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Vladmir Vertlib: Letzter Wunsch.

Roman.
Wien, Frankfurt am Main: Deuticke, 2003.
389 S.; geb.; Eur[A] 39,50.
ISBN 3-216-30678-X.

Link zur Leseprobe

Komplikationen rund um eine Leiche sind ein beliebter Stoff für Komödien. In seinem neuen Buch hat Vladimir Vertlib auf diese bewährte Tradition zurückgegriffen und damit einem todernsten Thema viel von seiner Schwere genommen: Wer ist ein Jude? Und wer bestimmt, wer ein Jude ist? Mit diesen Fragen sieht sich Gabriel Salzinger konfrontiert, als sein Vater stirbt. Dessen "Letzter Wunsch" war es gewesen, auf einem jüdischen Friedhof nach jüdischem Ritus im Grab seiner Frau begraben zu werden. Daß er weder gläubig noch Mitglied der Kultusgemeinde war, steht dem nicht entgegen. Doch als der Sarg schon halb unter der Erde ist, stürzt eine Gemeindeangestellte herbei und veranlaßt die Rückgängigmachung der Prozedur: Sie habe im Archiv entdeckt, daß die Mutter des Toten einst zum Judentum übergetreten war und dieser Übertritt von einem Reformrabbiner bewerkstelligt worden und somit ungültig sei. Da als Jude nur der Sohn einer jüdischen Mutter gilt, muß die orthodoxe Gemeinde auf der Entfernung des Leichnams bestehen.

Der aus Leningrad gebürtige Wahlsalzburger Vertlib hat seine Fallstudie einer bürokratischen Bizarrerie auf deutschen Boden verlegt: Die erfundene Kleinstadt Gigricht bildet das Biotop, in dem Dogmatiker und Atheisten, Antisemiten und Philosemiten, Raucher und Nichtraucher aufeinanderprallen. Seit einem Jahr lebt Gabriel Salzinger, der in Wien ein Übersetzerstudium absolviert hat, nun wieder in seinem Geburtsort. Was er damals bei seiner Ankunft in Österreich für Antisemitismus gehalten hatte, stellte sich zu seiner Beruhigung bald als die landesübliche Abneigung gegen die Piefke heraus. Nun, da er nach Jahren wieder zu Hause ist, fällt wiederum den deutschen Mitbürgern Gabriels komischer Akzent auf. Mit seinem Lebenslauf hat er von seinem Autor die Lizenz zum bundesdeutschen Ausdruck erhalten, die er weidlich ausnützt. Wenig plausibel also, daß er, wie er behauptet, mit seinem verstorbenen Vater die "Verachtung für alles Schnoddrige, Bundesdeutsche" teilt. (Auch anderes hätte dem Lektorat auffallen müssen; so sei in Erinnerung gerufen, daß "kosten" transitiv nach dem Akkusativ verlangt. Aber das kostet eben den heute notorisch überlasteten Lektor schon zu viel Mühe.)

Gabriel Salzinger ist der klassische Antiheld, sein Job bei einer Versicherung ist eine Verlegenheitslösung, von seiner Frau ist er geschieden, nun versucht er seine Nikotinsucht loszuwerden, unter anderem indem er "bei allem, was mir heilig ist", schwört, ein neues Leben zu beginnen. "Als ich mich anziehe, komme ich zur Überzeugung, dass es nichts gibt, was mir wirklich heilig ist."

Der letzte Wunsch des Vaters ist es dann aber doch: Wenn die Nazis auch jene zu Juden machten, die sich nicht als Juden fühlten, wie kann dann die jüdische Gemeinde die Grenze von der anderen Seite aus ziehen? Außerdem legen die alteingesessenen Gigrichter Gemeindemitglieder eine unleugbare Überheblichkeit gegen ihre aus Rußland zugewanderten Glaubensbrüder an den Tag. Gabriel wird zum wackeren Kämpfer gegen die Mächte der Finsternis, der Anti-Aufklärung, und muß erkennen, daß der Frontverlauf so eindeutig nicht ist: Der fundamentalistische Rabbi erweist sich als liebevoller Vater und genußfreudiger Gastgeber - und die vermeintlich aufgeschlossenen Anrufer, die Gabriels Auftritt in einer lokalen Radio-Talkshow mobilisiert, sind rasch mit antisemitischen Klischees zur Hand.

Vertlib hat dem Roman einiges an Stoff aufgebürdet: neben der eigentlichen Handlung eine jüdische Familiengeschichte während des Dritten Reichs, Israel als logische, für viele europäische Juden unmögliche Heimat, Arisierung und Restitution, die Debatten um Möllemann und Friedman, den Haß der Araber und die aktuelle israelische Regierungspolitik. Der Kunstgriff, den ziemlich ahnungslosen Helden - und mit ihm den Leser - mit einer Fülle von Informationen über das Judentum zu versorgen, verführt den Autor mitunter zur Langatmigkeit, die Schilderung der Nazi-Greuel leidet unter der Abnutzung der dafür in einer konventionellen Erzählung zur Verfügung stehenden Sprache, die Abbildung politischer Diskussionen hat etwas Feuilletonistisches, der burleske Schluß wird mit Pathos unnötig überfrachtet. Am besten geht Vertlibs Konzept dort auf, wo er den kaltschnäuzigen Ton des Skeptikers durch- und die ironische oder sachliche Distanz einhält - und das tut er mit Witz und Treffsicherheit gottlob über weite Strecken. Er vertraut auf das herkömmliche Erzählen - und er beherrscht es, nicht zuletzt die Kunst des prägnanten Dialogs. Die beeindruckendste Figur ist wohl Gabriels Vater, der über alles höhnisch lacht und an nichts glaubt, schon gar nicht an die Möglichkeit, irgendetwas zu bewältigen. Er verlangt vom Sohn des Ariseurs des väterlichen Uhrengeschäfts allein die Wanduhr seiner Großeltern zurück. Und die wird ihm verwehrt.

Daniela Strigl
3. Jänner 2004

Originalbeitrag

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