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Ich habe meine Mutter nie tanzen sehen. Ihr ganzes Leben lang ist ihr Körper mir fremd geblieben. Sie verbarg ihn vor mir in der Art, wie man eine Schuld verbirgt, und entblößte nur selten eine seiner vielen versteckten Stellen. Ich vermied es sorgsam, mich tiefer in sein Geheimnis zu verstricken. Nur wenn ich schlief, überkam mich manchmal eine unterdrückte Phantasie. Schicht um Schicht fiel von ihr ab. Eine zweite, dritte, vierte und fünfte Haut aus Geweben und Stoffen. Ich war begierig zu sehen, was sich darunter alles im Dunkeln gehalten hatte. Aber die Lagen an dickem Gewand schienen kein Ende zu nehmen. Sie stand eingehüllt vor meinem sehnsüchtigen Blick und schwebte – trotz ihrer Schwere – in einem Gehäuse aus Körperlosigkeit. (S.39f)
© 2010 Residenz Verlag, St. Pölten-Salzburg.
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