Leseprobe:
Hausmans Bewusstsein glitt durch die dritte Schlafphase. Die Hirnstromfrequenz betrug dreizehn Herz. Der Körper lag entspannt. Gleich würde die Frequenz auf vier Herz abfallen, in Tiefschlaf, auf zwei sogar, das Bewusstsein weitete sich. Eine Weile achtete es auf den Atem des Schlafenden, nahm das Rascheln der Palmblätter in der Brise wahr, das Trippeln der Krabbenbeine draußen auf der Veranda. Keine Dünung war zu hören, selbst das Meer schien unter trägem Mondlicht zu schlafen. Die Messwerte des Polygraphen auf Hausmans Schreibtisch zeichneten eine Linie auf den Bildschirm, die der Meeresoberfläche glich. Hausmans Bewusstsein folgte dem Rhythmus des Brustkorbs, dem Heben und Senken, vertiefte den nächsten Atemzug. Jener Teil, der nicht auf den Namen Leonid Hausman reagierte, hob ab und verließ den schlafenden Körper, entfernte sich mit jedem Ausatmen, behutsam, verharrte nun an der Decke des Bungalows, während sich der Körper unter ihm zur Seite drehte. Das Leintuch lag zerknäult zwischen die Knie gezogen. Die grauen Haare auf Hausmans Rücken rührten ihn ein wenig. Noch einmal lauschte er den gleichmäßigen Atemzügen und hob sich schließlich durch das Dach hinaus über die Palmen, die Insel und über das offene Meer. Im Osten türmten sich Monsunwolken auf. In Flughöhe der Air India, der Emirates und Singapore Airlines und wie sie alle hießen befand er sich endlich auch außerhalb der Reichweite von Hausmans Emotionen. Ungerührt von grauen Haaren und anderen Körperlichkeiten kreuzte er noch zwei Kondensstreifen, wandte sich schließlich um und blickte auf die Erde. Den Vollmond im Rücken, pendelte er sich in einer Distanz ein, die ihn am Rand der Erdkrümmung die Tagesdämmerung des kommenden Morgens erahnen ließ. Hell und dunkel, drinnen zuvor und nun draußen im Orbit, hier bezog er seinen Nullpunkt. Er schaute den silbrig schimmernden Faden entlang hinab, in diesen kleinen, pyramidenförmigen Bungalow unter den Kokospalmen. Hausmans ins Kissen geknautschte Gesicht war zu einem Lächeln verzogen. Er holte seinen Blick wieder ein, heraus aus dem Bündel an Fäden, die auf der Insel endeten. Alle schliefen sie. Auch auf den Nachbarinseln. Die Menschen auf dem Festland ebenso, wusste er, selbst wenn die Fäden über den Städten kaum zu sehen waren und verschwanden zwischen Laternenlicht, Gebäudestrahlern und Leuchtreklamen. Dabei waren die Menschen in den Städten um ihn herum frei, Mumbai, die nächste, auf seiner anderen Seite Mogadishu, Mombasa, reiche Städte noch im Gegensatz zu Tokio oder New York oder London, alle dort verkabelt und vernetzt, nicht nur in den Zentren. Auch in den Vororten und in den kleinsten Häusern und Hütten, alle hingen im großen Netz fest, das sie selbst sich gebaut hatten, das auch nachts nicht abgedreht wurde, keine Ruhe, nicht einmal im Schlaf. Hausman grunzte. Die Linie auf dem Bildschirm zeigte sich unbewegt, und jener Teil, der nicht träumte, weitete sich, driftete über den Nullpunkt hinaus und verließ endgültig das Zeit-Raum-Gefüge, während Hausman in seinem Bungalow schlief. So wie auch Judith, drüben in London. Sie lag abgedeckt auf dem Rücken, die Arme von sich gestreckt, eine Stoffwindel auf dem Gesicht. Das abwechselnd rot und weiß blinkende Licht der Apothekenreklame im Erdgeschoß unter ihr leuchtete die Zimmerdecken aller Wohnungen der angrenzenden Häuser aus, Gasse hinauf und hinunter und gegenüber. Judith rührte das nicht, wusste er, sie schlief mit ihrer Tochter um die Wette, seiner Enkelin. Das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich beim Anblick der beiden, spürte er selbst hier draußen. Dass sie fünf Zeitzonen hinter Hausman herschlief, störte Judith auch nicht. Lediglich ihre Kleine musste sie im Schlaf überholen, mehr Erholung daraus schöpfen in derselben Zeit, musste fit sein, sobald die Kleine krähte. Entspannter, fröhlicher sollte sie sein, eigentlich schon gefrühstückt und geduscht haben und all das. Hör auf, dachte er, lass los, wenn du wirklich Frieden haben willst, und glitt ihren Faden entlang wieder aus der Wohnung, fand ihn zwischen Satellitenantennen und Sendemasten hindurchgewunden und bereits über Heathrow enden. Nicht nur der Nebel über dieser Stadt war dicht. In ValparaÃso kickte währenddessen ein Junge ein Schulheft ins Meer. Südlich von Austin verfütterten Männer Mais auf einer Straußenfarm. Frauen hockten in einem Minivan von Cluj-Napoca nach Arad, in einem Kindergarten in Melbourne zogen Kinder ihre Straßenschuhe aus. In einem Krankenhaus in Seoul beendeten Krankenschwestern und Pfleger ihre Nachtschicht. Menschen räumten die Münchner Biergärten zur Sperrstunde, andere stiegen in Halifax in ihre Autos, um für den Feierabend nach Hause zu fahren. Arbeiter befanden sich auf dem Weg in die Fabriken rund um Irkutsk, während Programmierer auf einer Plattform im Atlantik Algorithmen schrieben. Mehr als sieben Milliarden Menschen formten die Welle, welche die Erde umspielte, immer und zugleich, und er schwamm mit.
31M44. Die Chiffre blinkte immer noch auf der Videowand. »Sagten Sie nicht, auch er sei tot?« »Dass wir kein Lebenszeichen von ihm im Netz finden, sagte ich, Sir.« Tatsächlich blinkte die Chiffre im Ergebnisfeld der Datenbank. Auf der Weltkarte, die von einem Netz dünner Leuchtfäden überzogen war, blinkte jedoch keiner der Knotenpunkte. »Sie wollen mir erklären, Lance, das sei ein Systemfehler?« »Mehr als dieses Signal bekommen wir nicht, Sir.« »Wir kennen seine DNA?« Lance schwieg. »Eben.«
(S. 8 – 12)
© 2017 Septime Verlag, Wien.