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Michael Dangl: Orangen für Dostojewskij.

Leseprobe:

"Bitte zögern Sie nicht !", schob ihn da der Wirt, der einen neuen Krug gefüllt hatte, mit der freien Hand zur Tür, durch sie hindurch, und schon stand Dostojewskij an der Tafel, die fast den ganzen Raum ausfüllte, und weil das Lied in diesem Moment am Ende war und die Darbietenden sich selbst akklamierten, schien der Eingetretene eine Art Auftrittsapplaus zu bekommen. Der Rossini genannte Mann stand auf und sagte: "Buona sera. Siate mio ospite, per favore. Sono Gioachino Rossini e questi sono i miei amici."
Dostojewskij dankte, sagte seinen Namen und setzte sich auf den ihm angebotenen Platz auf der Bank gegenüber. Die anderen waren vom Singen in die lebhafteste Unterhaltung geglitten, tranken, riefen durcheinander und lachten, der vollhalsige Gesang war hingegen leise gewesen. Auch die Aufmerksamkeit des Gastgebers auf ihn schien fürs Erste beendet und wieder auf den Jungen neben sich gelenkt, was ihn nicht daran hinderte, die eine oder andere Bemerkung zu irgendeinem entfernter Sitzenden zu machen, dem Wirt, der nun an einer weiteren Türe, die vielleicht zur Küche führte, stand, Anweisungen zu geben und zwischendurch die ganze Runde mit einer scherzhaft gesungenen Phrase zum Lachen zu bringen. Es schien, als wären seine Augen und Ohren überall, und alle aus seiner Freundesschar, sosehr sie miteinander beschäftigt waren, hatten immer wenigstens ein Ohr und ein Auge bei ihm, um nichts von seinen Äußerungen zu verpassen und sofort zu reagieren, sollte er sie in die Unterhaltung einbeziehen. Der stattliche Mann mit dem berühmten Namen war der natürliche Mittelpunkt der Tafel, ihre Sonne, und stand mit jedem der ihm umkreisenden mitfeiernden Gestirne in energetischer, sympathischer Verbindung. Dostojewskij trank aus dem Kristallglas, das man ihm hingestellt hatte, der schäumende Wein rann kühl und erfrischend über seine Kehle und belebte, wärmte und erregte sein Inneres wie ein Zaubertrank. Zugleich sah er die Augen des jungen Mannes auf sich, sie waren blau wie Veilchen mit übergroßen pechschwarzen Pupillen, die vollen, geschwungenen Lippen lächelten, was die starken Backenknochen über den schmalen Wangen des spitz zulaufenden Gesichts betonte, das Gesicht war schön, engelhaft, und beinahe kindlich jung, aber die Formung der Mundwinkel, der Ausdruck des Lächlens und besonders ein irgendwie lauerndes Wissen in den Pupillen konterkarierten den Engel und das Kind, und als er aufstand und zum Wirt ging, um ihm etwas zu sagen und dann durch die Tür hinauszuschlüpfen, sah man auf einmal ziemlich deutlich, dass der junge Mann mit den schulterlangen Haaren und der tänzerhaft schlanken Figur in Wirklichkeit ein junges Mädchen war.
Dostojewskij fühlte sich an etwas erinnert, doch hatte er keine Zeit, nachzudenken, weil er angesprochen wurde. "Victoria kommt zurück", sagte der Mann ihm gegenüber und zwinkerte ihm freundlich und ohne Anzüglichkeit zu. "Ich nehme an, Sie bevorzugen die französische Sprache? Sie kommen aus Russland, nicht wahr?"
Dostojewskij nickte – im Französischen war er sicher – und betrachtete das fremde Gesicht. Alles an diesem Mann schien in die Breite zu zielen. Und doch hätte man ihn nicht dick nennen wollen. Die Schultern waren mächtig, der Kopf grandios, nur die Haare lagen gescheitelt und zur Seite frisiert seltsam flach, wie angeklebt, auf ihm und fielen in sich leicht wellenden Büschen über die Ohren hinab. Die scharfe, raubvogelhafte Nase akzentuierte das flächige, großwangige Gesicht, die schwarzen, kleinen Augen über den ausgeprägten Tränensäcken waren müde und wach zugleich. Die dunklen Augenringe erzählten von durchwachten Nächten und reicher Lebenserfahrung. Der Mund wusste um Leid und Sinnlichkeit.
"Sie wundern sich, dass ich noch am Leben bin", kam aus ihm, und die Lippen schürzten sich neckisch.

(S.100 – 102)

© 2021 Braumüller Verlag, Wien.

 

 

 

 

 

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