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Eva Menasse: Dunkelblum

Leseprobe:

In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt. Die Menschen haben immerzu ein Gespür. Die Vorhänge im Ort bewegen sich wie von leisem Atem getrieben, ein und aus, lebensnotwendig. Jedes Mal, wenn Gott von oben in diese Häuser schaut, als hätten sie gar keine Dächer, wenn er hineinblickt in die Puppenhäuser seines Modellstädtchens, das er zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle, dann sieht er in fast jedem Haus welche, die an den Fenstern hinter ihren Vorhängen stehen und hinausspähen. Manchmal, oft, stehen auch zwei oder sogar drei im selben Haus an den Fenstern, in verschiedenen Räumen und voreinander verborgen. Man wünschte Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.
In Dunkelblum wissen die Einheimischen alles voneinander, und die paar Winzigkeiten, die sie nicht wissen, die sie nicht hinzuerfinden können und auch nicht einfach weglassen, die sind nicht egal, sondern spielen die allergrößte Rolle: Das, was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch. Die anderen, die Zugezogenen und die Eingeheirateten, wissen nicht viel. Sie wissen, dass das Schloss abgebrannt ist, dass die Nachkommen der Grafen jetzt in verschiedenen, weit entfernten Ländern leben, zum Heiraten und zum Taufen aber üblicherweise zurückkommen, woraufhin es große Feste gibt für den ganzen Ort. Die Kinder holen aus den Bauerngärten Blumen und winden Girlanden, die alten Frauen kramen ihre hundertjährigen Trachten heraus, und alle stellen sich entlang der Herrengasse auf und winken. Mit nadelspitzem Lächeln nehmen die ausländischen Bräute wahr, dass hier, trotz der vor Langem erfolgten republikanischen Übernahme, noch auf die Untertanen Verlass ist, zumindest alle heiligen Zeiten einmal.
Begraben lassen sich die Grafen allerdings schon lange nicht mehr hier. Die Gruft kann besichtigt werden, doch sie wird nicht mehr belegt. Zwar hat man die Grafen zwanzig Jahre nach dem Krieg erst unter Hinweis auf die undichte Familiengruft überhaupt wieder nach Dunkelblum gelockt. Unmittelbar nach dem Krieg dagegen hatte man sie – wer genau, ist unbekannt – mit erstaunlicher diplomatischer Kunst ferngehalten: Die Nachrichten, die man zum Zustand der Brandruine übermittelte, waren stark übertrieben. Abreißen, leider, alles abreißen, lautete der mit Tränen und Erschütterung vorgetragene Befund, und die kurz zuvor verwitwete Gräfin im Exil glaubte ihren ehemaligen Verwaltern und Pächtern und Sekretärinnen und Zofen oder wer immer dahintersteckte oder wer immer weitertrug, was er vom Hörensagen wusste oder zu sagen gezwungen worden war. Vielleicht wollte die Gräfin es glauben. Für einen Lokalaugenschein war sie zu faul oder zu feige, für ein Gutachten zu wenig flüssig. Und so wurde das Schloss abgerissen und eine gigantische Menge an bestem Baugrund wurde frei, in einer vormals unerreichbaren, zentralen Lage. Irgendjemand musste damals davon profitiert haben, denn jemand profitiert immer. Seither ist der Ortskern von Dunkelblum baulich und atmosphärisch zweigeteilt: in die jahrhundertealte, bäuerlich-verwinkelte Hälfte, weiß gekalkt und mit blauen oder grünen Fensterläden, und in die andere, schauerlich zweckmäßige, Blech und Silikon, praktisch und abwaschbar, so wie man damals, zur Zeit des Wiederaufbaus, auch innerlich gern gewesen wäre.
Zurück auf Stippvisite kam also, zwanzig Jahre später, der leutselige älteste Sohn der Gräfin, dem man vieles nachsagen konnte, nur nicht, dass er sentimental gewesen wäre. Die Vorfahren safteln!, trompetete er, ließ die Gruft öffnen und abdichten, was dort abzudichten war. Dann segnete der Herr Pfarrer alles mit Nachdruck für die Ewigkeit ein, und die Gruft wurde wieder geschlossen. Damals soll es noch Dunkelblumerinnen gegeben haben, die Durchlaucht nach der Zeremonie die Hand küssten, knicksend. Der Ferbenz hingegen hat genau zur gleichen Zeit einen allgemeinen Frühschoppen im Café Posauner plakatieren lassen. Aber diesem Spaltungsversuch war kein Erfolg beschieden: Wenn der Graf und der Pfarrer riefen, wussten die meisten, was sich gehörte, auch wenn man ansonsten mehrheitlich der Meinung vom Ferbenz war. Der Graf ging vor. Er war ja so selten da. Und so saß der Ferbenz mit dem harten Kern seiner Getreuen im Café Posauner und sie tranken sich die Nasen rot, und obwohl es aussah wie eine Niederlage, wusste jeder von ihnen, dass sie alle sich für immer merken würden, wer da gewesen, und vor allem, wer nicht da gewesen war, und wer von den Anwesenden einen Stiernacken hatte – das waren die meisten –, dem rötete er sich bereits vor Vorfreude, weil mit der Abreise des Grafen die Machtverhältnisse in Dunkelblum schon bald wiederhergestellt sein würden.

 

© 2021 Kiepenheuer & Witsch

 

 

 

 

 

 

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