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Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch

Lesung des Autors
2 CDs
Spieldauer ca. 140 Min.
ISBN 3-89940-546-3
Der Hörverlag, München 2005

Spät hat Elias Canetti über Marrakesch geschrieben. 1954 ist er mit einem englischen Filmteam in die marokkanische Stadt am Fuße des Hohen Atlas gereist, erst 14 Jahre später ist sein Buch "Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise" entstanden. Man merkt den insgesamt 13 Erzählungen an, dass sie "nachgeschrieben" wurden, geschliffen und verfeinert, dass zwischen Beobachtung und Niederschrift die Erinnerung und die Reflexion gelegen haben. Das Geheimnis der Texte ist vielleicht, dass sie eben nicht nur Reisebeschreibungen und Alltagsschilderungen sind, sondern von erzählerischer Freiheit gestaltet, trotzdem authentisch sind, eben Geschichten aus dem Orient mit all den verheißungsvollen Assoziationen.

Die erste Erzählung ist die "Begegnung mit Kamelen". Das erste Kamel, das Canetti sieht, ist kein stolzes Tier, im Gegenteil: eines auf drei Beinen, dazu gefesselt. Ein trauriger Eindruck, der sich am nächsten Tag verstärkt, als eine Karawane mit über hundert Kamelen in der Stadt ankommt und Canetti erfährt, dass alle Tiere an den Schlachter verkauft werden sollen. Ein alter Händler erzählt ihm, dass ein Kamel den Schlachter rieche und dass ein tollwütiges Kamel die Leute im Schlaf töte, sie ersticke.

Canetti streift durch die engen Straßen der Stadt, entdeckt eine unverschleierte Frau am Fenster eines verfallenen Turmes, die ihn umschmeichelnde Koseworte spricht, was angesichts der Frauen auf den Straßen, die "wie unförmige Säcke" aussehen, nur umso verführerischer auf ihn wirkt. "Man verzichtet nicht gern auf Frauen", sagt Canetti, den Frauen immer angezogen haben.

In der Mellah, dem Judenviertel Marrakeschs, beobachtet er die Seidenverkäufer, entdeckt rastlose, unruhige Händler, die mit wenigen Waren unterwegs sind und Winzigkeiten zum Verkauf anbieten - die ewigen Juden. Einer erinnert ihn an Goebbels, andere bieten geröstete Heuschrecken an, ein Einäugiger verkauft Gemüse, ein anderer Steine, ist aber mehr mit seinen Steinen als den Kunden beschäftigt, hebt sie immer wieder auf, befühlt sie, wiegt sie in den Händen. Sie lassen ihm keine Ruhe.

Je weiter er in die Mellah eindringt, desto ärmer wird sie. Er entdeckt einen kleinen Platz und meint, vor hundert Jahren schon einmal dort gewesen zu sein, ihn vergessen und nun wiederentdeckt zu haben: "Ich war, bin dieser Platz" - und kehrt wieder zurück zu ihm.

"Es ist würzig in den Suks, es ist kühl und farbig, der Geruch, der immer angenehm ist, ändert sich allmählich, je nach der Natur der Waren." Ihn fasziniert das Zur-Schau-Stellen der Waren, des Reichtums, die offenen Tätigkeiten der Handwerker, die im Gegensatz stehen zum verborgenen Zuhause und den verschleierten Frauen. Das Handeln hat etwas Feurig-Mysteriöses, Einkaufen ist eine Kunst. Die Blinden murmeln tagein, tagaus ihr "Allah", sie sind "die Heiligen der Wiederholung", im "Riviera", dem Bordell, treffen sich die Ausländer, er beneidet die Schwalben, die über die flachen Dächer fliegen und Einblicke bekommen ins Privatleben der Leute.

Am Ende steht Canetti fasziniert vor einem Erzähler, der den Leuten Geschichten erzählt, dessen Sprache er nicht versteht, aber er erahnt die Schmeicheleien, die Drohungen, die Tragödien, die da verkündet werden. Eine "Enklave alten und unberührten Lebens" meint er zu erkennen und die urtümliche Macht des Erzählens. Er bekennt, als "westlicher" Schriftsteller bloß ein feiger Träumer zu sein, weil er auf Papier erzählt und nicht direkt zu den Leuten spricht. Ein wirkmächtiges Bild, das zum Nachdenken anregt.

Das Marrakesch, von dem Canetti erzählt, gibt es nicht mehr. Wer in das Marrakesch der Gegenwart kommt, sieht touristische Folklore statt alter Traditionen. Canettis bunte, kluge Schilderungen sind darum umso wertvoller, weil sie von einer vergangenen Welt erzählen.

Canetti liest die 13 Erzählungen in einem alten Wiener Deutsch - die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1985 - das man auch kaum mehr hört. Er nuschelt, manchmal verschluckt er die Endsilben, auch hat er einen s-Fehler. Das r rollt er. Man hört ihn schlucken und nach Luft schnappen, man hört raschelndes Papier, wenn er umblättert. Aber das stört überhaupt nicht, im Gegenteil, es fügt sich zu einem sehr schönen Bild: Ein alter Mann erzählt mit weiser Stimme Geschichten einer sagenhaften Stadt voll Kraft, Lust, Leben. Ein eindrucksvolles Hörbuch.

Originalbeitrag

Peter Landerl
24. November 2005

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