Leseprobe aus "In nördlichen Wäldern" von Bettina Balà ka
Weißt du was?, sagt Anna. Ich sag dir einfach vorher, wie es für mich sein wird. Die Geduld wirst du ja haben. Also: Die Liebesnacht ist wie Eislaufen auf einem einsamen Fluss in nördlichen Wäldern. Dein Weg ist klar und frei und umstanden von verzauberten Gestalten: raureifumkrusteten Tannen, Schneewächten mit Gesichtern, Felsen, über die gefrorene Wasserfälle quellen. Du fährst und fährst, in dir ist es warm. Der Fluss hat Biegungen, hinter jeder fällt das Licht ein wenig anders. Links, rechts, links, rechts schneiden deine Kufen in das Eis und die kleine Bewegung wächst ganz von selbst zu einem großen Gleiten. Wer hätte gedacht, dass du so schnell sein könntest, so todesverachtend, so stark! Liegt ein Zweig auf dem Eis, weichst du ihm geschickt aus, fährst du über eine plötzliche Unebenheit, federst du sie ab mit einem eleganten Sprung, taucht aufgewehter Schnee auf deinem Weg auf, fährst du hinein und er stäubt in einer glitzernden Wolke auf, die du auch gleich wieder verlässt. Unter dem Eis siehst du riesige Fische zu dir heraufschauen, aus dem Unterholz blinzeln silberne Pelztiere, von den Wipfeln lösen sich Vögel mit einem heiseren Schrei. Der Mond gleißt, die Sterne funkeln, Nordlichter und Luftspiegelungen wabern. Du fühlst dich von der Landschaft umfangen, ja, von der Welt. Denn auch hinter der Landschaft pulsiert alles in einem tieferen Sinn nur für dich und hält dich und leuchtet und rauscht.
Klingt doch super, sagt Benedikt.
Ja, sagt Anna, aber du weißt auch, dass das Eis nicht halten wird. Dass der Moment kommen wird, wo du einbrichst und in das schwarze, eisige Wasser stürzt. Wo jeder Versuch, dich am Eisrand festzuhalten und wieder hinaufzuziehen, unweigerlich dazu führt, dass noch mehr Eis abbricht, und das Loch, in dem du strampelst, größer und größer wird. Die Kälte hat blitzschnell all deine Schutzhäute überwunden. Sie greift ganz tief in deinen Kern und du weißt, dass du mutterseelenallein bist und dass die Welt und die Landschaft sich nicht um dich scheren.
Ist das eine postkoitale Depression, oder was?, fragt Benedikt.
Nein, nein, sagt Anna, das kommt nicht gleich nach dem Koitus, eher am Mittag danach. Wenn die schlagartige Erkenntnis einsetzt, dass es keine Liebesnacht war, sondern nur eine banale Ficknacht.
Warum machst du es dann?, fragt Benedikt.
Das Eislaufen ist ja super, sagt Anna.
(S. 50-52)
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