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Dickicht

Cornelia Ilbrig über Guy Helmingers Gedicht

Dickicht


erdfarbenes Licht: die Oberfläche
dieses Teiches
Die Seelen der Karpfen sah man
nicht
So ging ich entfernt von den Alten
in ihrem blattfeinen
Lidschatten nicht ohne Absicht


Sie aber trug schwer an ihrem Profil


Guy Helminger



Das Gedicht führt uns an einen Teich; die Oberfläche des Wassers ist erdfarben, wohl vom Schlamm am Grund des Teiches. Im dritten Vers kommt ein zivilisatorischer Aspekt hinzu, der keine romantische Stimmung angesichts des von wildem Dickicht umgebenen Teiches aufkommen lässt: die Karpfenteichwirtschaft, in der Fische zum Fangen und Töten gezüchtet werden. Wenn von den “Seelen der Karpfen” die Rede ist, handelt es sich wohl um eine Metonymie: Nicht nur die ohnehin unsichtbaren Seelen “sah man / nicht”, sondern ebenso wenig die Karpfen selbst, denen eine seelenlose Maschinerie wie die Teichwirtschaft jede Seele abspricht.

Im vierten Vers nun, nachdem - reichlich ironisch - von als menschlich apostrophierten “Seelen” die Rede war, tritt das “Ich” auf, das im Nachhinein von einem Teichspaziergang berichtet und sich zu den “Alten” in Kontrast setzt. Eine Gefährtin des Ichs wird zunächst nicht erwähnt. Erst der “Lidschatten”, in dem das Ich einhergeht, ist ein Hinweis auf seine weibliche Begleitung. Dieser Hinweis gibt auch gleichzeitig eine dürftige Auskunft über das Verhältnis der beiden zueinander: Das Ich geht im Schatten seiner Begleiterin; steht also eher in zweiter Reihe hinter ihr zurück.
Während das Ich von sich selbst nur preisgibt, in welcher räumlichen Beziehung es jeweils zu den “Alten” und zu seiner Begleiterin steht, handelt der achte, letzte, durch eine Leerzeile abgesetzte und damit hervorgehobene Vers von eben dieser: “Sie aber trug schwer an ihrem Profil”. Damit kommt nun - ‘wassermetaphorisch’ - das Spiegelbild ins Spiel, das bereits im ersten Vers mitklang - das Spiegelbild als “Profil”, an dem die Begleiterin des Ichs “schwer” “trug”. Allerdings ist weder von Spiegelbild noch von Bild noch von Gesicht die Rede, sondern von Profil, von der Seitenansicht eines Kopfes bzw. Gesichts also, die für den Betrachter im Spiegel nicht vollständig sichtbar ist. Ein Spiegel kann uns kein volles Abbild unseres Profils geben; es bedarf der nachträglichen Reflexion. Sichtbar wiederum ist das Profil für den anderen, in diesem Fall für das Ich, das deshalb wohl absichtlich nicht von seinem eigenen Innenleben spricht, sondern von dem seiner Begleiterin, deren Profil er von außen mit einem Blick erfassen kann.

Diese Selbstreflexion macht “sie”, in deren Schatten das Ich wandelt, schwermütig; im Gedicht verstärkt dieser Satz die Melancholie, die schon die Karpfenteichwirtschaft im Kontrast zur unberührten Natur aufkommen ließ. Reflexion ersetzt unmittelbare Anschauung sowie Bildlichkeit, prosaische Gedankenschwere und Tiefsinn ersetzen poetische Leichtigkeit. Im Gegensatz zu den durch Enjambements unterbrochenen ersten sieben Verse steht damit der letzte Vers, ein vollständiger Satz, der einen gewissen Schlussakzent setzt und der nun nochmals auf anthropologischer Ebene erfüllt, was der Titel des Gedichts evoziert: Bilder rufen zu Beginn des Gedichts die Vorstellung eines von wildem Dickicht umgebenen Teiches auf; am Ende ist es die Gefühls- und Gedankenwelt des Menschen, von der das Dickicht Besitz ergriffen hat.