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Teresa Präauer: Das Glück ist eine Bohne und andere Geschichten.

Leseprobe:

Mein Blick fällt auf eine kleine weiße Kartonschachtel, in deren Deckel ein Satz gestanzt ist: "This is a mirror, you are a sentence full of holes." Das ist ein Spiegel, steht da geschrieben, du bist ein Satz voller Löcher. Der Satz selbst macht Löcher in den Karton, am größten sind sie, wo der Buchstabe »O« vorkommt. Wenn jemand, der zu Besuch kommt, diesen Satz, »oh!«, in meinem Regal stehen sieht, beginnt er zu lachen. Denn das ergibt ein schönes Spiegelbild: wenn man sich selbst sieht, als Satz voll von Löchern. Das kleine Objekt ist ein Kunstwerk von Luis Camnitzer, einem Künstler, der sich in seinem Werk, durch die Jahrzehnte hindurch, immer wieder mit Schrift beschäftigt. Wenn man die Schachtel, eine Arbeit für seine Ausstellung in Zürich aus dem Jahr 2010, öffnet, befinden sich darin Karteikarten, auf denen wiederum Fragen gestellt werden. Nach den Sternen, nach dem Sehen, nach der Zeit.
Nachdem mir jemand eine Frage gestellt hat, eine andere, nämlich die nach der "Schönheit der Schönheit", ergibt mein Versuch einer Antwort jetzt Sätze voll von Löchern. Jedes "O" stanzt ein weiteres Loch in meine Gedanken – aber vielleicht sind es ja Wurmlöcher, die so entstehen. Und durch diese kann ein Wurm kriechen, ein Bücherwurm vielleicht. Der Bücherwurm kennt ein paar der Sätze der Welt auswendig, die von Schönheit sprechen. "Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören" lautet einer der berühmtesten. Dieser Satz vom Dichter Rainer Maria Rilke hat für mich in seiner scheinbaren Paradoxie die Anziehungskraft nicht verloren. Er ist, ein lustiger Zufall, der erste Satz gewesen, den ich als Schülerin am Computer eines Freundes in Photoshop gesetzt habe: in Frakturschrift, weil mir die am kühnsten erschienen war. Daneben habe ich eine Vektorgrafik gesetzt, irgendein blödes, buntes Gesicht. Ich habe mir nach der Lektüre dieses Satzes die Schönheit immer als Fläche vorgestellt, wie ich mir nämlich ziemlich vieles, was als abstrakt gilt, gegenständlich vorstelle. Die Schönheit ist eine sich ausbreitende Fläche, die sich so weit vor- und hinauswagt, bis sie an die Grenzen ihrer selbst gelangt. An diesen Grenzen kratzt und reißt und scharrt sie hinüber ins Hässliche. So stelle ich mir das vor. Demgemäß wäre die Schönheit ein Wagnis. Ja, vielleicht ist sie umso schöner, je mehr sie sich vorwagt und am Hässlichen nagt.
Zu Beginn des Studiums in der Malereiklasse habe ich mich gefragt, wieso mein Studienkollege Christoph, der von uns allen doch am besten hat zeichnen können, seine Bilder so verkritzelt und zerkratzt. Es waren Buntstiftarbeiten in allen Farben, sehr viel Rot, Schwarz, Gelb, Dunkelviolett, Dunkelblau. Voll von Strichen wie von Beinen von Hunderten von Weberknechten. Hässliche Spinnen: die Gesichter der Menschen, die er gezeichnet hat. Als ich seine Bilder zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich tatsächlich gefragt, wieso er so gegen sein Talent anarbeitet. Erst nachdem ich sehr viele Bilder gesehen habe, Bilder von Christoph und Bilder von allen anderen auf dieser Welt, hat sich mir die Schönheit seiner Bilder gezeigt. Nicht infolge einer überredung dazu, nein – ich habe ihre Schönheit sehen können, und was ich gesehen habe, habe ich nicht mehr vergessen können. Die Schönheit der Schönheit sehen können: So viele "O", so viele Löcher im Satz!
"Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht / Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, / Das den großen Gedanken / Deiner Schöpfung noch einmal denkt" lautet ein weiterer dieser Welt-Sätze. Das frohe Gesicht, das der Dichter Klopstock da besingt, ist eines, das der Natur gleichsam als Spiegel vors prächtige Antlitz gehalten wird. Als würde da jemand in den See – hier ist es der Zürichsee – blicken, und es fänden sich die Reflexionen der Wasseroberfläche wieder in seinem Gesicht. Einen Gedanken noch einmal denkend. Als wäre Sich-Spiegeln ein Noch-einmal-Denken: Reflexion.
"Beauty", sagt dann David Hume, der Philosoph, "is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contemplates them..." Schönheit sei demnach keine Eigenschaft, die den Dingen selbst innewohne, es gebe sie lediglich im Geist, der über sie nachdenke. Da ist es: das Lichtflackern der gebrochenen Wasseroberfläche des Zürichsees! Sich spiegelnd im Gesicht meiner Freundin Margaux zum Beispiel, während sie auf den Holzplanken der Badi Utoquai sitzt und die bloßen Füße baumeln lässt. Und ich neben ihr, ein blödes, buntes Gesicht aufgesetzt. Starren wir Löcher in die frühsommerliche Luft? Und springen danach ins Wasser und berühren mit unseren Fingerspitzen den Grund des Sees? – Es ist ein Augenblick, der schon wieder vergangen ist. Bis wir uns wiedersehen.
"Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön!", sagt Faust in meinen Ohren in Goethes Worten, und so habe ich einen weiteren der berühmten Welt-Sätze aus meiner auswendig gesungenen Gedankenmelodie geholt. Nachdem aus diesen bekannten Sätzen etwas Inwendiges geworden ist. Ein paar Mal gehört und gelesen, rhythmisieren sie die neuen Sätze. Das Schöne der Sprache steckt doch auch hier, wo in den neuen Sätzen der Literatur ein alter Refrain mitklingt.

(S. 72–74)

© 2021 Wallstein Verlag, Göttingen

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