Mit Licht zeichnen
Marilena bewegt die Schwingtür und schlüpft zwischen den dunkelblauen Samtvorhängen ins Lokal. Ihre Augen folgen einem imaginären Bogen nach links und bleiben an einem Mann hängen. Er sitzt an ihrem Lieblingstisch, vor sich ein Glas Wein, Tabak und Feuer. Aufrechter Rücken, bewegtes Haar. Ob er noch den gleichen Tabak raucht?
Kurz flüchtet sie in die Damentoilette. In ihrem Lederbeutel wühlt sie nach einem Parfümfläschchen. Die Konturen nachziehen, ein bisschen Puder, das Bordeauxrot mit dem Pinselchen auf den Lippen verteilen. Das Wachsöl ist eingetrocknet, so lange schon benutzt sie die Farbe nicht mehr.
Während sich Marilena dem Mann, der so lange fehlte, auf Zehenspitzen nähert, geschieht Eigenartiges. Bluse, Rock, Strümpfe und Stiefel, alles in Auflösung. Die Grenzen, wo Stoff Haut berührt, vermag sie nicht zu erfühlen. Die Dielen unter ihren Füßen verlieren an Festigkeit. Sie hält inne.
Marilena glaubt nicht mehr an die Musikfetzen aus den Lautsprechern, an ihr Atmen und an Bjarkis Gegenwart. Sie fürchtet, vorzeitig aus ihrem Gehäuse zu fallen, sich selbst vor die Füße. In diesem Augenblick zweifelt sie zum ersten Mal, ob irgendwelche Erinnerungen geteilte Erinnerungen sind. Ob sie Bjarki jemals das war, was sie für ihn empfand.
Als Bjarki Marilena bemerkt, steht er auf, geht ein paar Schritte auf sie zu und drückt sie an sich. Zaghaft öffnet Marilena die Hände, um die Umarmung verspätet entgegenzunehmen.
Durch Bjarkis Pullover fühlt sie den Brustkorb, einzelne Rippen. Sein Gesicht wirkt schmaler.
Bjarki hilft Marilena aus dem Daunenmantel, hängt ihn an einen der Haken, die nebeneinander aus der Wand ragen. Sie schiebt sich hinter die Tischkante auf ein Sitzkissen, schaut Bjarki an. Sein Äußeres wirkt nachlässig, die Bewegungen scheinen langsamer geworden und er hat neue Augen. Der feste und unbeirrbare Blick ist verschwunden.
So nah jetzt. Wie viele Kilometer, Länder, Gebirgszüge und Meere lagen zwischen ihnen?
Es dauert, bis sie sprechen.
S. 39f.