Isa ist kalt. Sie trinkt die dritte Tasse Tee. Über der Brücke hat der Berufsverkehr eingesetzt, das Schlagen der Eisen ist zu einem Kontinuum geworden. Menschen hasten zu Fuß in beide Richtungen. Der Wind reißt die Mäntel auf. Am gegenüberliegenden Ufer ist unter Weiden eine Stalinorgel aufgebockt. Stalinorgel, Hitlersense - Schreckensworte aus der Kindheit. Wer in Russland Rshev sagt, meint Krieg, hatte Boris gesagt. Isa hatte nicht erwartet, dass er so lebendig war, nah auf Schritt und Tritt. Die ganze Luft war voll von Krieg, der Regen, der Wind, es sind tote Seelen, es sind die Rufe der Toten, sie sprechen dieselbe Sprache, wir verstehen sie, wenn wir uns mühen, nein, es wäre nicht einmal eine Mühe, es wäre ein leichtes, wenn wir nur wollen. Es gibt offizielle Programme, die Toten zu suchen. Beide Regierungen unterstützen von höchster Seite, finanzieren Detektoren und Suchmannschaften, unterdrücken Proteste. In den Ferien helfen Freiwillige. Und es gibt Gangs von Jugendlichen mit Allradfahrzeugen, die sich einen Sport daraus machen, sie verkaufen die gefundenen Helme, Gürtelschnallen, Blechnäpfe oder ein Eisenkreuz, das einst ein Soldat um den Hals trug, als Souvenir. Es werden Friedhöfe errichtet, um die Gebeine umzubetten.
Woran erkennt ihr, ob es russische oder deutsche Soldaten sind, wenn ihr sie findet? hatte Isa Frau Stoljarova Antonina Nikiforovna, eine der aktivsten Veteraninnen Rshevs, gefragt. An den Stiefeln. Wenn wir keine Erkennungsmarken finden, erkennen wir sie an den Stiefeln. Laßt sie ruhen, denkt Isa, laßt sie ruhen, wo sie sind. Nebeneinander. Vielleicht berühren sich ihre Stiefelspitzen.
In Rshev werden sie überall dem Krieg begegnen, hatte auch die attraktive, umsichtig-kluge Kulturamtsleiterin des österreichischen Außenministeriums in Moskau gewarnt. Gehen Sie nicht in die Wälder und an den Rand der Sümpfe, da liegen noch überall Minen und Granaten, alle paar Jahre fliegt jemand in die Luft, spielende Kinder oder Pilzesammler. Wie auf dem Balkan nach dem Jugoslawienkrieg. Bleiben Sie auf den Wegen.
Ein Krieg ist nicht zu Ende, wenn er zu Ende ist.
© 2005, Haymon Verlag, Innsbruck
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