Leseprobe
Eines Nachts, als er sich gar nicht mehr beruhigen wollte, packte ich ihn ins Auto und fuhr mit ihm aus der Stadt hinaus. Er war sofort still, schien zu schlafen. Ich fuhr ein Stück auf der Autobahn, dann durch die Dörfer in ein hochgelegenes Tal. Ich mag dieses Tal, es ist von Bergen umgeben, die Straße, die durch die Dörfer führt, steigt höher und höher bis zum Fuß eines Gebirges.
In dieser Nacht war das Wetter klar, am Himmel kaum Wolken, der Mond rund und groß. Ich fuhr über eine Brücke, sie führt über eine tiefe Schlucht. Im Lauf der Jahre waren immer wieder Menschen von dieser Brücke in den Tod gesprungen. Es war ein sicherer Tod, das Leben derjenigen, die es wagten, endete nach einem Sprung aus neunzig Metern Höhe in einem Bachbett. Am Ende der Brücke befindet sich ein Parkplatz, davor eine eingezäunte Plattform, ein Aussichtsplatz. Oft halten dort Fremde an, um die Brücke, eine der längsten und höchsten in Europa, zu fotografieren. Aber in dieser Nacht war der Parkplatz leer.
Ich stellte den Motor ab, stieg aus, um eine Zigarette zu rauchen. Kaum hatte ich sie angezündet, begann Achim zu weinen. Ich war so müde, zu müde, um weiterzufahren. Am liebsten hätte ich mich ins Gras gelegt, um zu schlafen. Aber es war kalt, und obwohl die Autotüren geschlossen waren, hörte ich, wie Achim weinte. Ich entfernte mich so weit wie möglich vom Wagen, stand ganz vorne an der Plattform, lehnte mich an den Zaun, sah die Scheinwerfer eines Autos, das auf der anderen Seite des Tobels auf die Brücke zufuhr, duckte mich, der Fahrer sollte mich nicht sehen. Falls er stehen blieb, würde ich weiterfahren. Aber der Wagen fuhr vorbei.
Aus der Erzählung "Das fremde Kind" (S. 133 f.)
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