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Christoph Ransmayr: Der Fallmeister.

Leseprobe:

Mein Vater hat fünf Menschen getötet. Wie die meisten Mörder, die bloß Tastaturen, Hebel oder Kippschalter bedienen, wenn sie für einen maßlosen Augenblick die Herrschaft über Leben und Tod an sich reißen, berührte er dabei kein einziges seiner Opfer oder sah ihm auch nur in die Augen, sondern flutete über eine Reihe blanker Stahlwinden eine der Flußschiffahrt dienende Bootsgasse.
Der durch die geöffneten Schleusentore freigesetzte Wasserschwall verwandelte diese Gasse, einen schmalen, aus Lärchenbalken gezimmerten Kanal, in einen reißenden Abfluß. Ein darin eben noch driftendes, mit zwölf Menschen besetztes Langboot glitt dadurch nicht wie vorgesehen in ruhiger Fahrt vom Ober- in den Unterlauf des Weißen Flusses, sondern schoß in jäher Beschleunigung zwischen bemoosten Felswänden talwärts. Dort, wo die Bootsgasse wieder in das alte Flußbett einmündete, ließ der Schwall das Langboot wie von einer Riesenfaust getroffen umschlagen und kieloben durch brodelnde Kehrwasserwirbel davontaumeln.
Im Donnern des Großen Falls, jenes mehr als vierzig Meter hohen Wasserfalls, der durch ein von meinem Vater fast dreißig Jahre lang reguliertes, ja beherrschtes Kanalsystem sicher umfahren werden konnte, wurden sowohl die Entsetzensschreie der an den felsigen Ufern versammelten Zeugen des Untergangs als auch die Schreie und Hilferufe der Gekenterten und Ertrinkenden unhörbar. Der Weiße Fluß und sein von Flößern und Bootsleuten über Jahrhunderte gefürchteter Fall schluckten jeden Laut, der nicht zu den Wirbeln, nicht zur Gischt, nicht zum Widerhall des gegen die Felsen tobenden Wildwassers gehörte.
Es war ein frühsommerlich warmer, leicht bewölkter Tag, ein Freitag im Mai, an dem nach einem damals wie heute gültigen Kalender der Märtyrer in vielen Dörfern und Städten entlang des fast dreitausend Kilometer langen Stromverlaufs das Fest des heiligen Nepomuk gefeiert wurde – des Schutzpatrons der Flößer, der Brückenbauer und Schleusenwärter, aber vor allem: des Hüters der Verschwiegenheit. Nepomuk, Bischof und kaiserlicher Beichtvater im mittelalterlichen Prag, so überlieferte es eine Legende, die in handtellergroßen, vergoldeten Buchstaben in einen Felsen am Großen Fall geschlagen worden war, hatte sich geweigert, die ihm von einem Kaiser eingestandenen Verbrechen preiszugeben, sei dafür gefoltert und mit einem Schleifstein um den Hals in die Hochwasser führende Moldau gestürzt worden.
Auch wenn in den Tagen seines Festes die meisten Fährverbindungen bereits eingestellt und viele Brücken zerstört waren, die den bis ans Schwarze Meer strömenden Weißen Fluß einmal überspannt hatten, schien der Geist des Brückenheiligen immer noch selbst über gesprengten und überspülten Pfeilern und geborstenen Stahlbögen zu schweben – zu schweben über rostgebräunten oder unter Moospelzen zerfallenden Resten, die in den Sommermonaten in tiefgrünem Dickicht versanken, während sie sich im Winter wie die Gespenster einer in Schande untergegangenen Welt kalt und schwarz aus den Wasserstaubwolken erhoben.
Mehr als vierzig Sprachen wurden am Weißen Fluß gesprochen, aber die Zahl der Brücken, die seine Ufer einmal miteinander vernäht hatten, schrumpfte mit jedem Jahr weiter und verwies mit dramatischer Deutlichkeit auf ein Zeitalter der Trennungen und Grenzen. Denn mit den Brücken waren auch die meisten Allianzen und staatlichen Verbindungen auf dem europa?ischen Kontinent verschwunden und zu einem Hagel aus Zwergstaaten, Kleinfürstentümern, Grafschaften und von Flaggen und Wappen geschmückten Stammesgebieten zersprungen. Ruhig und unaufhaltsam wie je zog der Weiße Fluß einer Zukunft entgegen, in der nur noch einige morsche Kähne und Rollfähren zwischen jenen glucksenden und schäumenden Wirbeln verkehren sollten, die aus der Strömung ragende Trümmer umrauschten.

(S. 7-9)

© 2021 S. Fischer, Frankfurt am Main

 

 

 

 

 

 

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