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Thomas Geduhn: Lob der Langeweile

Eine virtuelle Reise ins Reich der Muße

Nach dem ersten Sattsehen beantworten die Mitglieder der Testgruppe allgemeine Fragen der Reiseleitung, die sie anschließend wieder geschlossen nach draußen bittet. Durch die kleine Schlucht schlendern sie zum Strand. Dort hat die Reizebbe eingesetzt. Am Meeressaum schwappt das Wasser träge gegen den Sand. Weit hinten, soeben noch gegen die vom Dunst geformte Luft sichtbar, zeichnen sich Umrisse von Häusern ab.

Die mittägliche Luft ist von einem tiefen und lang anhaltenden hhhmmm erfüllt. Die ungewohnt intensive Stimmung ängstigt die uninformierten Testreisenden ein wenig. Sie befinden sich -wie so manch einer heutzutage- in einem akuten Sog abgeriegelter Wahrnehmungen.

Die Reiseleiterin kann in diesem Niemandsland momentan nicht helfen. Sie hat sich ohne Ankündigung zur Auswertung ihrer ersten Aufzeichnungen zurückgezogen. Diese Auswertungen werden später die Grundlage eines Empfehlungsberichtes sein, der mit darüber entscheidet, ob die Geschäftsführung diese Reise in das Programm aufnehmen wird.

Zum Abend hin ist die Leiterin wieder vor Ort und nimmt sich der Fragen der Probanden an. Es gibt jedoch keine nennenswerten Probleme und die Stimmung in der Gruppe ist jetzt im absolut optimalen Bereich. Somit besteht die Gelegenheit, zum letzten Tagespunkt zu kommen: ein gemeinsamer Spaziergang zu einem der Häuser. Von irgendwoher ist der Klang dumpfer Trommeln zu hören. Vor dem Betreten des Hauses bittet die Betreuerin zunächst um besonderen Respekt vor der Person, die in diesem Hause lebt, und sie klärt die Gruppe über einen weiteren wichtigen Aspekt dieser Reise auf. Den nämlich, dass Muße und dass ´dolce far niente` sich nicht von alleine einstelle. Vielmehr sei dies das Ergebnis eines entschlossenen Verzichts!


Ein typisches Merkmal für die Architektur der weltweit etwa 350 Millionen Ureinwohner, die in nicht mobilen Unterkünften leben, sind Einraumhäuser. Das Haus des Mannes, den die Gruppe besucht, macht da keine Ausnahme. Es handelt sich um den Häuptling der Faulpelze. Er heißt Reel-Tiez; halb Oblomov, halb Lenz aus Büchners Woyzeck, der sich aus lauter Langeweile noch nicht einmal selbst töten wollte.

Der Oberfaulpelz ruht ungeniert auf einer landestypischen Liege und scheint nicht gerade auf uns gewartet zu haben. Er hat langes dunkles Haar, das er offen trägt. Bekleidet ist er mit einem Schurz. Darüber trägt er einen kostbaren Federmantel, der kahu genannt wird. Unter schweren Lidern blinzelt er seine Besucher an. Nach einer Zeit des Dies und Das will schließlich ein Reisender wissen, ob er als Häuptling denn nichts anderes tue als faulenzen. Vergeblich versucht Reel-Tiez zu antworten, aber seine Faulheit nötigt ihn zu einem wohligen Schweigen. Nein, es wird deutlich: dies ist kein Lenz, kein Oblomov. Dies ist, wenn überhaupt, Nietzsches Magyar, die Gestalt der Faulheit, von der er wenig vornehm behauptet:" Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen. (...) Die feinsten und thätigsten Thiere erst sind der Langeweile fähig."


Gähnend bleibt Reel-Tiez liegen und grübelt wie es scheint über seine Faulheit, aber er ist zu faul, um sein Grübeln zu Ende zu führen. Die Antwort bleibt aus. Aber auch so ist den Probanden klar geworden, dass ein Häuptling der Faulpelze kulturtypische Verhaltensweisen vorbildlich zu leben hat. Vor seinen zufallenden Augen verschwindet der Raum in dichtem Traumnebel, und die Gruppe erkennt die Sehnsucht nach tiefem Schlaf auf seinem Gesicht. Die Reiseleiterin bittet die Testgruppe freundlich aber bestimmt nach draußen. Dort befragt sie wiederum die Gruppe nach ihren akuten Eindrücken; dann hängt jeder seinen persönlichen Gedanken nach.

Der eine glaubte immer schon, dass die Muße eine Geisteshaltung sei. Jeden Tag, so empfehlen ihm diverse Ratgeber, von denen der Häuptling der Faulpelze nichts weiß, solle man sich mindestens zwanzig Minuten Zeit nehmen, nichts zu tun. Reel-Tiez würde sich darüber, so er nicht zu faul wäre, vor Lachen ausschütteln. Wie schon Paulo Coelho würde er sich möglicherweise fragen, ob die Fremden, die ihn besuchten, überhaupt einen Ausweg aus der Schnelllebigkeit finden können.


Wie wollen wir leben, fragt sich ein anderer. Beschleunigte Zeit verkleinere doch die Erfahrungsräume. Die Gegenwart entziehe sich damit immer mehr der Erfahrbarkeit. Was bleibe, sei die Erkenntnis, dass die beschleunigte Zeit der Gegenwart die Möglichkeit nehme, sich als Gegenwart zu erfahren. So betrachtet ist es verständlich, weshalb die Reise ins Nadolny-Territorium unverzichtbar ist und in das Angebot aufgenommen werden muss. Und ungeachtet des hohen Preises müsse sich jeder Mensch, so die Geschäftsleitung von ´Reise mit Weile`, diese kostbare Ware gönnen können. Mithin ist verstehbar, dass Ereignisse sonst, ihrer symbolischen Bedeutung weitgehend beraubt, auf sich selbst reduziert werden. Eventkultur, Spektakel, alles live, eine vollständige Nabelschau: Leben aus dem Kreissaal der gestanzten Wirklichkeit!

Einer der Mitreisenden zeigte sich später noch als gebildeter Mensch und bezog sich mit folgendem Zitat auf Goethe: «Was verkürzt mir die Zeit? Tätigkeit! Was macht sie unerträglich lang? Müßiggang!» Gleich anschließend behauptete er jedoch mit Erich Kästner, «... doch wer schuftet ist ein Schuft!»


Ein Meister des Zen würde diese Zitate sicher erstaunt zur Kenntnis nehmen. Seine Antwort auf diese preußische Haltung Goethe´s würde lauten: «Tu nicht einfach irgend etwas; sitz` nur da.» Und Goethe´s englisches Pendant, William Shakespeare, hatte seinen Gänsekiel schon differenzierter am Puls der Zeit als sein deutscher Kollege: «Die Zeit vergeht bei verschiedenen Menschen verschieden schnell.» So weit, so verschieden.


Wie schnell doch unsere Tage im schwarzen Loch der Lebensuhr verschwinden. Die Zeit ist für uns Menschen eben endlich. Dabei kennt unser Zeiterleben durchaus den wohltuend gleichmäßigen Fluss, aber auch die verdichtende Beschleunigung und die breite Verzögerung des Zeitsstroms. Im Traum und in besonderen Momenten des Erlebens kann sich der Zeitverlauf sogar aufheben. Man nehme nur die Muße oder die bewusst hingenommene Langeweile als Beispiele. Zeit nimmt man sich nicht – Zeit hat man! Doch ist das die Wirklichkeit?

Wenn überhaupt, so denken die meisten Menschen im Alltag nur selten an ihr – neben der Gesundheit - kostbarstes Gut, welches sie von Geburt an besitzen.


Aber man kann ja im Kleinen anfangen: bewusst gesetzte Auszeiten in das Alltagskarusell einbauen, sich den Beschleunigungswünschen der Umgebung wo immer möglich ins Nadolny-Territorium entziehen. Erzwungene Wartezeiten einmal nicht als verlorene Zeit wahrnehmen, sondern sie mit Gesprächen, Beobachtungen oder einfach mit Nachdenken verschönern. Wenn wir schon keine Zeit mehr haben, weil der sogenannte ökonomische Verwendungsimperativ sie uns geraubt hat, dann müssen wir sie uns eben wieder nehmen, (oder schenken), wo immer es geht.

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