Gespräch mit Terézia Mora über das Schreiben und Übersetzen von Beatrice Simonsen
Erstveröffentlichung in:
kolik - Zeitschrift für Literatur
Heft Nr. 49. Juli 2010
Simonsen: Ich will nicht speziell über Ihr letztes Buch "Der einzige Mann auf dem Kontinent" sprechen. Mir ist es ein großes Anliegen über das erste Buch "Seltsame Materie" zu sprechen (sie lacht, Oh! Okay) und zwar weil ich einen persönlichen Bezug dazu habe. In diesem Buch erzählen Sie über Ihre Heimat in und um Sopron. In etwa derselben Entfernung von der Grenze in die andere Richtung, in der Nähe von Eisenstadt, bin ich aufgewachsen. Deshalb haben mich diese Erzählungen besonders berührt, denn in dieser irgendwie abgeschlossenen Welt so nahe am Eisernen Vorhang gab es darüber hinweg dennoch Gemeinsamkeiten: die Bedrohlichkeit des nahen Minenfeldes und der bewaffneten Soldaten auf ihren Wachtürmen, die Nähe des Todes, die in der scheinbar vernachlässigten Landschaft lauerte, die besondere Eigenart des Neusiedler Sees, der früher - in Ihrer und meiner Kindheit - nicht dieses touristische Weltkulturerbedasein von heute führte, sondern von beeindruckender Leere war. Das alles wirkte auf die Menschen - wie ich meine auf beiden Seiten der Grenze - die in Ihrem Buch so verkorkst sind. Ist das Buch schon sehr entfernt für Sie?
Mora: Nein, eigentlich nicht. Von den Methoden, die es anwendet, vielleicht ja, weil ich mich weiterentwickelt habe. Das ist ein erstes Buch und ich schrieb damals, wie ich schreiben konnte. Von den Inhalten oder vom Gefühl her wie es entstanden ist, nein. Also es ist ja nichts Erfundenes sondern etwas Authentisches, das werde ich haben, bis ich sterbe.
Haben Sie diese Erzählungen noch in Ungarn geschrieben? Oder in Berlin? Sind Sie gleich von Ungarn nach Berlin gegangen oder hat es da Zwischenstationen gegeben?
Ich habe 1989 in Sopron Abitur gemacht, kurz bevor die Grenze aufging, war dann ein halbes Jahr in Budapest und ein halbes Jahr in Jena. Während ich in Jena war, habe ich meinen jetzigen Mann geheiratet, in der DDR, und bin dann 1990 im September noch in die DDR eingewandert, wurde mit der Wiedervereinigung quasi "übernommen" und bin seitdem da. Und zu schreiben angefangen habe ich "Seltsame Materie" 1997, also sieben Jahre später. Diese sieben Jahre, die dazwischen liegen, sind im Grunde die Zeit, die ich gebraucht habe, um die Sprache endgültig zu wechseln. Es ist ja so, dass es lange Zeit unklar war, welche meine Muttersprache ist. Ich dachte immer Ungarisch, aber durch eine Aussage meiner Mutter hat sich vor Kurzem herausgestellt, dass es wahrscheinlich doch Deutsch ist. Sie hat gesagt, bis ich zwei Jahre alt gewesen sei, habe man mit mir nur Deutsch gesprochen. Die Sprache der Umgebung war ja Ungarisch, das heißt, das war dominant, das lernt ein Kind sowieso. Erst ab zwei hat man angefangen, auch zu Hause mit mir Ungarisch zu reden, damit ich es kann, wenn ich in den Kindergarten komme. Das bedeutet ja eigentlich per definitionem: Muttersprache Deutsch. Wie auch immer, jedenfalls als ich nach Berlin gegangen bin, war ich 19 Jahre alt und ich habe mein Leben in Ungarn verbracht und auf ungarischen Schulen, auch mit einem sehr starken Interesse für ungarische Literatur. Natürlich lebte ich sehr in dieser ungarischen Sprache und was das Deutsche anbelangt, da hatte ich keinen Ansprechpartner, mit dem ich mich - damals als Teenager - wirklich gerne unterhalten hätte. Dieser erste Ansprechpartner war dann mein jetziger Mann, also mein Geliebter, dem gegenüber ich das erste Mal wirklich das Bedürfnis hatte, diese andere Sprache zu benutzen.
Hat es an der Grenze eine historische deutsche Minderheit gegeben, zu der Sie gehörten und hatten Sie dadurch eine besondere Position in der Gemeinde?
Dass es eine historische deutschsprachige Minderheit (ehemals: Mehrheit) im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet gibt, ist bekannt. Und wenn es einen als einzige deutschsprachige Familie dann etwas weiter (keine 30 km) ins "Landesinnere" verschlägt, hat man natürlich eine besondere Position in der Gemeinde. Jeder, der anders ist, hat diese, überall.
Hat sich für diese Leute durch die Grenzöffnung etwas verändert? Sie leben ja nicht mehr dort ...
... aber ich fahre zweimal im Jahr dahin zu Besuch. Ich würde sagen, es hat sich einfach alles verändert. Es kann mir niemand einreden, dass man normal und ausgelassen und fröhlich leben kann, wenn man auf einen Grenzzaun blickt und die Wachtürme sieht. Im Sozialismus oder überhaupt in einer Diktatur bedeuten Uniformen etwas anderes als heute und natürlich bedeutete das auch eine große Einschränkung des Lebensempfindens. Man lebte in einem Land mit alltäglicher Angst - nicht dieser kommerzialisierten Angst: Wovor sollen wir denn dies Jahr Angst haben, soll das die Schweinegrippe sein oder etwas anderes - sondern mit der permanent vorhandenen, mal intensiveren, mal weniger intensiven Angst vor der Macht des Staates, vor der Macht der Uniformträger. Ich bin aufgewachsen in einem Land, in dem jeder Erwachsene, jedes Kind, jedes Tier Angst hatte. Und das ist in der Tat mit dem Fall dieser Grenze, mit dem Fall des Systems anders geworden. Die Leute haben natürlich ihre Ängste, ihre Existenzängste: Was werden wir essen, wo werden wir wohnen, was wird aus meinen Kindern, aber sie haben nicht diese Angst vor dem Staat und das macht einen wesentlichen Unterschied aus. Ich glaube, sie haben auch keine generalisierte Angst davor, was die Weltmächte jetzt als Nächstes mit uns machen. Ich bin ja in den 80er-Jahren mit der ganzen Atomangst aufgewachsen, diese ist nicht da, die Angst vor dem Terror, den es jetzt geben könnte, ist eine viel fernere, eine viel theoretischere also zumindest was Ungarn anbelangt. Ungarn ist ja kein reiches westliches Land und als solches nicht unbedingt das Ziel Numero eins.
Aber als damals die Grenze aufging, wollten Sie nicht auch "in den Westen" gehen? Wie haben Sie das erlebt, die vielen Menschen zu sehen, die ausgereist sind?
Ehrlich gesagt: Ich habe sie etwas verachtet. Weil sie ins "Paradies" unterwegs zu sein glaubten. Und ich wusste: das Paradies gibt es nicht. Sie erschienen mir naiv, ich hielt mich selbst für weiser als die. Ich muss zugeben, dass ich diese Überheblichkeit bis heute besitze: Wie leicht sich manche von bunten Lichtern blenden lassen! Aber wenn ich mich ein wenig besinne, kann ich die Situation auch so interpretieren: Vielleicht gehen die, die in den Westen gehen, nicht in erster Linie auf den Westen zu, sondern vom Osten WEG. Und dass man vom Osten wegwollen kann, kann ich ja am eigenen Beispiel sehen.
Sie leben heute in Berlin - ist die Öffnung des Eisernen Vorhangs mit dem Mauerfall vergleichbar oder hat das noch andere Komponenten?
Ja, da spielen natürlich noch andere Geschichten mit. Ungarn hat sich ja nicht mit Westungarn vereinigt, Ostdeutschland aber mit Westdeutschland. Aber so wie ich das sehe, gibt es da auch diese grundlegende veränderte Qualität von "Ich lebe nicht mehr in einer Diktatur", auch wenn die Deutschen generell und die Ostdeutschen insbesondere sich sehr gerne beklagen. Sie beklagen sich im Grunde darüber, dass das Leben kein Ponyhof ist und ich vermisse im privaten Leben wie im öffentlichen mehr Dankbarkeit für die historische Entwicklung - jetzt nicht konkret jemandem gegenüber, sondern "Es ist zu Ende" und jetzt haben wir was anderes, wo es natürlich auch Härten gibt. Man kann sich natürlich darüber beklagen, dass früher die Brötchen billiger waren, nur die Frage ist: Wieviel ist mir ein Brötchen für 5 Pfennig wert? Ist es mir wert, dass es keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, keine Reisefreiheit, keine Konsumfreiheit und keine Unternehmensfreiheit gab? Ich glaube nicht, dass es irgendjemand gäbe, der diese Frage mit "ja" beantworten würde. Aber natürlich kennen wir alle dieses Phänomen der Ostalgie. Ich persönlich habe dafür ein minimales Verständnis, im Großen und Ganzen halte ich das für kindisch.
Werden Ihre Bücher auch ins Ungarische übersetzt?
Die zwei ersten sind bereits übersetzt, das dritte ist noch in Arbeit.
Wie ist die Rezeption dort?
Es gibt im Grunde kein Echo. Ein paar Leute haben's gelesen, das sind die Leute, die sich sowieso für "LiteraturLiteratur" interessieren. Respektive bei der Übersetzung von "Seltsame Materie" ist das insofern anders, dass es von vielen Leuten in der Region gelesen worden ist, weil es mit der Region zu tun hat oder weil sie mich oder meine Familie oder die Dörfer persönlich kennen, da wurde es relativ viel gelesen. Ich hatte Angst davor, wie das in Ungarn aufgenommen wird, ich dachte, man zerreißt mich in der Luft oder man bezichtigt mich sowieso der Lüge, weil das Buch ja natürlich schon etwas übertrieben ist. Es ist ja Literatur und das muss etwas zeigen, das heißt einzelne Aspekte werden dann größer gemacht und ich war von meiner Seite sehr konsterniert, als die Leute zu mir kamen und sagten: "Weißt du, ganz genau so war es". Und da dachte ich mir, wenn es ganz genau so war, wieso ist dann nie etwas dagegen unternommen worden, wenn es ganz genau so war? Ich könnte auch sagen, ich freue mich, wenn ich offenbar nicht die einzige war, die sich unwohl gefühlt hat, aber eigentlich kann man sich darüber nicht freuen, nur insofern, dass man sich sagt: Okay, ich bin nicht vollkommen verdreht, ich schreibe ja nicht nur über meine eigene Realität sondern über eine, die andere bestätigen können. Aber damals, als wir drinnen lebten, haben wir nicht miteinander darüber gesprochen und das macht einen wiederum traurig. Andererseits war ich ein Kind und ich weiß nicht, wie heutige ungarische Kindererziehung ist, weil ich sie nicht miterlebe, aber damals jedenfalls galt ein Kind als niemand, mit dem man redete.
"Alle Tage" habe ich nur angelesen. Für mich war der Sprung von "Seltsame Materie" zu "Der einzige Mann auf dem Kontinent" enorm, von der Stimmung her, vom Stil her, von allem. Sie haben sich ganz weit entfernt vom Thema und auch von dem Land. Sehen Sie das Ziel Ihrer Bücher, die Gesellschaft widerzuspiegeln in der Sie leben? Was ist das Ziel?
Wenn Sie "Alle Tage" gelesen hätten, dann wäre es zu sehen, dass "Alle Tage" sich zwischen den beiden anderen öffnet auch was das Thema und die eingesetzten Mittel anbelangt. Ich wollte "Seltsame Materie" so schreiben, dass ich es nicht noch einmal schreiben muss, sondern mich anderen Lebenserfahrungen zuwenden kann und anderem Wissen, das ich über die Welt haben kann. Und es ist nun einmal so, dass keiner von uns nur ein einziges Leben hat und Erfahrungen nur in einem einzigen Bereich. Meine Erfahrungen als junge und später nicht mehr ganz so junge Erwachsene unterscheiden sich doch sehr wesentlich von diesen ersten Erfahrungen. Ich lebe mittlerweile in einer anderen Welt und ich halte es für legitim oder ich halte es für gut, wenn man darüber schreibt, worin man lebt. Das ist das, was ich mir vorgenommen habe: Von jetzt an so lange wie ich eben schreibe, immer über das Jetzt zu schreiben. Ich weiß, dass es Leser gibt, die ein Bedürfnis nach Kontinuität haben, dass man ein Buch aus dem anderen ableiten können muss. Ich persönlich brauche diese Kontinuität nicht. Ich lese keine Autoren, ich lese nur Bücher und zwar einzelne Bücher und oft genug ist es so, dass aus dem Lebenswerk eines Autors nur ein Buch und ein zweites, das sehr viel später in einem anderen Zusammenhang entstanden ist, eine Rolle spielt. Es gibt ja Autoren, die immer dasselbe Buch schreiben und manche von denen lese ich gerne. Zum Beispiel Genazino schreibt immer genau dasselbe seit "Abschaffel" bis heute. Ich weiß absolut, was mich erwartet, ich wurde, glaube ich, noch nie überrascht, dennoch, manchmal lese ich es eben gerne.
Berlin ist ja ein Sammelpunkt für Autoren aus dem Osten, wenn ich zum Beispiel an die deutsch-rumänischen Autoren denke von Herta Müller über Ernest Wichner bis Richard Wagner. Herta Müller arbeitet sich im Gegensatz zu Ihnen immer wieder an der rumänischen Geschichte ab.
Gut, aber ihre Erfahrung ist was anderes, obwohl ... wir haben ja auch verschiedene Konstitutionen. Wäre ich gefoltert worden von der Securitate - ich bin so ein Typus, der sich sagt: Ich beschreibe das einmal und mein Triumph über die Situation ist, nicht noch einmal darüber zu schreiben oder nie wieder darüber zu schreiben. Man kann das ja verschiedentlich machen und ich glaube, ich wäre einfach nicht stark genug, das zu tun, was sie tut. Ich fand das sehr schön, was der Jurysprecher von Stockholm gesagt hat, dass egal, wo man die Herta Müller aufschlägt, auf jeder Seite passiert etwas, was einen in den Grundfesten erschüttert und so gehts mir auch. Sie zu lesen, ist für mich eine richtige Herausforderung, weil es mich so angreift und ich bin eine von denen, die dieses ständige Angegriffensein in dem einzigen Leben, das ich habe, einfach nicht aushalten würde. Lesen geht gerade noch, schreiben wäre unmöglich.
Meinen Sie, dass eine Grenzraumsituation, wie die, in der Sie lebten oder auch Herta Müller lebte, für das Schreiben eine große Rolle spielt?
Ich denke schon. Wie es in "Seltsame Materie" heißt, es gibt etwas, was man nicht verlieren kann: die Herkunft. Das heißt, ich habe jetzt genau 19 Jahre in Ungarn verbracht und 19 Jahre in Berlin. Ich bin genau in der Hälfte, diese zwei Hälften sind nicht gleich, das würde ich klar sagen. Die ersten 19 Jahre wiegen viel schwerer und wahrscheinlich wird das auch so bleiben, denn, wenn man ein Kind ist, erlebt man natürlich alles viel intensiver, einfach aus der Position des Ausgeliefertseins heraus. Ich habe Kindheit als eine furchtbare Unfreiheit erlebt. Das hat - ich betone das gerne noch einmal - mit mir selber zu tun. Und dann hatte ich noch das Pech, in einer sehr repressiven Umgebung aufzuwachsen. Ich habe einige meiner Reaktionen - die man gerne Reflexe nennt, doch es sind erlernte Reflexe - wie ich auf Sachen reagiere, ganz eindeutig von dort mitgebracht, zum Beispiel was die soeben erwähnten Uniformen anbelangt oder meine Reaktionen, wenn ich politische Reden höre. Auch im Westen reflektiert man darüber, wie geredet wird, aber dieser nahezu körperliche Schmerz, den man bei diesem Gerede empfindet, kommt durchaus aus dieser Erfahrung, dass man sich dieses demagogische Gerede immerhin 19 Jahre lang angehört hat. Und dass man die Erfahrung gemacht hat, dass WIRKLICH eine große Gefahr dahintersteckt und ich denke, der Westen hat diese Gefahr nicht gespürt. Das wird auf jeden Fall bleiben.
Gibt es denn jetzt eine stärkere Verbindung zwischen Ost und West?
Was das Literarische anbelangt, gibt es, glaube ich, das interessante Phänomen, dass es keine Kommunikation zwischen Österreich und Ungarn gegeben hat - bis heute nicht. Also in dem Sinn, dass konkret der eine Autor mit dem anderen literarischen Kontakt hätte. Wie ist die Orientierung? Ich denke, der ungarische Schriftsteller orientiert sich nach Budapest und der österreichische wird sich Richtung Westen orientieren, also das heißt, es geht so ... (deutet auseinander). Und der Osten interessiert sich für sich ja auch nicht. Die Ungarn nicht in herausgehobener Weise für die Serben oder die Tschechen oder die Slowaken.
Sind da die Grenzen nicht ziemlich zu? Es sind ja historisch gewachsene harte Grenzen.
Es fehlt eine Lingua franca, mit der man kommuniziert, man müsste sich auf irgendeine einigen. Deswegen ist Berlin als Vermittlungsort ganz wichtig - auch für Autoren, die nicht ständig da leben. Slowenische Autoren, Tschechen, Polen, Ukrainer kommen immer wieder da hin und die können dann mehr oder weniger Deutsch oder broken English und darüber läuft die Kommunikation und sie läuft über diesen Ort. Ich weiß nicht, ob Wien auch als solcher Ort funktioniert?
Wien ist von vornherein eher ein naturbelassener Schmelztopf. Mir scheint, dass in Berlin dazu mehr intellektuelle Auseinandersetzung stattfindet - vielleicht hat Berlin aber auch nur das bessere Marketing. Hat man dann auch viele Kontakte zu anderen Autoren?
Ich persönlich nicht, weil man halt zuhause sitzen muss und schreiben, aber in den Kulturinstitutionen, ja. Ich habe auch das Gefühl, dass eine recht große Affinität nach Osteuropa besteht, also man interessiert sich für osteuropäische Autoren. Es gibt immer wieder eine andere Mode, zuerst waren's die Polen, dann die Ungarn, dann die Ukrainer. Olga Tokarczuk ist für Deutsche als wär's eine deutsche Autorin oder Juri Andruchowytsch ist einer von "den unseren". Das funktioniert ziemlich gut zwischen dem Publikum und den Autoren. Ich bin ja eine Nichtrausgeherin, aber die rausgehen, die kommunizieren wahrscheinlich auch mehr miteinander. Und es gibt Autoren, die nicht so mitgenommen sind von großen Aufläufen. Tanja Dückers, der macht das überhaupt nichts aus, jeden Abend von hundert Leuten umgeben zu sein und trotzdem zu schreiben. Ich muss vollkommen alleine sein.
Ich hab in einem anderen Interview mit Ihnen gelesen, dass Sie sich nicht gerne einordnen lassen wollen. Trotzdem: Sehen Sie sich als deutsche Schriftstellerin?
Es klingt alles sehr schön, was ich gesagt habe bezüglich des Interesses für die Osteuropäer, aber das ist zugleich auch ein bisschen positiver Rassismus, sozusagen. Man ist "ostophil", aber dafür muss man dann auch ein gewisses Bild bedienen, man muss "der Wilde Osten" sein oder "Die Welt hinter Dukla" (Anm.: von Andrzeij Stasiuk). Das ist okay für jemanden, aus dem das authentisch kommt und es ist nicht okay für jemand wie mich, aus dem das nicht authentisch kommen würde. Das heißt, ich bin nicht bereit, die Piroschka zu geben, weil ich sie nicht bin. Die Aufgabe, vor die ich jetzt den Rezipienten stelle, ist: Komm damit klar, dass jemand nicht klar einzuordnen ist. Das zu kommunizieren, ist natürlich enorm schwierig, weil wir uns vielleicht gerade danach sehnen, es soll alles einzuordnen sein, weil es eh schon schlimm genug ist, wie alles flirrt und oszilliert. Ich gehe zu keiner Veranstaltung, wo ich die Ungarin geben soll. Es gibt ungarische-ungarische Autoren und die sollen eingeladen werden, die leben auch in Ungarn und die kann man auch danach fragen. Wenn man mich danach fragt, dann kann ich nur das erzählen, was vor 20 Jahren war. Also ich maße es mir nicht an, von heute zu reden, ich lebe nicht da.
Hat Ihnen der Bachmann-Preis 1999 zum Start verholfen?
Absolut. Ich glaube, kein Hahn hätte nach "Seltsame Materie" oder nach mir gekräht, wenn es den Bachmann-Preis nicht gegeben hätte. Es gibt ja so viele erste Bücher über so viele Regionen wie Sand am Meer und das war das Beste, was passieren konnte. Das konnte ich vorher allerdings nicht abschätzen, dass das so sein würde und das war vielleicht auch gut so. Das hätte mich belastet, es hätte mich im Vorfeld wahrscheinlich wahnsinnig gemacht, zu denken: du kommst da her mit dieser Geschichte, damit hast du keine Chance, das ist so abwegig, die Art wie es gemacht ist und worum es geht, und so habe ich es als das genommen was es ist, nämlich ein Text wie jeder andere.
Davor haben Sie Übersetzungen gemacht?
Nein, gar nicht. Ich habe die Übersetzungen danach gemacht. Die Sache lief so: Ich habe Ungarisch studiert in Berlin und die Orientierung der Studenten ging ja in die Richtung, einmal Literatur zu übersetzen. Aber der Tenor am Lehrstuhl war: Macht euch überhaupt keine Hoffnungen, es gibt genug ungarische Übersetzer. Und in der Tat ging der Weg so, aha Sie können schreiben, also können Sie wahrscheinlich auch übersetzen. Ich bin ja gar nicht dazu gekommen, es auszuprobieren, aber ich kann mir vorstellen, dass der Weg viel schwieriger gewesen wäre, wenn ich einfach als Nur-Übersetzerin, was weiß ich, "Harmonia Caelestis" (Anm.: von Péter Esterházy) übersetzen wollte. Ich hätte es ganz genau so gut gekonnt, aber das ist halt der kleine Snobismus und warum nicht, den nutz ich halt jetzt für mich.
Das heißt, der Verlag hat sich an Sie gewandt?
Der Autor in dem Fall.
Ich habe auf Ihrer Homepage gelesen, was Sie alles übersetzt haben. Geht das alles eher in eine gesellschafts-politische Richtung?
Das ist Zufall. Ich übersetze immer dann jemand, wenn es sprachlich eine Herausforderung ist und bei Esterházy weiß man ja, was man macht. Bei (Lajos) Parti Nagy (Anm.: "Meines Helden Platz") weiß man es auch, wenn man sich ein bisschen auskennt mit ungarischer Literatur. Der Mensch ist ja eigentlich Dichter, das heißt auch wenn er Prosa schreibt - man merkt, dass er Dichter ist und das ist für mich, die ich reine Prosaistin bin, die ich mit Gedichten nichts am Hut habe, eine extreme Herausforderung. Und (István) Örkény (Anm.: "Minutennovellen") ist einfach ein Klassiker, das ist nicht schwierig zu übersetzen, da hatte ich durchaus den missionarischen Eifer, dass das die Deutschen oder die Deutschsprachigen kennenlernen müssen, sie werden's genauso lieben wie wir. Sie lieben's natürlich nicht genauso wie wir, weil sie halt anders sind und was anderes herauslesen, aber die "Minutennovellen" sind, glaub ich, ein so genannter Schleicher, also ein Buch, das über die Jahre und immer und immer wieder verkauft wird.
Beeinflusst Sie das Übersetzen im eigenen Schreiben?
Teilweise. Nicht bei Örkény, doch bei Örkény auch. Interessanterweise lernt man ja von allen, auch wenn man nur liest und die Übersetzung ist ein sehr intensives Lesen, insofern beeinflusst es mich mehr als andere Sachen, die ich nur lese, weil eben die Auseinandersetzung damit sehr tief geht. Grundsätzlich lerne ich von allen Autoren, selbst von denen, die schlecht sind, denn da fallen Sachen auf, aha so nicht oder aha, das hätte funktionieren können, wenn er's drauf hätte. Also es gibt durchaus Methoden und Kniffe, die man lernen kann, sei es, okay das entspricht mir nicht, ich mach's anders. Esterházy zu übersetzen, zu sehen, wo sind seine Stärken, wo seine Schwächen, hat mir dann quasi "die Erlaubnis" erteilt, dass auch ich meine Stärken ausspielen und meine Schwächen kaschieren darf. Unter der Voraussetzung, dass das nicht gelogen ist, natürlich.
Ich spreche nicht Ungarisch - lässt sich die Sprache denn gut transponieren?
Die Sprachstrukturen sind verschieden, kulturell ist die Nähe sehr groß. Deswegen ist es nicht so schwierig, als wenn ich ins Japanische übersetzen würde, weil wir ja wissen, wovon wir sprechen. Sowohl bei Parti Nagy als auch bei Esterházy gibt es die Nähe zu Wien, nicht weiter zu Österreich, aber zu Wien ja. Esterházy bevorzugt in den Übersetzungen eher Austriazismen als Germanismen. Das ist auch ein Ausdruck dafür - sein Vater hat ja Wienerisch gekonnt - dass diese gemeinsame Geschichte und die kulturelle Nähe da ist, deswegen ist es nicht so schwierig. Die Sprachen sind natürlich anders aufgebaut und können andere Sachen, aber der Vorteil von Zweisprachigkeit - so wie ich sie habe - ist, dass man sich im Klaren darüber ist, dass es Bereiche gibt, an denen sich zwei Sprachen niemals berühren und dass es nichts bringt, sich da an dieser Stelle zu verkrampfen. Man muss mit diesen Unmöglichkeiten leben und dann an anderer Stelle, wo es möglich ist, etwas dazugeben und auf diese Weise versuchen, zu kompensieren. Eine Übersetzung kann sowieso immer nur ein Buch über das Buch sein. Und da muss ich sagen, bin ich recht gelassen, weil ich mir sage, in zwanzig Jahren gibt es sowieso eine neue Übersetzung, also was du hier machst, ist ein Angebot für das Heute und es ist wie es ist und es wird der nächste kommen und der macht ein Angebot für jene Zeit.
Dazu nun doch noch eine Frage zu Ihrem aktuellen Buch "Der einzige Mann auf dem Kontinent". Ist das Ihr Angebot für das Heute?
Absolut. Das ist, wie ich vorhin erwähnt habe, das, was ich mir vorgenommen habe: darüber zu schreiben, worin ich lebe: das Heute.
"Seltsame Materie"
Rowohlt Verlag, Hamburg, 1999
"Alle Tage"
Luchterhand Literaturverlag, München, 2004
"Der einzige Mann auf dem Kontinent"
Luchterhand Literaturverlag, München, 2009