Erwähnet, wenn Ihr hierher kommet, Napoleons nicht. Und laßt auch Göthen, der zum Ärger Cants auch seinen Frieden mit Napoleon gemacht hat, was ein weiterer Grund für Cants Verachtung ist, unberücksichtigt. Also, bitte, Göthe, den sie tausendmal "den liebenden Mann" nennen mögen, bey Cant, den sie zu Unrecht den "Liebe-losen Mann" nennen, in keinem Falle ansprechen! Kein Wort über Göthe! Schiller mag passiren.
Jener Schweizer, der sich Napoleon gegenüber dergestalt abfällig über die Philosophie Cants geäußert hat, mag sich für ein Aburtheil Cants über die Schweiz in seiner "Anthropologie" gerächt haben. Cant hat die Schweiz dort als ein bitter armes Land hingestellet. Nun ist nichts so erniedrigend, denn als arm hingestellet zu werden, wenn die Armuth nicht derart himmelschreyend ist, daß keine Bemäntelung und Beschönigung derselben mehr möglich ist. Der wahrhaft Elende kann sich natürlich keinen Stolz mehr leisten. Der minder Arme aber, wenn auch sicher nicht Reiche, ist verschämt und will seine Armuth nicht wahr haben. Etwas nicht wahr haben wollen, das ist der rechte philosophische Ausdruck für jenes Ignoriren der Realität. Die Philosophie spricht von "Realitätsverweigerung" – ein trefflicher Ausdruck. Wirklich aber ist in den Augen des Ignoranten (Unkundigen) nur das Anerkannte und Erkannte. Derjenige, der verdrängt, und Cant spricht in seiner Menschenkunde ausdrücklich von "Verdrängung"!, möchte der Realität ihre Wirklichkeit "aberkennen", er verweigert ihre Facticität (Thatsächlichkeit) im Nichtanerkennen. Nur der Bettler hat sich damit abgefunden, er kann seine Armuth, die Wirklichkeit seiner Bedürftigkeit nicht mehr ableugnen. Er ist das declarirte (erklärte) Mängelwesen. So hat er die Licenz zum Betteln! Stimmt, was Ehrhard sagt, daß Ihr in Eurem Idiome die Bettler "Fechter" nennt? Die Schweiz ist nicht bettelarm, sie ist arm, will es aber nicht wahr haben, sagt Cant.
(S. 169-171)
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