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Roman.
Hanser Berlin, 2021.
256 Seiten; geb.; Euro 22,70 (A).
ISBN 978-3-446-27103-6.
Doris Knecht
Rezension
Leseprobe: ERSTE NACHRICHT
DIE ERSTE NACHRICHT kam an einem Sonntag im September. Ich saß auf der Bank im Schatten hinter dem Haus und rauchte eine Zigarette, Laptop auf den Knien, und ich ahnte nicht, dass das der Moment war, in dem sich meine Verhältnisse verschoben, erneut, ganz leicht nur. Wolf saß neben mir, schaute in sein Handy und rauchte nicht. Er hasste das Rauchen, seit er vor ein paar Monaten damit aufgehört hatte, und versuchte jetzt, jeden zu missionieren, der es immer noch tat. Normalerweise vermied ich es in seiner Gegenwart, aber ich hatte mich den ganzen Nachmittag auf diese Zigarette gefreut und versuchte jetzt, sie mir schmecken zu lassen, mit zügig nachlassendem Erfolg.
Die Nachricht wartete im Postfach meines Facebook-Accounts, dem offiziellen. Ich habe zwei Accounts, einen unter meinem Namen und einen privaten unter einem Namen, den nur meine Freunde kennen. Ich erinnere mich an gelbes Herbstlicht, an laue Luft und an die Farbe des Himmels über mir: ein grünliches, warmes Blau, verschmiert von zerlaufenden Kondensstreifen. Wolf und ich waren den ganzen Tag am Berg gewesen, jetzt waren wir zurück zu Hause, zufrieden erschöpft, wir tranken Wein nebeneinander auf der Bank an der Hauswand, und ich spürte, dass ich lieber allein gewesen wäre. Ich hätte lieber allein geraucht, ungestört meine Mails gelesen, Instagram, und Twitter und die News durchgesehen.
(...)
Die Nachricht schwamm langsam aus meinem Bewusstsein heraus. Ich war sowas gewohnt, noch aus der Zeit, als das Internet neu war. Irgendwelche Kerle hatten mich im Fernsehen gesehen, wo ich damals ein Kunstmagazin moderierte, bis es eingestellt wurde, und sie schrieben mir Briefe oder Postkarten, mit Beschimpfungen und Liebeserklärungen oder beidem gleichzeitig. Die meisten warf ich ungelesen weg, die schlimmeren schickte ich an die Chefredaktion weiter, die sie dann wegschmiss. Später kamen Mails, im Affekt geschrieben, schnell abgeschickt von Gmail-Konten, und inzwischen blockierte ich auf Twitter regelmäßig die lästigsten Stalker, die rücksichtslosesten Beschimpfer, die Vergewaltigungsdroher. Ich hatte gedacht, es würde besser, wenn man älter wird, aber das wurde es nicht. Oder nur unmerklich. Ich hatte mich daran gewöhnt, solche Nachrichten nicht ernst zu nehmen. So wie alle Frauen, die sich auch nur ein bisschen in der Öffentlichkeit bewegten. Es gehörte eben dazu, wenn man eine Frau war, und wenn man sich zur Wehr setzte, wurde es nur schlimmer; nicht für die Männer, gegen die man sich wehrte, sondern für die Frauen, die es wagten. Ich war es gewohnt. Ich nahm es nicht ernst.
Es gab in meinem Leben viel wichtigere Dinge. Mein Mann war vor drei Jahren gestorben, und noch immer war ich mit den Problemen konfrontiert, die er früher gelöst hatte. Meine Trauer um Ludwig und das Gift, das dieser Trauer beigemischt war, seit ich kurz nach seinem Tod herausgefunden hatte, dass er eine heimliche Geliebte gehabt hatte, von der ich nicht einmal etwas geahnt hatte. Sophie, die bald ein Baby bekommen würde und nicht sagen wollte, von wem. Mein fünfzehnjähriger Sohn Benni, der noch bei mir wohnte und sich mit der Schule plagte, mit der Trauer um seinen Vater und mit Schuldgefühlen wegen seines Todes. Mein älterer Sohn Manuel, der vor ein paar Wochen ausgezogen war, in Amsterdam studierte und offenbar einen neuen Freund hatte. Mein Garten drohte zuzuwuchern, weil ich mich zu wenig darum kümmerte. Ich hatte einen Abnahmetermin für ein Drehbuch vor mir, und ich hatte meinen Vater schon viel zu lang nicht mehr in dem Pflegeheim besucht, in dem er seit Jahren lebte. Wie sehr es ein Jetzt gab und ein Dann, das bemerkte ich erst später. Damals dachte ich noch, ich sei die Architektin meines Glücks und ich könne alles, was nicht durch Krankheit und Tod, Naturkatastrophen und schreckliche Unfälle über mich hereinbräche, kontrollieren, beeinflussen und abwenden. Damals dachte ich noch, dass ich, anders als andere in meinem Umfeld, mein Leben im Griff hätte, weil ich mich für stärker, schlauer, abgehärteter und robuster hielt als sie. War ich vielleicht auch, aber es half mir nichts, im Gegenteil. Es fordert Leute heraus, wenn sie deine Stärke spüren und deine Unabhängigkeit, und manche von ihnen wollen dir das dann wegnehmen. Sie wollen dir zeigen, dass du gar nicht so stark bist und so unabhängig, wie du glaubst. Und sie beginnen ein Kräftemessen, ihre Kraft gegen deine, ohne dass du es merkst, und dann merkst du es.
(S. 7 und 11-13)
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