Leseprobe:
Er hat sich in den Monaten seiner Flucht noch nie so wohl gefühlt wie hier in Janis' Wohnung.
Es war beim vierten Gespräch im Busbahnhof-Café – sie sprachen in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch –, als die Frau unvermittelt sagte: »Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch, du könntest bequemer illegal in meiner Mietwohnung wohnen. Und eine gründliche Dusche hast du mehr als notwendig. Ich glaube, ich kann dir vertrauen, darum biete ich dir das an. Missbrauchst du mein Vertrauen, werfe ich dich auf der Stelle hinaus. Ich weiß, wo die Polizei dich findet, solltest du mich bestehlen.«
Farid wusste erst nicht, ob er das verlockende Angebot annehmen solle. Was bedeutete das für sein Vorhaben? Entweder krepierte er hier oder es gelang, die verdammte letzte Grenze zu überwinden.
Janis beschrieb ihre Wohnung:
Sie hat auf das von »No way« angebotene, kostenlose Zimmer verzichtet. Kleine Wohnungen stehen in Belgrad in genügender Anzahl frei. Einer der serbischen Unterstützer der NGO, Zoran, hat ihr seine neu renovierte Kellerwohnung zu unglaublich günstigen Konditionen überlassen. Natürlich ohne Mietvertrag. Laut ihrer Aufenthaltsbestätigung ist sie Zorans Gast. Der wohnt wiederum einen Stock höher, ohne offiziellen Mietvertrag, in der Wohnung eines Freundes. Unklar ist, ob dieser Freund tatsächlich Besitzer der Wohnung ist.
Vor der Tür der Kellerwohnung stinkt es nach Katzenpisse. Die im zweiten Stock werfen jeden Abend den Kater mit dem malträtierten Bein aus der Wohnung. Das Stiegenhaus des fünfstöckigen Baus ist bei dieser Kälte sein Revier.
– Noch ein Heimatloser? –, dachte Farid, als Janis davon erzählte.
Alles, was Janis braucht, hat sie hier. Fernseher, Internet, Handyempfang. Die Küche ist gut eingerichtet. Sonst gibt es an Möbeln noch einen alten Kasten, der Janis' Kleidung einen etwas abgestandenen Geruch verleiht, und ein knarrendes Bett. Der Supermarkt ist nicht weit weg, alle Konzerne des reichen Europas sind in Belgrad inzwischen gelandet. Janis kauft lieber in den kleinen Läden. Der nächste davon ist, wenige Schritte entfernt, in einer alten Baracke untergebracht. Wer Geld hat, kann in Belgrad alles kaufen. Das sind aber nur wenige. Die große Mehrheit muss an allem sparen. Im Haus wohnt ein alter Mann, der 120,- € Rente bezieht. Im Winter braucht er monatlich 70,- € für die Elektroheizung seiner kleinen Wohnung. Der Rest bleibt fürs Leben. Kein Einzelfall. Erstaunlich, mit welcher stoischen Gelassenheit die Belgrader ihre Lage hinnehmen. Genauso erstaunlich, meinte Janis, ist es, welche lächerlichen Kleinigkeiten ihren österreichischen Landsleuten lebensbedrohliche Probleme zu sein scheinen.
Farid und Janis vereinbarten die Besichtigung der Wohnung noch für denselben Tag.
Es gibt einen fensterlosen Vorratsraum, der früher einmal ein Kellerabteil gewesen sein muss. Groß genug, um eine Matratze auf den Boden legen zu können. Farid meinte, er könne auch ohne Matratze schlafen, er habe sich inzwischen daran gewöhnt. Janis aber hatte im nahen Einkaufszentrum eine Art Futon entdeckt. Sie bestand darauf, die Rollmatratze zu kaufen, falls Farid ihr Angebot annehmen wolle.
Nachdem er geduscht hatte und in die von der Frau gekauften Kleider geschlüpft war, saßen sie im Wohnzimmer, das Janis auch als Schlafzimmer nützte, und tranken Kaffee.
»Wenn Sie das auf sich nehmen wollen,« sagte er unvermittelt, »es ist die erste normale Wohnmöglichkeit auf meiner Flucht. Ich könnte mich nützlich machen. Kochen, alles, was es im Haushalt zu tun gibt …« Janis fiel ihm ins Wort: »Ich brauche keinen Bediensteten. Du bist mir nichts schuldig.«
»Warum tun Sie das?«
Es brauchte eine Weile, bis Janis zu einer Antwort fand: »Einfach so.« Farid spürte, wie sie sich einer Antwort entzog.
(S. 25-27)
© 2021, Karina-Verlag, Wien