Leseprobe
Er versuchte die Tür zu öffnen, sie war nicht verschlossen. Im Wohnungsflur rief er erneut nach seiner Mutter – keine Antwort. Die Tür zum Badezimmer stand offen, auf dem Boden lag ein blutgetränktes Handtuch. Burkhards Mund wurde trocken. Er ging zurück in den Flur, um im Wohnzimmer nachzusehen. Die Tür ließ sich nur einen Spaltweit öffnen, etwas Schweres lag im Weg. Als er ein leises Stöhnen hörte, drückte Burkhard die Tür vorsichtig so weit auf, dass er sich hindurchzwängen konnte. Das Erste, was er sah, war Blut: auf der Wand, auf dem Teppich, der Couch, dem Tisch, den Möbeln. Die Raufaserwand über der Couch sah aus, als hätte jemand einen Becher mit roter Farbe dagegen geschüttet. Seine Mutter lag im Bademantel auf dem Boden, auf einem blutverschmierten Badetuch. Sie hielt ihren linken Arm über einen Putzeimer, der am Boden zwei Fingerbreit hoch mit Blut gefüllt war. Die Wunde an ihrem Handgelenk hatte bereits aufgehört zu bluten. Auf dem Tisch lag eine ausgepackte Rasierklinge.
Das Gesicht seiner Mutter war unnatürlich weiß, ihr Blick wirkte müde und verwirrt. Als sie Burkhard bemerkte, sagte sie mit leiser, kraftloser Stimme:
Ich hab den Teppich nicht vollbluten wollen.
Burkhard begann leicht zu wanken und musste sich einen Augenblick am Türrahmen festhalten. Dann atmete er tief ein, die Luft roch süßlich. Er schloß kurz die Augen und wartete, bis er Taubheit in seinem Gesicht spürte. Beginnend bei den Mundwinkeln breitete sie sich zunächst über sein Gesicht und dann über seinen gesamten Körper aus. Schließlich fühlte er sich so taub, dass er Schwierigkeiten hatte zu sprechen.
(S. 239, 240)
© 2015 Otto Müller Verlag Salzburg-Wien