Christian Teissl: Menschenfresser, Menschenschlange
Nichts ahnend komme ich auf den Jakominiplatz und stoße dort auf das Ende einer Menschenschlange, die sich durch die ganze Gleisdorfer Straße bis hinauf zum Kaiser Josef-Platz erstreckt. Ob sie auf diesem Platz ihren Ausgang nimmt oder woanders, ist von hier aus nicht zu erkennen.
Den lebhaften Gesprächen der Passanten entnehme ich, dass man auf der Universität einen Menschenfresser dingfest gemacht habe. Der Stadtsenat habe daraufhin beschlossen, dass jede Grazerin und jeder Grazer die Gelegenheit bekommen solle, ihn zu besichtigen. Seit Sonnenaufgang stehen deshalb die Leute Schlange: sie erstrecke sich vom Hauptgebäude der Universität über den ganzen Glacis bis hier herunter. Das sei auch "ein logischer Fall", meint ein älterer Herr, der so aussieht, als wüsste er immer Bescheid, schließlich sehe man einen echten, lebendigen Menschenfresser in unseren Breiten nicht alle Tage, und die ausgestopften, die im Museum, seien halt nur das halbe Vergnügen. "Was lebendig ist, das ist lebendig!", schließt er mit ernster, fast feierlicher Miene.
"Uns werdens aa olle ausstoupfen, wenn mir hin sind", mengt sich eine Frau in unser Gespräch. "Ausstopfen und nach Schönbrunn bringen."
Der ältere Herr, der so aussieht, als wüsste er immer Bescheid, widerspricht ihr aufs Heftigste, die Frau aber hält unbeirrt an ihrer Überzeugung fest, es bestehe eine Abmachung zwischen der Stadt Graz und der Stadt Wien, wonach alle Grazerinnen und Grazer nach ihrem Ableben ausgestopft werden und nach Schönbrunn kommen sollen, in den Tiergarten, zu den Gazellen und Elefanten, sofern sie nicht rechtzeitig ihren Leichnam der Wissenschaft vermachen. (...)
(S. 74f.)
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