Leseprobe
Gefühl ist alles
Wir waren Helden.
Ruhestörer.
Krawallmacher, Schreihälse, lärmende Heiden.
Würgeengel der Besinnlichkeit.
Nie gab es einen schöneren Klang auf der Welt als den krachenden Akkord einer E-Gitarre, der aus einem übersteuerten Röhrenverstärker dröhnt, das Flirren der Obertöne und die unsichtbaren Schwingungen, die dir in den Bauch fahren wie die Druckwelle einer Explosion. Dazu der treibende Beat des Schlagzeugs und ein wummernder Bass. Dazu eine Stimme, geölt mit Cola-Rot und Zigaretten, kurz vor dem Wegbrechen. Dazu dutzende nassgeschwitzte Körper, die grölen, klatschen und ekstatisch vor der Bühne wuseln wie ein Ameisenvolk auf Speed. Das ist der Klang, den du nicht nur hörst, sondern vor allem spürst, in der Magengrube, in den Beinen, im Hypothalamus. Ein Klang, den du nie vergessen wirst. Den du noch Jahre später heraufbeschwörst, in der Hoffnung, ein Gefühl wiederzubeleben, von dem du nicht sicher bist, ob es nicht längst unwiederbringlich tot und vergessen ist. Damals war es einfach: rein in den Van und raus auf die Straße, das Klinkenkabel in den Amp stecken und aufdrehen, bis die Gläser klirren. Damals. Verschwommene Nächte voller Glück und Tinnitus. Wir neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären und auf ein Podest zu stellen, aber wenn man weiß, dass es an der Gegenwart nichts Leuchtendes gibt, nichts, das man schönreden oder retrospektiv idealisieren könnte, dann ist man um jedes Highlight froh, das golden aus der dunklen Masse der Erinnerungen sticht.
(S. 7f)
© 2021, Kremayr & Scheriau, Wien