Rom hat heute morgen nach einem ereignisarmen Sommer einen "Colpo di scena" erlebt, einen Theatercoup in Form einer ebenso unerwarteten wie dramatischen Wendung im vielbesprochenen Fall Montesi. Die Nachforschungen um den geheimnisvollen Tod der schönen Römerin, die nach den Enthüllungen im Prozeß gegen den Journalisten Muto notwendig wurden, liegen schon seit einigen Wochen in der Hand des Untersuchungsrichters Raphael Sepe. Von seiner Arbeit, die während der üblichen Sommerpause weiterging, hörte man wenig, und viele hatten es schon aufgegeben, eine Klärung des Falles zu erwarten. Als vor wenigen Tagen jedoch die Verhaftung von drei Wächtern aus dem Jagdbesitz Capocotta bei Rom, dem Eigentum des Marquese Ugo Montagna, bekannt gegeben wurde, begann man zu ahnen, daß Sepe den Schlüssel zum mysteriösen Tod der Montesi gefunden hatte, daß endlich konkrete Anhaltspunkte gefunden waren, nachdem die von der ehemaligen Geliebten des Marquese aufgestellten Behauptungen unbewiesen geblieben waren. Die dramatische Wendung, die nun eintrat, ist darin zu sehen, daß Sepe heute vier prominenten Persönlichkeiten, von denen drei immer wieder im Zusammenhang mit dem Fall genannt wurden, die Pässe entzog: und zwar dem Sohn des Außenministers Piccioni, dem Marquese Montagna und dem ehemaligen Questor von Rom, Polito. Bei der vierten Persönlichkeit, die von dieser Maßnahme betroffen ist, handelt es sich - und darin besteht die Sensation für Rom - um den Enkel des Königs Victor Emanuel III., den 28jährigen Prinzen Moritz von Hessen. Der Prinz von Hessen ist heute nachmittag von Capri nach Rom gekommen, um sich für die Vernehmung durch Sepe bereitzuhalten. Der Name des Prinzen von Hessen tauchte nur einmal zu Anfang des Prozesses auf, da er am Todestag der Montesi, am 9. April, und am darauffolgenden 10. April in seinem Wagen jedesmal mit derselben Dame in Capocotta gesehen worden war. Seit jedoch der Ex-Questor Polito, dem ebenfalls der Paß entzogen wurde, damals erklärte, daß der Besuch an beiden Tagen mit derselben Dame für den Prinzen ein einwandfreies Alibi bedeute, wurde sein Name nicht mehr erwähnt. Moritz von Hessen reiste ab, nahm an der vom König von Griechenland organisierten Seereise der Könige auf der "Agamemnon" teil, kehrte erst vor kurzem von dieser Fahrt zurück. Im Verlauf einer neuerlichen Autopsie hatte sich inzwischen ergeben, daß die Montesi gar nicht am 9. November, sondern erst am 10. April gestorben war. Dazu schreibt der der Regierungskoalition nahestehende "Messagero": "Wie sich die Dinge abzeichnen, kam der Tod der Wilma Montesi tatsächlich einer verbrecherischen Tat gleich, die als fahrlässige Tötung bezeichnet werden kann - zumindest hat es sich darum gehandelt, daß man einen Menschen in seiner Todesnot sich selbst überließ." Aber wer ist nun der Verantwortliche - oder: Wer sind die Verantwortlichen? Auf diese ganz Italien beunruhigende Frage bleibt eine vollständige Antwort noch abzuwarten. Nach Indiskretionen aus informierten Kreisen wäre es denkbar, daß der Unglücksfall, der zum Tod der Montesi führte, geschah, während sich das Mädchen in Gesellschaft des Prinzen von Hessen befand. Da die Untersuchungen jedoch offiziell noch gar nicht abgeschlossen sind, muß man sich an die Erklärung Sepes halten, an die einzige, die er der Presse bisher gab. Er bestätigte, daß sich Belastungsmaterial gegen den Prinzen in seinem Besitz befinde. Man könnte jedoch noch nicht von fundierten Elementen sprechen. Es seien noch sehr delikate Untersuchungen im Gange, vor deren Abschluß niemand eindeutig beschuldigt werden könne.
Tatsache aber ist - und so beurteilt auch die angesehene Turiner "Stampa" die Situation - daß der Kreis der Verdächtigen eingeengt worden ist, daß die vier Großen, der Prinz Moritz von Hessen, Piccioni, Montagna und Polito, nun im Mittelpunkt des Interesses stehen, und daß die Behörde daran ist, die Verschleierungsmanöver aufzudecken, die von einflußreichen - mittelbar oder unmittelbar beteiligten - Kreisen unternommen wurden. Rom fragt sich nur noch, wann und wie die Affäre Montesi, die an Spannung und Überraschung schon jeden Kriminalroman von Edgar Wallace bis Agatha Christie übertroffen hat, ihren Schlußpunkt finden wird.
Zeit im Funk, 9. September 1954
(S. 14ff.)
(c) 1998, Piper, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.