Meine mehr als dreißigjährige Arbeit an den beiden Romanzyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“ spielt zu einem guten Teil in der Kreisky- und Nachkreisky-Zeit und der jüdische, sozialdemokratische Politiker nimmt darin etwa die Rolle ein, die – ich bitte wegen des Vergleichs prophylaktisch um Vergebung – Kaiser Franz Joseph für Robert Musil und Joseph Roth in ihrem Werk hat. Kreisky hatte das politische Denken einer ganzen Generation geprägt und zugleich auch berechtigte Kritik herausgefordert. Trotzdem bleibt er eine historische Erscheinung und Maßstab in der österreichischen Politik seit Beginn der Demokratie. Meine Begegnungen mit ihm verliefen allerdings nicht immer konfliktfrei. Auf Mallorca hatte ich ihn wegen der bösen Worte kritisiert, die er über Simon Wiesenthal geäußert hatte. Kreisky war daraufhin ungehalten gewesen. Er habe nie behauptet, widersprach er mir, Wiesenthal habe mit der Gestapo kollaboriert, auch nicht gesagt, Wiesenthals Beziehung zur Gestapo sei eine andere gewesen als seine, das hätten „die Zeitungen“ nicht richtig wiedergegeben. Wir saßen uns für einige Augenblicke stumm gegenüber, unangenehme Augenblicke, denn wir befanden uns auf einem kleinen Balkon, und er schaute durch mich hindurch, während ich damit rechnete, dass er das Gespräch im nächsten Moment abbrechen würde.
(S. 496f.)
©2011 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.