Leseprobe:
Seine Verletzlichkeit, die sie spürt, seinen Wunsch, umarmt zu werden, seine Liebe, die nach ihr schreit, ihr Verlangen, das sie ihm geben will, und sie streicht über seine Wange, über seine Lippen, sie öffnen sich, streicht über seinen Hals, bis er die Augen schließt, knöpft sein Hemd auf, streicht über seine Brust, die Narbe gesehen, doch nicht berührt, manche Wunden heilen nie, manche Wunden, sagt er, heilen nie, dann küsst er sie, und mit dem Kuss lässt sie sich treiben, treibt zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen all den Schatten, all den Sternen, Pusteblumen der Erinnerung, und er berührt sie, mal sanft, mal grob, Atem aufeinander abgestimmt, drängt sie zum Bett, zieht sich und ihr die Kleidung aus, küsst und berührt sie, dringt still in sie ein, was sieht die Krähe, wenn sie fällt?, fällt nicht, schwebt, sieht mit ihren toten Augen die Welt, so wie sie wirklich ist, sein muss hinter all den Oberflächen, sieht hinter Spiegel, hinter all das Milchglas, hinter Molino, sieht in die Menschen, sieht ihre Zerbrechlichkeit, was zerbrechen kann, sagt sie, muss zerbrochen werden, nein, sagt er, beschützt und stößt sie sanft, sieht die Notwendigkeit der Oberfläche, er hält in der Bewegung inne, greift zu seiner Feder, die nah dem Bett liegt, neben einer Skizze, Flügel, zerrissen und mit langen Stichen wieder aneinandergenäht, lacht darüber, weint deshalb, hält inne, und die Feder liegt auf ihrer Haut, liegt unterhalb des Schlüsselbeins, ein sanfter Druck, und er beginnt zu zeichnen, zeichnet einen Schnabel, zeichnet Augen, ritzt den schwarzen Körper, ritzt die Flügel, bereit für einen langen Flug […]
(S. 163f)
© 2015 Braumüller Verlag, Wien.