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Roman.
Residenz Verlag, 2021.
192 S.; geb.; EUR 20,-.
ISBN 978-3-7017-1736-1.
Thomas Arzt
Rezension
Leseprobe:
Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortsstraße hinan, vom Bleimfeldnerhaus, wo der Vater ein Schuster und er schon gar nicht mehr wirklich daheim, weil er doch lang schon fort. Ein Studierter, der Bleimfeldner Karl, aber trägt das Zuhaus noch in sich, samt Schustervater und Näherinmutter, kleinbürgerlich die Sippschaft allesamt. Ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da, denkt sich der Karl und spürt so etwas wie eine Verwurzelung, erstmals vielleicht.
Jetzt muss er an das Gespräch von gestern Abend denken, als er angekommen ist. Die Mutter beim Tisch in der Kuchl, weißt, Karl, ist halt nimmer wie früher, und sie hat dabei zum Fenster rausgeschaut, wo drüben beim Platzer die Dorfjugend auf ein Bier, den Hitlergruß ganz artig und musterhaft vorführend, lächerlich, denkt der Karl. Die gleichen Burschen haben vor Kurzem noch artig und musterhaft den Herrgott beschworen. Nimmer wie früher, wiederholt die Mutter, und setzt fort, weil wichtig ist, egal was kommt, die Familie. Schaut in die Runde, mit Mutteraugen, war da eine Angst? Angstmutteraugen schauen in Angstvateraugen. In Angstschwesterhänden blitzt ein Messer, willst ein Brot, Karl?
Egal also was kommt, denkt sich der Karl, den Abend von gestern im Kopf, und geht jetzt schon auf Höhe Baronteich, da ist einst die erste seiner Schwestern, lang lang ist’s aus, die ist da hinein, in der Nacht, und nimmer raus. Das Kind konnt nicht schwimmen, eine Tragödie. So kommt ihm seine Verwurzelung recht schwerwiegend vor, und schwer muss er atmen. Als würden’s mich nach hinten ziehen wollen, die Heimatwurzeln, mich festhalten: Tu’s nicht!
Palmsonntag, April 1938, und der Ort ist geschmückt.
Da stellt sich wer in den Weg, servus Karl. Und der Karl schaut rein, ins Gesicht von der Kern Cilli. Gar nicht bei der Mess, Karl? Die Kern Cilli, einen Kopf kleiner, aber heut in einer Aufgerichtetheit. Hab gehört, hast was Dummes vor, hast doch nix Dummes vor, bist doch nicht dumm, und die Worte haben was Anmaßendes, heut redet die Kern Cilli, als würd sie in die Höhe schießen, weil sie ja die Tochter vom neuen Bürgermeister, der ja auch ein Hochgeschossener ist, mit Parteigewalt, so ist die Cilli mitgewachsen, mit Vater, Familie, der gesamten Gemeinde: Und eine nie dagewesene Größe spricht aus ihr. Heut ist ein Freudentag, Karl, den wirst doch nicht verderben wollen. Wem sollt er hier was verderben? Wen wollt er denn hier mit reinstürzen, ins Verderbliche? Der Mensch verdirbt sich sein Leben schon ganz von selbst, entgegnet der Karl ohne Umschweif, als hätt er sich die Worte zurechtgelegt. Hat sie’s gehört, die Bürgermeistertochter? Hat sie überhaupt die Ohren für einen klaren und nüchternen Gedanken? War doch immer die Erste, die in Euphorie beim Faschingsball sich selbst vergessen wollt und die Burschen einen nach dem anderen verschlingen hätt können, oder ist er jetzt nur eifersüchtig? Hätt der Karl gern was von dieser euphorischen Selbstvergessenheit abbekommen? Und von der Kern Cilli ihren verschlingenden Lippen? Verrennt sich der Karl in etwas, am Gang zur Wahlurne, will er sich zu einer Dummheit hinreißen lassen? Wer reißt hier wen? Ist doch eine ausgemachte Sach, Karl, der Anschluss ist lang schon passiert, und da lacht die Kern Cilli, fast freut sich hier ein Mensch ganz ohne Vorbehalt, sie freut sich wirklich, denkt der Karl. Da wird doch auch der letzte kritische Geist sein Einsehen haben müssen, sie schubst den Karl, war das liebevoll? Sorgt sie sich um sein Wohlergehen? Doch der Karl merkt das alles gar nicht, ist beschäftigt mit sich selbst, denn er schaut in sich hinein. Sieht sich als schmollenden Jungen, der mit Stimmbruchstimme sagen will: Seht her, der Karl kann, was ihr nicht könnt. Ist es also Trotz? Übermut? Oder ist hier ein Spieler unterwegs, erstmals womöglich etwas zu riskieren?
Er drängt sie zur Seite, was bist denn selbst nicht bei der Mess? Und geht weiter. Entschlossen, das Dumme zu tun, das für ihn das einzig Denkbare, für den Geschichtsstudenten aus Innsbruck. Vor zwei Jahren hat er noch gemeint, es reicht im Vergangenen zu graben, doch tut’s das noch? Wie sehr steckt das Vergangene wieder im Gegenwärtigen? Und wie wenig Gegenwart bleibt, wenn die Geschichte uns überrollt?
(S. 5–7)
© Residenz-Verlag, 2021
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