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Peter Handke: Mein Tag im anderen Land.

Leseprobe:

In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe. Und wenn ich jetzt, gar spät, endlich damit komme, so stammt das zu Erzählende, obwohl ich selber, jedenfalls für den Anfang der Geschichte, deren Hauptperson und einziger Handelnder bin, weder in Wort noch in Bild von mir. Die Geschichte hier: Ich habe sie, in ihrem ersten Teil, in Fleisch und Blut erlebt, leibhaftig wie kaum eine der sonstigen Geschichten meines Lebens. Aber ich weiß von ihr allein vom Hörensagen – aus den Erzählungen anderer, meiner Familie, und stärker noch, raumgreifender, Dritter, der Leute aus dem Dorf; wenn nicht, mit noch größerer Nachwirkung heute, aller der mir völlig Unbekannten aus den umliegenden Ortschaften und noch weit darüber hinaus.

(S. 9.)

Ich jedenfalls war kein Fremder für ihn. Wie sonst hätte er mir die Hand auf die Schulter legen können, mit der zartesten Beiläufigkeit, trotz oder dank derer ich heute noch diese Hand auf mir spüre, und mich begrüßt mit einem: »Da bist du mir ja wieder, mein Freund!« Noch nie hatte ein anderer mich so seinen Freund genannt. Und meine Schwester erzählte mir, da auf der Stelle, sie sei ihm damals bei ihren Besuchen an meinem Sitz in der Steppe immer wieder begegnet, und eines schönen Tages habe sie ihn gar, wenn auch »im gehörigen Abstand«, mir gegenüber bei den fast versunkenen Grabhügeln angetroffen, ein Buch lesend und dazwischen immer wieder davon auf- und zu mir, und dann auch zu ihr hinschauend. »Ja, und so ist er in der Folge mein Liebster geworden, und ist es seitdem auch geblieben. Damit du es weißt, Bruderherz!«

(S. 48, 49.)

In dem einen oder anderen Fall geschahen auch Verwechslungen. Ich wurde, der Reihe nach, für einen vormals landweit bekannten Schanzenspringer gehalten, den Barpianisten vom »Grand Hotel«, einen Star-Anwalt, einen Fußball-Schiedsrichter, einen Zeitungs-Karikaturisten, einen Gentleman-Farmer, einen Cowboy-Darsteller, einen Begräbnisunternehmer (wegen meines schwarzen Anzugs und weißen Hemds?), sogar einen Notar (ebendeswegen?), wenn nicht gar einen, nichts wie weg von seinem Amt, von jeder Amtlichkeit!, auf und davon gegangenen Priester (ebendeswegen?), einen Seemann auf dem Weg zurück zu seinem Schiff (wegen der weiten, im Gehwind knatternden Hosenbeine?). Und einmal wurde ich auch mit dem letzten Bauern der Gegend und überhaupt des anderen Landes verwechselt – wobei Gruß und Umarmung womöglich noch um eins inniger ausfielen, war nämlich ich, als jener Bauer, dem Hörensagen nach, welches daselbst die örtlichen Nachrichten vordringlich bestimmte, vor Wochen schon gestorben. »Wie das, Bauer, du lebst?! Und wie du lebst! In meine Arme mit dir!« Und ich? Ließ denen allen ihren Irrtum. Und erzählenswert vielleicht noch, wie an diesem Tag nicht wenige der offensichtlich Einheimischen mich, den Ortsfremden, nach einem Weg fragten.

(S. 70, 71.)

Letzte Nacht hatte ich einen Traum, wo ich zurück war in meiner Nische auf dem einstigen Steppenfriedhof. Es war daraus ein Verschlag geworden, oder bloß eine einzige Bretterwand. An der hing ein Spiegel, ein prächtiger, wie frisch geputzt. Als ich davortrat, erschrak ich nicht bloß – es packte mich ein Grauen: Ein Fremder schaute mich an, ohne die geringste Ähnlichkeit mit mir, ein so völlig Unbekannter wie eben nur ein Unbekannter im Traum. Doch mit dem ersten Wimpernzucken wich das Grauen einem Staunen, und aus dem Staunen wurde Zutrauen. Denn so gar nichts von glühenden Augen, gesträubten Haaren, geblähten Nüstern. Ein so müder wie sanfter Mann blickte mir entgegen, von dessen Lippen ich erst einmal ablas: »Keine Angst.« Dazu im Spiegel ein Hintergrundleuchten wie das von unbekannten Sternen- und Planetensystemen im Universum.

(S. 90, 91.)
 

© Suhrkamp Verlag, 2021.

 

 

 

 

 

 

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