Leseprobe:
Ich höre ihr Lachen, hoch, am Telefon, ein altes mit Wählscheibe, moosgrün, das schwarze, verdrehte Kabel. Höre ihren Schritt, der Fußboden knarrt unter den Hausschuhen. Ihre blaue Schürze ein Sonnensegel an der Wäscheleine. Die weiche Haut ihrer Wangen und feiner Flaum, Brillengläser so dick wie das Glas, aus dem ich Himbeersirup trank, kristalline Schlieren am Boden. Ihre starken Arme und die Finger, die sich am Türknauf festkrallten, wenn sie die Haustür erreicht hatte.
Die weißen Flächen der Nachricht verstärkten die Worte, das Fehlen der Buchstaben verstärkte ihr Gewicht, machte es mir unmöglich, sie zu verstehen. Mein Atem geriet ins Stocken, unwillkürlich, ich konnte nichts steuern, weder das Zucken meiner Schultern noch die Übelkeit anhalten, die plötzlich in meinem Magen hochstieg, meine Knie wurden weich und mir wurde schwarz vor Augen.
Ich hatte das Gefühl, ein Loch in meinem Körper zu haben, das sich nicht schließen ließ, sich vielleicht nie mehr schließen lassen würde. Ich schaute aus dem Fenster und sah nichts als Mauern und einen grauen Himmel über der Stadt.
Ich erinnere mich an ihre Hand, die über die Küchenzeile wischte. Ihre breiten, trockenen Finger, Arbeiterhände, wie die meines Vaters. Ihr Oberkörper in einer Drehung begriffen, ihr Kopf neigte sich zur Seite, und sie sagte etwas, mit ihrer hohen Stimme.
Ich habe noch nie jemanden verloren, jedenfalls nicht absichtslos. Noch nie hat jemand in meiner Umgebung aufgehört zu sein, aufgehört zu atmen. Wenn sie auf dem Sofa schlief, hielt sie ihre Hände über der Brust gefaltet, der Brustkorb hob und senkte sich. Der Mund leicht geöffnet. Ein Pfeifen entwich ihren schmalen, farblosen Lippen. Ich schlich mich an und beobachtete sie, kitzelte ihre Fußsohlen. Oder saß einfach neben ihr, auf dem Sofa, zählte seine gelben und blauen Striche. Trockenblumen auf dem Couchtisch, Kakteen vor dem Fenster und winzige Souvenirs auf dem Fernseher: Muscheln, eine Schildkröte aus Glas, Rätselhefte.
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