Angemessen vertraulich
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Die Welt kommt nur in kleinen Schritten voran, von mir verlangt sie aber Riesensprünge. Vor der ersten Tanzstunde - es ist ein matter Oktoberabend - suche ich die Herrengarderobe. Martina, die Tanzlehrerin, liest meinen Blick und eilt herbei. "Die Umkleide ist gemischt", sagt sie und verkündet mit erhobenen Armen: "Wir sind eine große Tanzfamilie." Ich nicke und überlege, wir mir das alles die Beziehung retten soll. Dann geselle ich mich zu den zwei Männern und bald stehen wir im Tanzsaal, wir drei umgeben von mindestens zwanzig Frauen. Martina begrüßt uns und schüttelt alle Hände. Sie sei die Entenmutter, erklärt sie, und wir die Entenküken. Aus den Boxen dröhnt Jazz. Miles Davis oder etwas Ähnliches. Und schon hüpfen wir los: Beine, Oberkörper und Arme werden aufgewärmt, gedehnt und durch den Saal geschmissen. Auf Kommando springen wir hoch, drehen uns in der Luft und sollten lautlos aufsetzen. Die Landung klingt aber wie ein voller Pferdestall nach einem Schusswechsel. Martina bessert jeden Fehler aus und fragt nach dem Namen, bevor weiter gestrampelt wird. Gegen Ende der Stunde kleben Tropfen auf den Fensterscheiben. Jede Menge Körpergerüche in der Luft und die Gesichter verraten die Müdigkeit der Körper. Martina treibt uns an, mit dem Gesichtsausdruck einer gedopten Brustschwimmerin. Mein einziger Gedanke, sobald die Schlussworte über ihre Lippen kommen: schnell zu den Duschen. Es gibt nur eine einzige, stelle ich fest, und die steht im Empfangsbereich. "Nicht so schüchtern", empfiehlt Martina. "Wir sind doch deine Tanzfamilie."
(S. 7)
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