Mein erster Tag in Rente hat damit begonnen, dass ich nicht aufgewacht bin. Wer nicht schläft, muss nicht aufwachen, wer die ganze Nacht rauchend im Bett liegt, braucht keinen Radiowecker mit Digitalanzeige, weil er immer ganz genau weiß, wie spät es ist.
Halbvoller Aschenbecher: ein Uhr. Voller Aschenbecher: drei Uhr. Überquellender Aschenbecher: Guten Morgen!
Habe ich erwähnt, dass ich keinen Aschenbecher habe, sondern eine Salatschüssel?
Ich liege im Bett und bin wach, seit ich mich hingelegt habe. Der erste Tag im letzten Abschnitt meines Lebens, und alles ist wie immer. Ziemlich enttäuschend, wenn Sie mich fragen. Und dann fällt mir der Bus ein.
Bei der Vorstellung, dass ich heute nicht mit den anderen Matschgesichtern im Bus sitzen werde, bekomme ich so etwas wie gute Laune. Eine Ahnung davon. Zur Feier des Tages bleibe ich einfach liegen und zünde mir eine neue Zigarette an der alten an. Draußen wird es langsam hell, der Regen wechselt von stark zu strömend, die Salatschlüssel auf dem Nachttisch sagt mir, dass der Bus zum Theater in zehn Minuten losfährt. Die Erfahrung sagt mir, dass er wie immer voll ist.
Voller Frauen.
Die Putzkolonne, die Ankleiderinnen, die Garderobierinnen, das Kantinenpersonal, die Souffleusen, die Kassenfrauen. Alle, die auf der Gehaltsliste ganz unten stehen und sich kein Auto leisten können. Alle, die es nicht geschafft haben und nie schaffen werden, weil die Aufstiegschancen einer, sagen wir, altgedienten Souffleuse zur, sagen wir, dynamischen Pressesprecherin eher gering sind. Schon deswegen, weil Souffleusen ihr Leben lang flüstern oder raunen und es noch keine Pressesprecherin mit Flüstern und Raunen weit gebracht hat.
Ich liege im Bett.
Ich rauche.
Ich bin im Ruhestand.
Aber in Gedanken, da bin ich ganz bei euch, Mädels!
Ziemlich nett von mir, finde ich, bei dem Wetter. Und wisst ihr was, Mädels? Ihr habt es verdient. Weil wir sind alle Schwestern, wir einfachen berufstätigen Frauen, und wir stehen jeden Morgen wie ein Mann an den Bushaltestellen dieser Welt, Schulter an Schulter, Seite an Seite.
Schon spannend, so ein Leben als einfache berufstätige Frau. Fast so spannend wie das Leben als Rentnerin. Von welchen wollen Sie mehr hören?
Doktor Klupp kritzelt etwas in sein Notizbuch. Wahrscheinlich malt er gerade ein kleines Bienchen, weil ich so brav kooperiere.
"Solange sie bei der Wahrheit bleiben, Frau Block, ist mir jede Erinnerung aus ihrem Leben lieb."
Das ist lieb von Ihnen, Herr Lehrer.
"Na dann", sage ich und deute eine hüpfende Bewegung an, "dann machen wir jetzt einen kleinen sportlichen Zeitsprung. Raus aus dem Faulbett der Rente und rein ins Arbeitsleben. Kapitelüberschrift: Ein ganz normaler Tag im Leben einer einfachen berufstätigen Frau."
S. 40