Leseprobe:
GERRIT
Wien? Eine Unwirklichkeit. Und niemand, mit dem man darüber sprechen konnte. Ob war, was war, oder ob nicht eher ein solipsistisches Prinzip vorlag. Falls ja, hätte sich Gerrit nur zurückziehen müssen, am besten in sich selbst mit geschlossenen Augen, um die Außenwelt und somit die Zerstörung auszulöschen.
Gerrit saß starr in einer Gabelung des alten Feldahorns, der ihm früher ein Ärgernis gewesen war, weil er seine im Mezzanin gelegene und ohnehin sehr dunkle Ein-Zimmer-Wohnung zusätzlich beschattet hatte. Dichtes Blätterwerk, fast zum Greifen nah. Grünes Licht nur am Vormittag, ein seltsamer, indirekter Effekt durch die Spiegelung der Morgensonne in fremden Fenstern. Besonders im Mai war das so gewesen, bis sich der Erdwinkel wieder verschob Richtung Sommer, Richtung Herbst, Richtung Winter, hin zu den nackten, braunen Ästen, die in Gerrits Zimmer zeigten.
Früher hatte er den Baum mit glosenden Zigaretten beworfen. Er hatte ihm mehrere Flaschen Abflussreiniger zwischen die Wurzeln gegossen, im Beisein zweier Freunde. Alle drei besoffene Philosophie- und Kunststudenten auf einem Feldzug gegen den Baum des Grauens, wie sie ihn nannten. "Horror vacui" schrieben sie auf ein Schild und nagelten es an den Stamm. Die Scheu vor der Leere, verachtenswert. Wer brauchte den Baum? Eine freie Fläche, vielleicht ein paar niedrige Büsche, aber eine freie Fläche, ein Platz wie im Zentrum Livornos zum Beispiel, ein gepflastertes Nichts als Ideal. Hier, mitten im fünften Bezirk, dessen Miniaturausgabe. Eine Petition wollten sie einreichen, ein Kunstprojekt daraus machen, eine Förderung beantragen für die sicher aufsehenerregende Aktion, weil gegenläufig zum Trend des Guerilla Gardenings mit seinen Seed Bombs und der an Wände geschmierten Moosmilch.
"Die Stadt gehört dem Beton", murmelte Gerrit, "das Land gehört den Bäumen." Die Augen schließen, dachte er, nichts existiert, wenn ich es nicht sehe. Das Licht blendete ihn ohnehin. Kein Haus in der Umgebung hatte dem Unglück standgehalten. Ein weites, helles Trümmerfeld, von Gräsern und Blumen durchbrochen.
(S. 42f.)
© 2017 Otto Müller Verlag, Wien