weil alle bei der ach so glorreichen Armee waren ... Darf ich selbst entscheiden, was ich werden möchte?"
Bela zuckte mit den Schultern, als die Bahn wieder langsamer wurde.
' Wrangelstraße. Ausstieg rechts. Umsteigemöglichkeiten zur Linie 1 Nordbahnhof - Roßgarten.'
"Und was möchtest Du werden?"
Ludger starrte wieder nachdenklich auf die vorbeiziehende Welt außerhalb.
"Ich möchte erstmal mein Gehirn vernebeln, bis ich meinen Namen vergesse", meinte er. "Dann sieht man vieles klarer."
Die Bahn fuhr klingelnd vom Steindamm auf den Kaiser-Wilhelm-Platz, der durch die Scheinwerfer auf den Dächern der angrenzenden Häuser hell erleuchtet war.
"Ist das der gute Vorsatz fürs neue Jahr?"
"Eher der nachgeholte für '87."
' Königsberg Schloss. Ausstieg rechts. Umsteigemöglichkeit zu den Linien 2 Hauptbahnhof - Devau, 3 Hauptbahnhof - Kunstakademie und 4 Hauptbahnhof - Ratshof.'
Der große Platz vor dem Schloss war für den normalen Kraftverkehr abgesperrt worden, doch die Straßenbahnen konnten sich mühsam und mit lautem Gebimmel durch die dichten und angetrunkenen Menschenmengen drängeln. Auf den Fahrbahnen standen noch immer die unterschiedlichsten Wagen und Buden des Weihnachtsmarktes. Manche im gleichen alten Stil wie die angrenzenden Häuser aus der Jahrhundertwende. Verblasste Werbeaufschriften ' Sperrholz Wölbert', ' Mode Waag' oder ' Haus der Bücher Gräfe und Unzer Paradeplatz 6' über den verzierten Schriftzügen der Restaurationen und Fachgeschäften - neben der Niederlassung der 'Deutschen Telekom' im alten Telegraphenamt.
Andere Schaustellerwagen waren so umgebaut worden, dass sie wie kleine doppelstöckige Häuser aussahen. Mittendrin immer wieder Getränkewagen, Crêpes-Buden und einige Fahrgeschäfte mit ihren ausufernden Flächen und bunten Elektroautos.
Neben dem Bismarck-Denkmal stand noch immer der hell erleuchtete Weihnachtsbaum. In der Mitte eine riesige Nachbildung der Meisterschale mit dem amtierenden deutschen Fußballmeister der Saison 1986/1987: dem VfB Königsberg.
Den alten Reichskanzler schien es nicht zu stören, dass er nicht länger im Mittelpunkt stand. Mit versteinerter Miene stand er weiter auf seinem Sockel und blickte erhaben in die Zukunft. Von all dem Lichterglanz beinahe verdeckt, erhob sich im Hintergrund still und erhaben das wiederaufgebaute Schloss der Stadt.
"Schlag mich, aber wenn unsere Großeltern mit Deiner Einstellung gelebt hätten", meinte Bela und schaute anerkennend auf die hohe Schlossmauer. "... dann stünde das Schloss selbst heute noch nicht."
Massive Treppen, Reiterstandbilder, dahinter reckten sich massive Winterbäume in die Höhe und warfen einen grotesken Schatten auf den Eckturm mit dem spitzen Runddach, das wie ein Zipfelhütchen aussah. Daneben ein Giebeldachhaus und der dunkelrote Turm, der mit seiner Spitze den Nachthimmel zu berühren schien.
"Scheiß auf Großeltern", zischte Ludger und stand auf. "Scheiß auf Eltern. Scheiß auf alles - feiern ist angesagt."
***
07-01-2012, 01:48
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 07-01-2012, 01:55 von Dreadnoughts.)
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RE: Countdown
2
Das Flüstern des Flusses verbarg das schwere Atmen aus der kleinen Höhle nur schlecht.
Jakob lag mit dem ein Jahr alten Baby in seinen Armen auf dem kalten Boden.
Zusammengekrümmt, behütend, beschützend. Daneben das erloschene Grubenfeuer mit den verkohlten Überresten der Nacht.
Der alte Joseph stand mit einer Pistole nahe des Höhleneingangs.
Abwechselnd schaute er von seinen letzten Verwandten zur kühlen Nacht nach draußen und wieder zurück. Er faltete den Zettel auseinander, den er vor einigen Stunden geschrieben hatte und starrte lange auf die Zeilen.
"Könnte Dich hier brauchen, Lothar", flüsterte er und schaute in den funkelnden Sternenhimmel. "Musstest ja unbedingt vorangehen."
Schließlich schob er ihn zurück in seine Hosentasche.
"Zeit zu gehen", murmelte er und horchte in die Nacht hinein.
Dann drehte er sich traurig um.
Nur der Fluss war in der kleinen Höhle noch zu hören.
***
Es fing wieder an zu schneien. Kleine zarte Flocken, die behutsam von den Scheibenwischern zur Seite gefegt wurden. Ariberth starrte durch die Windschutzscheibe auf die Rücklichter der wartenden Fahrzeuge. In einigen Metern vor ihm Polizisten in ihren dicken Lederjacken, auf denen die weißen Flocken die Dunkelheit auszuradieren versuchten. Sie standen mit ihrem grün-weißen EMWs quer vor der Honigbrücke und rollten ein gelbes Band aus.
"Dafür habe ich jetzt keine Zeit", knurrte er, kurbelte das Lenkrad nach links und raste auf der Gegenspur davon.
Im Radio piepste es. Dann erklang eine monotone Stimme, die mehr tot als lebendig erschien.
"Es ist 20 Uhr. Hier ist der Ostdeutsche Rundfunk mit den Nachrichten."
Er raste auf dem Weidendamm zurück, an der wieder aufgebauten Kneiphofinsel mit dem Dom vorbei und dann über die Kaiserbrücke auf die Kaiserstraße.
Moskau: Wie ein Sprecher des Reichsministeriums der Vertriebenen mitteilte, sind die Verhandlungen über die Rückgabe der restlichen unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete abgebrochen worden. Der sowjetische Generalsekretär Romanow erklärte, dass er die Entscheidung der polnischen Regierung respektiere, die die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie als urslawisches - und somit urpolnisches Land - ansehen.
Am Ende bog er auf die Friedrichsburgerstraße, die am Pregel entlang führte.
Er betonte dabei auch, dass die Rückgabe der ostpreußischen Ländereien, die unter sowjetischer Verwaltung gestanden haben, eine einmalige Angelegenheit gewesen sei, die sein Vorgänger Gorbatschow im Zuge einer Annäherung an den Westen initiiert hatte. Da dies jedoch nur einseitig beantwortet wurde, sehe er keinen weiteren Handlungsspielraum für weitere Verhandlungen.
Ein Schild tauchte aus der Dunkelheit im fahlen Schein der Laternen auf: Contienen mit einem Pfeil nach links und Reichsbahnbrücke nach rechts.
"Dann eben so", murmelte er, als er zur Brücke abbog. Unten die Fahrbahn, darüber die tonnenschwere Decke mit den Eisenbahnschienen, die den Nord- mit dem Hauptbahnhof verbanden. Die genieteten Träger rauschten an ihm vorbei, mitsamt einem kreisrunden Schild, auf dem '30' stand, doch er ignorierte es.
Kiel: Wie ein Sprecher der Landespolizei von Schleswig-Holstein mitteilte, wird in der Affäre um den Zentrumspolitiker Barschel nun auch wegen Mord ermittelt, ...
Am Ende wies ein weiteres Schild auf die Ortsteile Kosse, Ratshof und Amalienau nach links, und Vorder-, Mittelhufen und Altstadt nach rechts.
.... da aufgrund von Obduktionsergebnissen eine ungewöhnlich hohe Anzahl verschiedener Medikamente nachgewiesen werden konnte.
Er blieb vor der roten Ampel stehen, schaltete das Radio aus und schaute auf den Zettel, den er zwischen Kassette und Fach geklemmt hatte. 'Elisabeth Reinhardt, Hellferichstraße 2, 9000 Königsberg 1'.
"Die ganze Stadt", murmelte er. "Fangen wir in Amalienau an."
Die Ampel sprang auf Grün um, dann schoss der Porsche nach links davon.
***
Zwischen dem hohen Mauern des Schlosses und dem Schlossteich standen Getränkewagen beinahe akribisch an den wichtigsten Punkten positioniert. Es herrschte ausgelassenes Treiben. Überfüllte Bänke, beinahe durchgesessen. Tische mit Tellern erkalteter Roster, oder deren Überbleibseln. Manche kalten Hände jonglierten mit Bierkrügen und dampfenden Pfeifen oder glühenden Zigarren. Man erzählte sich humoristische Kurzgeschichten und lachte dann über die Pointe. Ab und zu verloren sich einige Leiber in den Schatten des Schlosses und begannen ein zügelloses Spiel der Herzen, während andere sich schwankend an den Theken der Getränkewagen festhielten. Oder mühsam auf den Beinen daneben.
Schuhe trunkener Gestalten klackerten über das alte Kopfsteinpflaster aus Kaisers Zeiten - einige Mitbürger schafften es tatsächlich noch, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. auch wenn sie die Rasenflächen immer wieder übersahen und sich dann meistens einem der kahlen Bäume gegenüber sahen, dem sie munter zuprosteten oder kameradschaftlich auf die hölzerne Schulter klopften und dabei allwissend zunickten.
Die Beiden saßen auf einer halbvollen Bank unweit der Bäume. Auf dem langen Holztisch Aschenbecher, leere Flaschen, zerknüllte Papiertücher.
"Du hast mir immer noch nicht gesagt", fragte Bela und rollte seine Flasche mit dem dunklen Hefeweizen langsam über den Tisch hin und her, "was mit Dir und Lissy war"
"Warum auch", antwortete Ludger. "Das zählt nicht mehr."
"Dabei hat es doch eigentlich gut zwischen euch funktioniert, oder etwa nicht?"
"Gut?"
"Ich mein', ..., ihr seid ziemlich ähnlich." Bela hob hilflos die Schultern. "Ach, verstehst Du, was ich damit sagen will?"
Ludger schüttelte den Kopf.
"Keine Ahnung." Er nippte an seiner Bierflasche und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. "Ich weiß nur, dass es im Nachhinein falsch war, dem Kerl die Nase zu verbiegen, der Sie verprügeln wollte."
Bela schaute verwundert herüber.
"Bist Du fertig?", rief er. "Wieso falsch?"
"Warum nicht?" Ludger drehte das große Hefeglas um seine eigene Achse. "Dann wären wir wenigstens nie zusammengekommen."
"Weil ein Mann eine Frau niemals schlägt!", zischte Bela herüber. "Selbst wenn Sie so hochnäsig und scheiße wie dieser Romanow wäre!"
"Ja ja ..." Ludger nahm eine Zigarette aus seiner HB-Schachtel, zündete sie sich an und reichte seinem Kumpel das Feuerzeug. "Hast ja Recht."
Bela setzte das Feuerzeug an seine Bierflasche an und öffnete sie mit einem ploppenden Geräusch.
"Und wie ich das habe." Er hielt das große Glas schräg und ließ vorsichtig das dunkle Hefeweizen hineinlaufen. "Das macht man einfach nicht."
Unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während die Menschen links und rechts von alledem nichts mitbekamen und ihre trunkene Glückseligkeit weiter hinaussangen.
Ludgers Blick entrückte sich aus der Welt und visierte einen imaginären Punkt irgendwo hinter den Schlossmauern an, während die Zigarette achtlos im Aschenbecher verglühte.
"Wie auch immer", brummte er, nippte an seiner Bierflasche und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. "Das nächste Jahr kann nur besser werden."
Über den hohen Mauern schwappte Musik aus dem Innenhof herüber, überwiegend französische und deutsche Lieder. Nur wenige in englischer Sprache.
"Machen wir gleich noch einen Abstecher ins Blutgericht?", fragte Bela. "Vielleicht kommst Du da mal auf andere Gedanken."
"Wenn wir an den Menschenmassen vorbeikommen - warum nicht?"
***
Der 924er ruckelte über das mit Unkraut übersäte Kopfsteinpflaster der Stagemannstraße. Links und rechts einstöckige Häuser auf ihrem eigenen Grundstück, mit Mauern und Zäunen abgegrenzt. Ab und zu verlor sich ein besser betagteres Haus in das Bild, doch überwiegend beherrschte depressives Grau ohne Zwischentöne die Gegend. Mülleimer, elektrische Sicherungskästen in einem desolaten Zustand, von den löchrigen Bürgersteigen nicht sprechen. Selbst ein kahler Baum ohne sein grünes Sommerkleid wirkte lebendiger, als die tristen Fassaden.
Er fuhr langsamer, schaute auf das Schild in die abzweigende Straße.
"Helferichstraße", murmelte er und konnte die Nummer 2 bereits deutlich am Nachthimmel erkennen. Ein Hochhaus mit fünf Etagen.
Er seufzte, lenkte den Porsche auf den Bürgersteig und parkte.
Viele namenlose Klingeln. Die wenigsten handschriftlich mit einem Namen versehen. Wesselow, Granter, Hinrichsen, ... Er drückte auf ' Reinhardt' im fünften Stock und wartete. Nichts. Ein zweites Mal, dann summte der Türöffner und er trat in den dunklen Hausflur.
"Kein Licht." Ariberth schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hoch. "Natürlich ganz oben."
Spärlicher Schein, der durch den Spalt in den Flur drang. Eine Sicherheitskette, dahinter eine Frau mit blonden Haaren, die ihr bis zur Schulter reichten.
"Ja?", fragte sie. "Was wollen Sie?"
"Ich suche Ludger. Ist er da?", sagte er und stand trotz seiner Kondition leicht nach Atem ringend vor der Tür. "Es ist dringend!"
Blaue Augen, einige Sprossen hatte der Sommer noch als Andenken in ihrem Gesicht hinterlassen. Im rechten Ohr ein Stöpsel, dessen Kabel sich zur TMB in ihrer Hand herab hangelten.
"Der ist weg", knurrte sie. "Wer sind Sie überhaupt?"
"Ariberth Krieger", sagte er. "Sein Bruder."
Ihr Blick huschte über ihn, besah sich akribisch das Gesicht. Dann brummte sie, entfernte die Kette und öffnete schließlich die Tür.
"Kommen Sie rein."
Eine kleine Wohnung. Ein Flur, in dem man nicht zu zweit stehen konnte. Ein Wohnzimmer mit einer umgebauten Balkonzeile, in der sich die Küchengeräte tummelten.
Sie blieb mit verschränkten Armen vor der Brust stehen.
"Was wollen Sie von ihm?", fragte sie und schaute ihn mit einer Mischung aus Missbilligung und Neugierde an.
"Unser Vater liegt im Krankenhaus."
Sie zog eine Augenbraue hoch.
"Er hat keinen Vater mehr", meinte sie. "Jedenfalls sagte er das."
Stille, nur unterbrochen vom Geschrei aus einem der unteren Stockwerke. Dann schüttelte Ariberth den Kopf.
"Er lebt - noch", sagte er und seufzte. "Und werde ihn zu ihm hinbringen. Notfalls mit Gewalt."
Sie grinste.
"Dann werde ich Ihnen helfen."
***
Sie drängten sich durch die Leiber der Massen und standen schließlich vor dem Eingang des Blutgerichts, dem alte Marschstall. Es sah aus wie ein kleines Haus ohne Stockwerk und in die Schlossmauer hineingebaut.
"KOMM!", rief Ludger und zog Bela hinter sich her.
Im Inneren mussten sie zuerst durch den belebten Gastraum, danach über eine hölzerne Treppe halbstöckig hinab in die Tonnengewölbe.
Unten war die Große Halle mit ihren fünf Fässern und den von der Decke hängenden Segelschiffen aller Art. Modernere Schiffe standen auf Anrichten an den Wänden. Tiefhängende Kronleuchter und versteckte Lautsprecher an der Gewölbedecke. In der Mitte der Halle ein großer Holztisch mit ovalen Enden, daneben kleinere. Auf den Tischen standen in gleichbleibender Reihenfolge Kerzenständer, Stapel von Bierdeckeln, Speise- und Getränkekarten sowie Aschenbecher mit großen Aussparungen für Zigarren.
"Erbarmung - ganz schön voll hier!", rief Ludger und schaute auf die Mitbürger, die vor dem Ende des Tages nach hier unten geflüchtet waren. Lachende Gesichter, schwankende Hände mit großen Bierkrügen. Alles vermischt mit dem Geruch von Königsberger Klöpsen, Kuttelsuppe und den alkoholischen Ausdünstungen der Anwesenden.
"Sollen wir hier bleiben?", fragte Bela und nickte auf den links von ihnen beginnenden Gang, der von zwei grinsenden Steinfratzen flankiert wurde. "Oder sollen wir mal die Marterkammer ausprobieren?"
"Marterkammer?"
"Du weißt doch, da wo die ominösen 12 Blutrichter tagten."
"Ach, die Steingesichter von ..., warte mal." Ludger überlegte. "Immanuel Kant? Hannah Arendt? Und ich meine eine Charlotte Wüstendörfer."
"Scheint ja vom Fach Stadtgeschichte doch noch was hängen geblieben zu sein", schmunzelte Bela, als Ludger auf einen freien Tisch hinten beim rechten Fass zeigte.
"Da ist noch frei."
Als sie sich setzten, kam bereits der Küfer mit seiner schwarzen Lederschürze.
"Die Herren möchten schon etwas bestellen?", fragte er und zückte Block und Stift.
Bela schaute Ludger erst fragend an, dann den Küfer.
"Zweimal Pregelgestank bitte."
"Ich bedaure, der Nachschub kommt erst in einer Stunde an."
"Hm", machte Ludger.
"Ich kann den Herren aber das Blutgeschwür empfehlen."
"Blutgeschwür?"
Der Küfer schmunzelte.
"Eierlikör mit Kirschlikör vermischt. Oder auch eine Spezialität des Hauses: die Speicherratte."
Die Beiden schauten sich schweigend an. Dann sah Ludger wieder zum Küfer auf.
"Wir würden gerne mit dem Blutgeschwür anfangen."
***
Ariberth und Elisabeth standen in der Samiter Allee.
"Bela ist der einzige, zu dem er hingehen würde", sagte sie und drückte die Klingel, auf der Chaborsky stand. "Wenn er nichts mehr hat."
"Bela?"
"Ein alter Kamerad. Haben zusammen ihren Zivildienst beim Zivilschutzkorps abgeleistet."
"Ich war viel zu lange weg ..."
"Zu lange? Wo waren Sie denn?"
"Auf einem Lehrgang der Reichsluftwaffe."
"Sie sind Offizier?"
Er nickte.
"So wie in ein Offizier und Gentleman?"
Er drückte nochmals auf die Klingel.
"Reinhardt sagte Sie?"
"Ich bin nicht mit dem berühmten Admiral verwandt, wenn Sie das wissen wollen."
"Sie sagten, sie hätten sich gestritten."
Sie brummte.
"Ja."
Worum ging es denn?
"Nichts", murmelte sie und drückte nochmal.
Ein Fenster im Erdgeschoss öffnete sich und eine alte Frau schaute brummend heraus.
"Suchen sie Bela?"
Sie nickten.
"Der ist mit seinem Kumpel zum Silvesterfest im Schloss losgezogen."
***
Kurz vor Mitternacht hatten die Beiden mit den Schnapsgläsern auf ihrem Tisch beinahe das Schloss nachgebaut. Daneben stand der angefangene Dom der Kneiphofinsel.
"Ludsche, schau mal da", rief Bela, knuffte seinen Nachbarn in die Seite und zeigte auf eine junge Dame, die mit zwei Gläsern in den Händen die Holztreppe aus der Oberwelt herunterkam. Braune lockige Haare, Sommersprossen und scheinbar endlos lange Beine, die irgendwo unter dem dicken Mantel begannen und in schwarzen Reiterstiefeln endeten.
Ludgers glasiger Blick schwenkte nur langsam vom Glas in seinen Händen zu ihr hinüber. Ein Funkeln in seinen Augen, dann sah auch er ihre körperlichen Attribute.
"Nicht ... von ... schlechten Eltern", meinte er, während der Schnaps durch die unruhige Hand bedenklich zu schwanken begann. "Meiner ... Treu ..."
Die junge Dame schaute sich hilflos um. Erst als ihr Blick Ludger traf, entsprang ein warmes Lächeln ihrem Gesicht - und seine Mundwinkel zogen sich ebenfalls auseinander, kurz bevor Sie im Martergang verschwand.
"Meine Güte!", rief Bela und knuffte ihn in die Seite. "Was war das denn eben?"
Ludger grinste.
"Bin eben ein ..., Hingucker." Er schlug unterstützend mit der Hand auf den Tisch. "Sooo siehts nämlich aus."
Bela lehnte sich stöhnend zurück und blinzelte schwer mit den Augen.
"Mensch, ist gleich soweit", sagte er, schaute erst auf seine Armbanduhr, dann zur Treppe. "Und wieder hoch, na das wird was ..."
Ludger trank noch einen Schluck, setzte ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
"Schaffen wa' schon."
***
Der Kaiser-Wilhelm-Platz war beinahe eingeschlafen. Keine Straßenbahnen mehr, nur einige Verliebte, die sich in die Haltestellenhäuschen verirrt hatten und dort das Jahresende mit Küssen ausklingen ließen - unter den wachen Steinaugen der beiden Denkmäler. Der Kaiser und sein Kanzler mit bunten Händen. Irgendein Schmutzfink hatte sie mit roter Farbe besprüht, die kaum abwaschbar war. Daraufhin hatten einige beherzte Bürger noch zusätzlich die Farben Schwarz und Gold aufgemalt - nun glänzten die Hände in den nationalen Farben.
Die Buden waren bereits geschlossen, einzig um die Getränkewagen hatten sich Trauben von Menschen gebildet und hielten nicht nur ihre Flaschen fest, sondern auch sich selbst auf dem gar nicht so schwankenden Schnee.
"Ach Du Schreck ...", rief Ariberth und zeigte zum Schloss, vor dem bereits die Menschen dichtgedrängt am Eingang zum Innenhof standen und tanzten. "Das wird die Suche nach der Nadel im Heuhaufen!"
Über die Mauern und Gebäudeteile des Schlosses drang bereits die Musik herüber und sickerte auf den trunkenen Kaiser-Wilhelm-Platz herab.
"Hat Dich beim Wühlen in den Kissen, denn nie Dein Gewissen gebissen?"
Elisabeth schüttelte den Kopf.
"Seit wann bist Du so abgebrüht?"
"Wir kämpfen uns durch."
"Hast mich so schnell abgeliebt."
"Das dauert ..."
"Womit hab ich das nur verdient?"
"Keine Widerrede", meinte sie und zog an seinem Ärmel. "Ihr seid doch ein Krieger, oder habt Ihr das vergessen?"
***
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