Leseprobe:
Ein Wort, sie
alle zu
knechten
Die Welt ist voller wiederkehrender Muster. Wir lernen das jeden
Tag: Eine Rolltreppe fährt. In der Küche kocht man. Im Wohnzimmer
sitzt man auf dem Sofa. Das ist die Norm.
Wenn etwas von der Norm abweicht, dann verunsichert uns
das. Wenn die Rolltreppe stillsteht, stolpern wir. Wenn in der Küche
ein Klo steht, stutzen wir, und wenn im Wohnzimmer unser
Lebenspartner am Kronleuchter hängt, dann gefällt uns das nicht.
Lieber ist es uns, wenn er auf dem Sofa sitzt. Meinetwegen tot,
aber dort ist er wenigstens gut aufgeräumt. Dann ist wieder Ordnung.
Und Ordnung muss sein.
Oft braucht es nur wenig, um uns dieses Gefühl von Sicherheit
zu geben. Wenn ich Stabilität suche, steige ich in Fahrstühle.
Denn es gibt ein Wort, das alle Fahrstühle der Welt miteinander
verbindet. Betritt man einen Aufzug, fühlt man sich dadurch sofort
zuhause. Denn da steht es, gleich über den Stockwerkknöpfen eingeritzt,
ein Wort:
SEX.
Ich lese es und bin glücklich.
Es gibt wohl keinen Aufzug auf der Welt, in den nicht irgendwann
jemand das Wort Sex geritzt hätte. Auf mich wirkt das beruhigend.
Es ist, als kommt man in ein fremdes Hotelzimmer und erkennt
an der Einrichtung die fürsorgliche Handschrift eines geliebten
Menschen.
Ich weiß nicht, ob Sie sich jemals über dieses Phänomen Gedanken
gemacht haben, doch wenn man es näher betrachtet, ist es
von epochaler Tragweite. Denn wie passiert so etwas? Geht man in
den Aufzug hinein, sieht die jungfräuliche Konsole und denkt sich:
»Na, was könnte ich da wohl hinschreiben? Was geht mir gerade im
Kopf umher? Natürlich, Sex, ja, das fehlt da noch. Nicht ficken,
nicht bumsen oder I was here, nein, Sex! Es sollte am besten ein
ganzes Stockwerk geben, das so heißt.«
Also schreibt man das doch glatt mal hin, damit die anderen
auch etwas nachzudenken haben. Und, natürlich, gleich darauf
steigt jemand ein, liest es und denkt sich: »Stimmt, Sex, gut, dass
das einmal in dieser komplexen Weise angesprochen wurde, so ein
Tabuthema, das traut sich ja heutzutage niemand mehr, bei der
ganzen Reizüberflutung und so. Jetzt werde ich mein Leben ändern.«
All das nur wegen eines Wortes. Sex.
Was geht in den Leuten vor, die so etwas schreiben? Das schreiben
ja Menschen, die offensichtlich nur mit Mühe überhaupt
schreiben können. Und doch verspüren sie ein gewisses Mitteilungsbedürfnis!
Hat der Sexerich in Wahrheit eine wohldurchdachte
Botschaft? Vielleicht hat er alles von langer Hand geplant.
Er hat einen Aufruf verfasst, um die Welt zu retten! Also setzt er
an, »Sehr geehrte Damen und Herren …« wollte er schreiben,
doch schon nach den ersten zwei Buchstaben spürt er, dass der
Fahrstuhl anhält, und er bemerkt, dass er die Botschaft niemals
fertigstellen wird. Das ist wie in der Schule, wenn die Schularbeit
abzugeben ist und die Glocke schon geläutet hat, und der Lehrer
fordernd vor einem steht, dann muss da jetzt noch schleunigst dieser
letzte Satz hin, damit es nicht ein totaler Reinfall wird, schnell,
schnell, bevor abgesammelt wird, bevor die Fahrstuhltür aufgeht,
irgendetwas, irgendetwas, das Sinn macht! Aber was macht denn
Sinn? Was mach’ ich denn jetzt? Ein S und ein E? Man war ja auch
beim Scrabble immer schon so schlecht!
Daher: S-E-X.
Und ich frage mich, wie der Sexerich dann aussteigt. Hat er das
Gefühl, dass dieser eine Buchstabe nochmal alles ins Lot gebracht
hat? Hat er dieses erlösende Gefühl verspürt, wenn man etwas gesagt
hat, was man schon seit Langem mit sich herumgetragen hat?
Spürt er die Verbundenheit mit all den anderen Fahrstühlen, jenem
Netzwerk aus Kritzeleien, das sich über den ganzen Globus
zieht? Und schaut er nochmal verstohlen über die Schulter und taxiert
die nächsten Passagiere, wie sie überrascht dieses eine Wort
an der Wand bewundern?
Versucht er sich einzureden, dass dieses eine Wort dort an der
Fahrstuhlkonsole so inhaltsleer ist, dass sich jeder selbst eine weltbewegende
Botschaft dazudenken kann? Denkt sich der Sexerich
dann: Ich habe gerade die Welt geändert, weil ich allen die Botschaft
gebracht habe, die sie gerade gebraucht haben. Mein Wort
ist nicht umsonst! Es ist mehr. Etwas, nach dem alles gesagt ist. Etwas,
das bleibt.
Das sollte man mal auf einer Bühne versuchen. Wäre schön
wenn das ginge. Einfach so: »SEX!«, und dann …
© 2014 Milena Verlag, Wien