NRW-Anthologie > Beitrag

NRW-Anthologie

Texte aus Nordrhein-Westfalen
Weitere Beiträge
  • Paul Anton Bangen: IM BANN DES MÖRDERBETTES!

    Kommentiert von Marc Degens
    [18.12.2017]
  • Leander Scholz: Fünfzehn falsche Sekunden (Auszug)

    Vorgestellt von Enno Stahl
    [14.12.2017]
  • Klopfzeichen

    von Horst Landau
    [08.11.2017]
  • Thomas Krüger: Dieter Bohlen hat...

    Walter Gödden über einen neuen Gedichtband von Thomas Krüger
    [01.11.2017]
  • Katrin Askan: Miraflores (nach dem Menü)

    Vorgestellt von Kerstin Dümpelmann
    [15.10.2017]
  • Einige wolkige Momente kreieren...

    Enno Stahl über Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht
    [01.10.2017]
  • aufblendabend|abblendtag

    von Sven-André Dreyer
    [14.09.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

zurück zurück | Seite 3 von 4 | weiterweiter

Nicolas Born: Zuhausegedicht

Kommentiert von Gerd Herholz (nebst einem Postskriptum Hermann Peter Piwitt)

Postskriptum
Nachdem ich diese Interpretation des „Zuhausegedichts“ beendet und in der weitgehend korrigierten Fassung Hermann Peter Piwitt zugeschickt hatte, antwortete er mir wiederum freundlich mit zwei Briefen.

In dem einen sandte er mir Kopien von Seiten aus seinem Buch „Deutschland – Versuch einer Heimkehr“ (Hoffmann und Campe, 1981). Auf den Kopien ein Textauszug, der in seinen Ausführungen ziemlich genau jene Zeit einfängt, von der auch das „Zuhausegedicht“ spricht. Der Text präzisiert Piwitts Erinnerungen via Telefon und ergänzt meine Interpretation, widerspricht beidem auch in kleinen Details. In welchen? Ich würde mich freuen, wenn Sie das selbst herausfänden. Damit Sie das können, habe ich Piwitts Textauszug (mit seiner Erlaubnis) für Sie an das Ende dieses Textes gestellt. Ein Bonus-Track sozusagen.


In seinem zweiten Brief weist mich Piwitt noch auf den Hintergrund einer Zeile hin:

„Mit der Zeile: ‚einmal wollen wir für uns selber da sein / und für andere’ verbirgt Born in einer Alltags-Redensart die sozialpsychologische Weisheit: ‚Wir müssen erst einmal zu einem Selbst gelangt sein, um es loswerden, selbst-los sein zu können.’ – Aber wissenschaftliche Weisheiten gehören nicht in ein Gedicht. Ein Gedicht rät in Rätseln. Es muß nicht klüger sein als wir. Es muß gelingen.“


Und hier der versprochene Textauszug aus Hermann Peter Piwitts „Deutschland - Versuch einer Heimkehr“ (Hoffmann und Campe Verlag, 1981). Piwitt verwendet in diesem das Pseudonym „Brandes“, wenn er von Born spricht.

„Im Sommer 1970 kam er zurück und zu Besuch nach Hamburg. Er wirkte heiter; sein Wesen, sein Ausdruck hatten Spielraum, Farben gekriegt. Sogar seine immer etwas zu großen und zu schweren Schuhe trug er jetzt, als paßten sie nur ihm. Daß bei Demonstrationen der Außerparlamentarischen jetzt immer mehr Arbeiter auftauchten, erzählte er aus Berlin. Es klang böse. Das letzte Aufgebot aus den Fürsorgeheimen, von Randgruppen-Strategen verheizt: Von mir aus, sagte er, aber ohne ihn! Er zweifle jedenfalls mittlerweile daran, daß es unsere Aufgabe sei, auf die Misere zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Sich außer Atem bringen zu lassen durch die täglichen politischen Zumutungen, solange bis wir unsere Wünsche, die entwerfende Phantasie, die Vorstellung von einem ganz anderen möglichen Leben darüber vergaßen! Wozu das gut sein sollte? Wir liefen am Dammtorbahnhof vorbei. Das Laub der Kastanienbäume dort war schon braun, jetzt, mitten im Sommer. Wir waren noch ein bißchen schlecht zu Fuß, von der Nacht vorher. Und er versuchte zu erklären, wovon man wegkommen müsse: von einer Literatur, die hechelte, sobald die Realitätsmacher das Glöckchen läuteten. Die nichts als den Freiraum nutzte, der ihr und den angrenzenden Minderheiten ohnehin zugedacht war. Und die das Loch, wo der Klassenstandpunkt hätte stecken müssen, mit O-Ton von Randgruppen stopfte.

War es so? Vielleicht. Vielleicht aber auch unterstelle ich ihm im nachhinein nur Gedanken, Sätze, die ihm so erst ein, zwei Jahre später zur Hand waren. Ich gab ihm Marcuse zu lesen, den er nicht kannte. Und er war überrascht, wieviel es für ihn hinzuzulernen gab. Wieder wurde die Nacht lang, und wir redeten bis in den nächsten Morgen hinein.

Wir stellten uns eine Welt vor, in der Marilyn Monroe vor ihrem Tod hätte anrufen können, dich und mich. Nein, nicht einmal das; denn in dieser Welt sollte es Stars und andere Desaster gar nicht erst geben. Und wir stellten uns diese ganz andere Welt auch gar nicht vor. Sie existierte schon im Hier und Jetzt unserer Phantasie, und zwar in Bildern und Szenen, die zunächst einmal nichts bedeuten, beweisen sollten als sich selbst. Menschen, die sich freuten am Gefühl des seltenen Metalls in der Hand, das einmal Geld hieß. Arbeit am Fließband? Alptraum eines utopischen Schriftstellers. Um zehn geht das Licht aus: denn im Licht gedeiht die Kriminalität. PKWs kann man kaufen, aber es gibt keine Nachfrage danach. Verfügbar sind alle Güter des Gebrauchs. Aber wer sich zuviel davon bedient, verliert die Achtung der anderen. Für Kleidung gibt es nur wenige Stoffe, Modelle und Muster; zu wenige, um sich darin von anderen abheben zu können. Jeder macht sich daraus das Phantasie-Kostüm, das ihm am besten paßt und steht. Und nichts ist so verpönt wie die Uniformität des Individuellen: schließlich sind Kleider zum Tauschen gemacht.

Und sogar für die Realisten war noch Platz: als Spaßmacher für die Kinder.
Wir dachten an einen Film.

Wo aber blieb dabei die alte, die verkehrte Welt? Es gab sie noch, eingeigelt, als Enklave; ein Freilicht-Museum zur Abschreckung, von innen verbarrikadiert. So etwas wie die Schweiz in fünfzig Jahren. Und der Blick fällt auf sie aus den staunenden Augen des Externen. Ein Flüchtling von dort bringt die Konfrontation: Er fragt nach ‚mein’ und ‚dein’, nach ‚Vater’ und ‚Mutter’, er benimmt sich wie ein Mann, alles an ihm wirkt weltfremd, unnatürlich. Er wundert sich, daß die Fernsehantennen auf den Dächern in Richtung auf die alte Welt gedreht sind. Und wird belehrt: >Es ist alles so komisch da. Wir lachen gern.<

Wir redeten tagelang. Dann schrieben wir Briefe. Und wir merkten schnell, wie schwer es tatsächlich war, Bilder zu finden, Szenen zu schreiben, die ausmachten, was wir wollten. Wir wußten, was wir nicht wollten: keine konventionelle Zukunftsversion. Weder Horror noch Satire. Keine dieser Utopien, technisch immer auf dem zweitneuesten Stand der Futurologie. Nichts, wovon ein Sozialist sagen konnte: >Aber das wollen wir doch auch. Bloß, so schnell schießen die Preußen nicht!< Und ein Westler: > Ihr seht doch an ‚drüben’, daß das nicht geht!< Und schon gar nicht ein geschlossenes System, die heile Welt, das Schlaraffenland.

Aber was dann? Aus der Stanley-Baxter-Show des britischen Fernsehens war mir ein Sketch in Erinnerung geblieben: ein Vogelstimmen-Imitator ahmt vor einem Varieté-Agenten auf die kunstvollste Weise verschiedene Vögel nach. Aber der Agent schüttelt nur gelangweilt den Kopf. Er kennt das alles. Es ist ihm vertraut. Es ist nicht das, was er sucht. Da hebt der Künstler die Arme und fliegt unter dem grenzenlosen Staunen des Agenten aus dem Fenster davon. Ich glaube, darum ging es: das scheinbar Unvorstellbare hier und jetzt so beiläufig wie phantastisch und schön passieren lassen, daß es beim Zuschauer das Staunen und den Schmerz weckt über das, was im tagtäglich entging.

Nicht, daß in unserer ganz anderen möglichen Realität jemand mit den Armen rudernd davon fliegen sollte. Aber was war mit dem Varieté-Agenten? Hatte er denn nicht insgeheim schon einmal von einem Vogelstimmen-Imitator geträumt, der flog? Und nun war er ihm davongeflogen.

Wir begriffen, daß wir unsere Bilder und Szenen, wenn sie überhaupt verfangen sollten, entfalten mußten aus Träumen, Wünschen und Glücksvorstellungen, die es - obschon verschüttet oder abgetrieben - schon gab. Nur den Zweihundertmillionsten Teil dessen, was sie täglich sehen, nehmen die Menschen tatsächlich wahr. Was war mit den übrigen Hundertneunundneunzigmillionenneunhundertneunundneunzigtausend-neunhundertneunundneunzig?
Was mit den Wahrnehmungen, die unbewußt blieben, weil sie nicht vorkamen im - wie Brandes es dann ausdrückte - >eingepaukten WirklichkeitskatalogEs gab ein Terrain, das unsern Optimismus rechtfertigte, so abwegig es schien; denn groß und breit sichtbar für alle stand draußen das Schild >Manipulation<: Ich meine die Werbung. Planmäßig forschte sie das Unterbewußtsein, die unterdrückten Wünsche, die insgeheimen Träume der Menschen aus, bildete sie ab und legte die Bilder als Köder aus für Waren, deren Herstellung und Verbrauch die ursprünglichen Wunschziele in immer unerreichbarere Ferne rückte. Erreichbar war nicht das Reyno-Paar, das in leichten Kleidern über die sommerliche Waldwiese lief; erreichbar war nur die Reyno. Erreichbar nicht länger die saubere Brandung, der einsame, klare Wasserfall, der vom Sommerregen frische Park, sondern die Seife Fa, Sinalco und Elidor, für die damit geworben wurde. Und wo der Wunsch, einfach irgendwohin zu fahren, weltfremd wurde, wurde der Schlager > Wir zwei fahren irgendwohin< unwiderstehlich.

zurück zurück | Seite 3 von 4 | weiterweiter