Leseprobe:
Ich habe sie enführt. Es war ganz leicht. Man denkt ein wenig nach, organisiert sich die Unterstützung, die man braucht, und schon funtkoniert es. Natürlich setzt du dich mit der Frage auseinander, wie es sich anfühlt, so etwas zu tun. Niemand ist ein geborener Entführer. Irgendwann hörst du dann auf, dich zu fragen, und tust es einfach.
Jetzt sitzt sie hier, mitten in diesem Raum, ein blasses, dickliches Mädchen mit dunkelblondem Haar und pinkfarbener Brille. Sie trägt eine himmelblaue Hose, ein Hello-Kitty-T-Shirt und rosafarbene Sneakers aus Leinen. Sie hat ihren Klarinettenkoffer bei sich, eine Mappe mit Noten und ihren Fahrradhelm. Sie heißt Elvira, genau genommen Elvira Magdalena, sagt sie, und dann sagt sie, dass sie ihre Freunde manchmal Virus nennen. Ich frage sie, ob ich mich vor einer ansteckenden Krankheit fürchten soll. Sie bleibt ernst und sagt, nein, so war es nicht gemeint.
Ich sage ihr, dass ich sie entführt habe, sie fragt mich, warum, und ich sage, weil es so sein muss. Die Tränen steigen ihr in die Augen, dann fragt sie mich, ob ich Geld haben möchte, sie habe vergessen, wie es heiße, aber ich wisse schon, welches.
"Lösegeld meinst du", sage ich, und sie sagt, ja, Lösegeld, ihr Vater verdiene ganz viel Geld, und die Firma verkaufe Sachen bis nach Afrika. Ich sage, nein, um Geld gehe es nicht. Sie ist eine Weile still, dann fragt sie, ob sie der dünne Mann ebenfalls entführt hat, ihn kenne sie nämlich gar nicht, mich habe sie zumindest schon einmal gesehen, und ich sage, nein, der dünne Mann habe nur aufgepasst, dass ihr nichts passiere.
(S. 67f)
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