All diese alltäglichen Glücksvorstellungen, soweit sie in den schönen Bildern der Werbung nicht schon vorlagen: mußten wir uns nicht erst einmal zu ihnen durchfragen, wenn wir nicht einfach über die Köpfe der Menschen hinweg, das heißt, nur nach unserer Fasson, ein Konzept durchpauken wollten? Wenn überall nur die falschen Antworten kursierten - lag das daran, daß die richtigen Fragen nicht gestellt wurden?
Also fragen. Aber wie fragen, ohne bei den Befragten gleich den Bildzeitungs-Radar zu alarmieren? Waren nicht Fragen politischen Inhalts immer schon unbrauchbar? Die schweigende Mehrheit: war sie denn von Politik etwa nicht immer nur reingelegt worden? >Produktivkräfte<, >Produktionsverhältnisse<, >Kapitalismus<, >konservativ<, >fortschrittlich<, >industriell<, >postindustriell<: Hatten wir, in solchen begrifflichen Reglementierungen, nicht die Wirklichkeit uns selbst schon allzu handlich gemacht? Unsere eigenen Wünsche und Sehnsüchte schon darin aufgebahrt?
In Gailingen in Württemberg, wo Brandes nun für eine Zeitlang wohnte, wanderten wir ein paar helle Herbsttage lang in den Uferhängen des Hochrheins herum und dachten uns neue, ganz andere Fragen aus, Fragen, mit denen sich der Zugang zu den unprogrammierten Wünschen erschließen ließ. Fragen, die nicht nur naiv klingen, sondern sein sollten. Die Licht machen sollten, statt hinters Licht zu führen. Fragen, die - gerade weil sie unpolitisch waren - politische Antworten zu provozieren geeignet waren und den Mut zu ganz neuen, anderen Tatsachen.
>Möchten Sie gerne regiert werden?
Haben Sie einen besten Anzug und sind Sie darin ein anderer Mensch?
Würden Sie es unerträglich finden, nichts zu besitzen, wenn allen alles zur Verfügung stünde?
Sie haben drei Wünsche, die Ihnen unter der Bedingung erfüllt werden, daß sie allen anderen auch erfüllt werden. Wie lauten diese Wünsche? Und welchen persönlichen Vorteil hätten Sie davon?
Möchten Sie einmal etwas Verbotenes tun? Was?
Keiner streitet gern mit seinem Partner über Geld. Worüber möchten Sie mit ihrem Partner gern streiten? Welche Probleme hätten Sie gern?
Stellen Sie sich vor, Sie könnten mit dem Menschen, den Sie lieben, auf einer Südseeinsel leben: Woran fehlt es hier, wenn Sie an so ein Leben denken?
Würde Ihr Chef für Sie durchs Feuer gehen?
Was würde Ihnen Spaß machen, das kein Geld kostet?
Wären Sie lieber reich oder lieber glücklich?
Wenn Sie einmal zu Hunderttausenden sprechen könnten, was würden Sie sagen?
Möchten Sie gern mitbestimmen wollen darüber, was mit dem Geld, das Sie auf der Bank haben, geschieht?
Könnten Sie sich ein Leben vorstellen, in dem Sie jedem Menschen, dem Sie neu begegnen, mit Freude begegnen?<
Am Ende hatten wir etwa fünfzig Fragen zusammen. Wir stellten sie zwei Zigarettenarbeitern, einer Gastwirtin, einem Fahrstuhlführer, einem Angestellten im öffentlichen Dienst, einer Kellnerin. Insgesamt erst mal einem Dutzend Leuten. Wir hatten uns Rückendeckung von ihnen erhofft, Baumaterial für die Gegen-Wirklichkeit, die wir ins Bild setzen wollten. Und zu unserer Überraschung bekamen wir sie. Da war, 1970, unter den Befragten niemand, der nicht von einer Verlangsamung des Lebens geträumt hätte, von den langsamen Fahrzeugen der Zukunft. Niemand, der nicht gern weniger Konsumgüter in Kauf genommen hätte um der Güter willen, die die Natur kostenlos produziert: Sonne, saubere Luft, Flüsse und Seen, in denen man schwimmen konnte. Und keiner wollte mehr Geld, vorausgesetzt, daß auch andere nur so wenig verdienten wie er. Eine Zigarettenarbeiterin wäre gern mit der Postkutsche nach Italien gefahren. Und es war eine CDU-Wählerin, die sagte, daß wir für den Sozialismus doch schon alle viel zu kaputt seien; dabei war das Wort überhaupt nicht gefallen.
Es gab auch Antworten wie die auf die Frage nach der Südsee: >Südsee? Da gibt es Sonne, Fische, Früchte, eigentlich alles, was man zum Leben braucht - bloß keine Arbeit!< Aber das Wahnsystem Realität, kraft Lob und Strafe eingeübt: Was Wunder, wenn es nun als Sachzwang aus ihnen sprach?
Daß den Menschen Bilder von einer ganz anderen möglichen Wirklichkeit im Kopf aufgingen, vorausgesetzt man fragte nach ihnen statt nach der Nachfrage: das jedenfalls hatten wir plötzlich auf Band. O-Ton? Gut. Aber denn doch wohl nicht den der üblichen Misere.
Wir sind mit unserem Projekt trotzdem nie über ein Exposé hinausgelangt. Ein Verantwortlicher bei einem Sender sagte uns, daß es ihn nicht vom Stuhl risse. Wir antworteten ihm, daß das auch nicht das Ziel unserer Arbeit gewesen sei. Einem anderen verdankten wir die leihweise Überlassung eines Aufnahmegerätes. Dann saß ich im Ausland und schrieb etwas ganz anderes. Und Brandes stellte seine neuen Gedichte zu einem Band zusammen. Er ist - um in seiner augenzwinkernden Spezialrhetorik zu bleiben - sein >Hauptwerk< geblieben. Plötzlich tauchte darin das Wort >Glück< auf. >Glück<, das hieß in den schweifenden und schwebenden Versen dieser Jahre das Aufplatzen des Wahnsystems Realität in einem unvermuteten Augenblick des Alltags, einem Augenblick des Ausgeschlafenseins am Morgen, einem Frühstück, einer unverhofften Zärtlichkeit. Es gab den Begriff >alternatives Leben< noch nicht, da sammelten sich im Alltag seiner Gedichte alle Glücksvorstellungen und -vorgefühle darauf. Und er hatte mich daran teilhaben lassen.
Daß keine zehn Jahre später, auf dem Bohrplatz 1004 bei Gorleben, vieles von dem Wirklichkeit werden würde, was jetzt noch ein Gedicht war, hätte er sich nicht träumen lassen. Eher schon in Reichweite unserer Alpträume hätte gelegen die Arroganz, mit der hier etwas niedergewalzt wurde, woran man hätte studieren können, was Leben sein kann.
Glück - was bisher Augenblick gewesen war- Brandes versuchte es nun auch in seinem Leben festzumachen. Und in seiner breitschultrigen hausvaterhaften altdeutschen Art schien ihm auch das zu gelingen. Er begann sich sein Leben einzurichten. Sein Leben. Mit Frau und Kindern. Und einem Bauernhaus auf dem Land. Und wenn er sagte: >Komm, wir werden einen Braten in die Röhre schieben!< dann war das ein Zuhause. Der alte Schmökerraum: von Krieg und Liebe heimzukehren an Haus und Herd - noch einmal wurde er ausprobiert. Von ihm. Aber er, der soviel aushielt, hatte bald mehr am Hals davon, als er schleppen konnte. Das Haus, das ihm abbrannte. Kredite, die zu Buch standen in einer Größenordnung, in der ich nicht einmal zu träumen wagte. Und Affären, die ihn würgten, ohne daß er sich auch nur einen Deut davon erklären wollte.
Je geräumiger er sich auswuchs, mit Hausstand, Familie, Mobilien und Immobilien, desto mehr schien er sich nun selbst darüber zu verfestigen. Und alle seine Anläufe zum Glück schienen mir nun gekoppelt mit der Erfahrung des Zusammenbrechens, des Sich-zerschlagen-Fühlens, mit Tod.
Einmal auf dem Bauernhof von Stuttgart, hatten wir uns umarmt. Man umarmte sich damals nicht bei jeder Gelegenheit wie heute. Es war etwas Besonderes. Und als ich im Zug saß, dachte ich, daß nun unsere Freundschaft auch zu Ende gehen und jeder seines Weges gehen könnte. Jeder war nun irgendwie dort angekommen, wo der andere hergekommen war: Er ein bißchen oben und ich ein bißchen unten. Was hätten wir noch voneinander lernen können?“