Maria schaltete das Telefon ab und den Handstaubsauger an, um jeden noch so kleinen Splitter zu ergattern. Ihr Blick fiel auf Jack und das kaputte, offene Fenster. Sie schaltete wieder ab, scheuchte den Kater aus dem Wohnzimmer, zog die Tür zu, zerrte sich das Schlaf-T-Shirt vom Körper und drehte im Bad die Dusche auf. Das kalte Wasser verzog ihr Gesicht zu einer Maske. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Eiskalt. Maria konnte nicht mehr unterscheiden, ob sich ihr Gesicht vom Schlaftaumel oder vom eisigen Wasser taub anfühlte. Sie musste munter werden. Dieser Tee gehörte auf die Drogenliste - und Alpträume bescherte er auch, wenn die Bilder wahr waren, die in ihrem Kopf gerade Gestalt annahmen. Diese Peitschen! Diese hässlichen Peitschen! Oh, wie sie Peitschen hasste. Und dann die Lichtgestalt. Phillip. Oh, nein! Diese Sehnsucht. Was für ein Rückschlag. Tage und Wochen des Abtötens ihres Gefühls für ihn völlig umsonst. Für nichts und wieder nichts. Das durfte einfach nicht sein. Und sie hatte wirklich gedacht, die Sehnsucht nach ihm im Griff zu haben. Und jetzt dieser Traum. Phillip wohnte in ihr. Raumgreifend. Schmerzhaft. Gnadenlos. Seit zwei Monaten, seit diesem vermaledeiten Tag, an dem er ihr als Partner zugeteilt worden war, seit dieser Gefühlsverwirrung, die sie bei ihrem ersten Fall überfallen hatte, seit ihrem ersten und letzten Kuss damals, seit einundsiebzig Tagen kämpfte sie dagegen an. Umsonst. Das durfte sie ihm nie zeigen. Er würde mit ihr spielen wie eine Katze mit der Maus. - Doch wie sollte das gehen, wenn sie jetzt gleich sein liebes Gesicht sehen würde? Als Maria sich abtrocknete und im Spiegel ihre glänzenden Augen sah, war sie ob ihrer selbst verzweifelt. Schon spürte sie ihre Hand, die das Make-up griff. Sie hielt inne. Der beste Beweis dafür, dass frau sich nichts aus einem Mann machte, war, dem Mann ungeschminkt gegenüberzutreten. Sagte Elsa. Aber war es nicht auch die größte Intimität? Nein, so dachte nur sie, in ihrer Gefühlsduselei, Elsa kannte sich mit Männern aus. Maria zwang ihre Hand, die Wimperntusche wieder wegzulegen, und streifte sich ein androgynes Sweatshirt über. Auf in den Kampf. Phillip als das sehen, was er war: ein Macho, der Gott sei Dank auch positive Seiten hatte, und ein Tabu. Also los. Eine Leiche wartete auf die ihr gebührende Aufmerksamkeit.
Als sie in die Thaliastraße einbogen, überwältigte der Anblick Maria endgültig. Rot. Ein einziges Rot. Die seit Wochen über der Stadt hängende Dunstglocke tat ihr Übriges, indem sie das Leuchten widerspiegelte und dadurch intensivierte. So musste es im alten Rom ausgesehen haben. Und plötzlich verstand Maria einen Funken von dem, was Pyromanen antrieb. Es hatte etwas Martialisches. Und Endgültiges. Die Asche ihrer Zigarette fiel ihr auf die Hand. Das holte Maria in die Realität zurück. Und sie registrierte, dass auch Phillip reglos in das Unglaubliche starrte. Das Auto stand. Sie machte einen Schluck aus der Thermoskanne und verzog das Gesicht. Im eiligen Aufbruch hatte sie vergessen, den Tee zu zuckern. "Wir sollten dort oben ankommen, bevor der neue Wald gewachsen ist." "Fuck, das wird dauern. Tausend Jahre - und jetzt passiert ihm das." Phillip ließ das Auto wieder anrollen. Mehr als Schritttempo war nicht möglich, denn die Straße war bevölkert wie bei einem Jahrmarkt. Pyjamas mischten sich mit schnell übergestreiften Jeans, notdürftig durch Mäntel bedeckte Nachthemden mit hastig geschlossenen Kleidern. Ganz Wien schien auf den Beinen zu sein. Viele strömten einfach zu Fuß dem roten Licht entgegen. Andere hatten sich auf ihre Räder geschwungen, wieder andere stauten sich mit dem Auto in Richtung Berg. (S. 10ff.)
© 2004, Rotbuch, Hamburg.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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