Tod durch Musen (Friederike Mayröcker)
Als ich wenig über zwanzig war, ist mir Friederike Mayröckers Band Tod durch Musen. Poetische Texte in die Hände geraten. Nichts in der Literatur und in ihrer Geschichte war für mich nach der Lektüre dieses Buches so, wie es vorher gewesen war.
Auch davon träumen alle, die dichten: die Grenzen ihrer selbst als die Grenzen ihres Daseins zu erfahren und die Grenzen ihres Dichtens über alle Maßen auszudehnen, auf dass das Spiel, und auch der Ernst, zwischen Ermächtigung und Preisgabe bis zum letzten Tropfen ausgekostet werden kann.
Wie eng scheinen die Grenzen jenes Selbst normalerweise zu sein, und wie eng auch normalerweise jene eines poetischen Selbsts in der Literatur, da eine Innerlichkeit oder eine Äußerlichkeit, Reihen oder auch Tumulte innerer oder auch Gewitter oder Ordnungen äußerer (sinnlich wahrnehmbarer) Zustände als ihrer sprachlichen Wiedergabe gegenüber gedacht werden, und also die Literatur als ein Versuch aufgefasst wird, diese Zustände in ein Jenseits zu verweisen, sie zu benennen, und damit fest- und darzustellen. - Die Literatur als mehr oder weniger geschickte Nachahmung oder als mehr oder weniger gelungene Re-Konstruktion eines Selbsts oder einer Welt in einem ideellen, symbolischen Raum, in einer ideellen, symbolischen Zeit. All dieses Suchen nach verlorenen Zeiten und Räumen mit Hilfe der dafür zu findenden Zeichen, durch die jene Zeiten und Räume wie jenes Selbst wiedergespiegelt werden sollen, gleichsam auf der Oberfläche einer künstlichen (und dennoch über alle Maßen kostbaren) Perle, abgesondert von der angeblich natürlichen Muschel Sprache aus dem angeblich noch natürlicheren Meer Welt. (...)
(S. 23)
© 2011 Klever Verlag, Wien.