Leseprobe:
Klara
Der Sommer kündigte seinen Abschied an. Die Hitze klammerte sich an die Wände des Tals, nur der Wald blieb frisch und kühl. Es waren die letzten Wochen, bevor der Wind ins Tal fegte. Auf den Almen lag selbst an den wärmsten Tagen noch ein Sprenkler Schnee. Es war die kurze Zeit der Heidelbeeren.
Klara und Luis stellten das Auto am Berg ab und verschwanden im Schatten der Bäume. Den Himmel ließen sie zurück. Klara kämmte die Beeren von den Sträuchern im Unterwuchs. Luis trug ihr zwei Körbe hinterher, auf seiner Brust kreuzten sich die Lederriemen. Der Wald berührte sie, waren es die Wurzeln, die aus dem Boden ragten, die Spinnweben oder das schummrige Licht, das durch die Blätter fiel. Der Tau klebte sich an ihre Beine und selbst die Schuhe wurden nass. Blieben sie stehen, fror es sie. Doch je länger sie unter den Baumkronen tauchten, umso besser fühlte sich Klara. Umso sicherer.
Aus Gewohnheit hielt sie Ausschau nach ihrem Enkel. Nie entließ sie ihn ganz aus dem Blick. Sie vermied es, weit vom Weg abzukommen. Konnte sie seine lange Gestalt nicht mehr sehen, rief sie nach ihm, und er rief verlässlich zurück.
"Hier", antwortete er dann, "hier bin ich doch, Oma."
Klara seufzte. Die Kinder wurden groß und mit ihnen die Sorgen. Luis stand plötzlich neben ihr und lächelte, die Haut um seine Augen legte sich in feine Falten. Einige der Linien hatten sich bereits dauerhaft in seinem Gesicht niedergelassen. Das war längst kein Junge mehr, sondern ein Mann von zweiunddreißig Jahren.
"Machen wir eine Pause", forderte er und tat, als wäre er müde, nicht sie.
Die Mittagsstunde verbrachten sie mit einem Kanten Brot und Leberaufstrich, den Luis mit seinem Taschenmesser direkt aus der Konserve löffelte. Klaras Hände waren dunkel von den Beeren, die drei Körbe prall gefüllt. Obwohl Luis die beiden großen trug und sie nur mehr einen kleinen, konnte Klara nicht mehr. Sie war gesund, sie war immer aktiv geblieben. Dennoch. Vierundachtzig Jahre, und sie spürte jedes einzelne davon. Mit ihrer Schürze wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
"Genug für heute."
Luis nickte, putzte das Messer am Hosenbund ab und klappte es mit einer flotten Bewegung zusammen. Er schnürte sich die Körbe um und machte sich zum Gehen bereit. Brotkrümel regneten von seiner Hose. Er machte ein paar Schritte, dann schnappte Metall. Es knackte. Luis' Schrei hallte zwischen den Baumstämmen, laut und grell. Einen Moment lang erkannte Klara die Stimme nicht wieder.
"Hilfe!", rief Luis. "Oma! Hilfe!" Er blinzelte seinen Körper hinab, geschockt über das, was er sah. Er stürzte zu Boden, ungelenk und ohne Schwerpunkt, landete mit dem Gesicht auf der Kette und schlug sich die Schläfe blutig. Heidelbeeren rollten in alle Richtungen davon.
Klara raffte ihr Hauskleid hoch und lief los. Sie rief seinen Namen und noch ein "Herrgott" hinterher. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Ihr großer, kräftiger Junge lag auf dem Boden. Sein Fuß verschwand im Schlund einer Fuchsfalle. Die Zähne hatten sich in sein Schienbein und in die Wade geschlagen. Klara ging neben ihm in die Hocke und faltete die Hände vor der Brust, auch wenn sie gerade noch den Namen Gottes eitel genannt hatte.
Sie betrachtete die Bügel, die sich knapp über dem Knöchel in Luis verbissen hatten. Das Kupferrot der Korrosion überzog die Oberfläche.
"Norbert, du Hund", spuckte sie auf den Boden, "deine verdammte Falle! Wo hier seit zwanzig Jahren kein Viech mehr war!"
Das Eisen fühlte sich körnig an und grob, die Kette klirrte dumpf bei jeder Bewegung. Die geschwollenen Knöchel ihrer blau gefärbten Finger wirkten grotesk, die Hände einer alten Frau. Hatten sie noch Kraft in sich? Klara zog.
"Ich schaffe es nicht", gestand sie.
Luis heulte auf, frustriert und voller Schmerzen. "Verdammte Scheiße!" Er keuchte. "Ich zieh an, und du holst mein Bein raus!"
Er setzte sich auf, so gut es ging. Das Blut rann ihm in die Augen. Er holte tief Luft, griff rechts und links nach den Bügeln und zog sie mit aller Macht auseinander. Das Eisen bewegte sich willig, der Rost hatte dem Mechanismus die Zähne gezogen. Mit einem leisen, schmatzenden Geräusch gab das Ding Luis' Bein frei.
Ein rotes Muster erschien auf seiner Haut, sehr präzise und irgendwie auch schön. Das Blut war von schwarzen Rostfleckerln durchsetzt. Wie dunkle Augen, dachte Klara, Augen, die sie aus der Tiefe seines Körpers anstarrten. Wissend. Wartend.
Klara löste ihr Kopftuch und band es fest um das Bein. Das musste reichen. Sie löste die Riemen der Körbe von Luis' Schultern. Dann griff sie ihm unter die Achseln und zog ihn in eine aufrechte Position.
"Steh auf", sagte sie. "Ich kann dich nicht tragen! Steh auf!" Sie rüttelte an ihm. "Luis! Reiß dich zusammen!"
Sie legte Härte in die Stimme, Strenge. Nicht um Luis zu rügen, das vielleicht auch, ja, aber vor allem, um sich selbst die Angst zu verbieten. Eine Angst, die in ihren Knochen wohnte und sich allzu schnell Raum machte, wenn sie ihr die Möglichkeit dazu ließ.
Jede Farbe war aus Luis' Gesicht gewichen. Sein Atem ging schnell, der Blick lief ins Leere. Klara legte sich seinen Arm um den Hals, mit der anderen Hand griff sie ihm um die Taille.
"Auf drei, mein Lieber, auf drei", flüsterte sie ihm ins Ohr.
Luis stand der Schweiß auf der Stirn, in kleinen Pfaden rann er durch das Blut an der Schläfe hinab und machte aus dem jungen Mann ein wildes Tier.
Luis nickte, die Zähne fest zusammengebissen.
"Und drei!"
Mit einem Laut, der zu gleichen Teilen Schmerz und Entschlossenheit verriet, hievten sie sich hoch. Müde lehnte Luis an Klara, matt und leblos. Seine große Gestalt an ihrer Schulter zusammengeknüllt. Das verletzte Bein hing zu Boden, als wäre die Verbindung zum restlichen Körper gekappt.
"Oma", murmelte er. "Ich schaff's nicht."
"Wohl", sagte Klara.
Sie atmete ein, überlegte. Der Weg zurück war weit. In den vergangenen Stunden waren sie zwar langsam, aber stetig vom Auto davongewandert. Doch was zählte das nun? Sie hatte schon einmal einen langen und aussichtslosen Weg bestritten. Auch der hatte sie durch einen Wald geführt. Auch damals war Blut geflossen.
"Wohl tust du's", wiederholte sie.
Sie stolperten zwischen den Baumstämmen einher, dann den Pfad hinab. Klara spürte, dass er sich bemühte, aus eigener Kraft zu gehen, sich selbst zu tragen, ihr nicht zur Last zu fallen. Zuerst hielt er das Bein angewinkelt in der Luft, hüpfte auf dem gesunden, doch bald ging ihm die Energie aus. Rot sickerte es durch den Verband und floss in trägen Linien über seine Wade.
Immer wieder strauchelten sie, fielen beinahe. Drei Beine waren zu wenig für zwei Menschen. Aber Klara kannte Situationen wie diese. Sie wusste, wie man mit wenig auskam.
Sie schleppte Luis durch das lichte Holz und den wuchernden Stockausschlag. Auf Trampelpfaden, die kaum zu erkennen waren, vorbei an leer gepflückten Büschen.
Endlich, der Parkplatz, auf dem einsam das Auto stand. Klara half Luis auf die Rückbank. Die Luft im Inneren war aufgeheizt und stickig. Als Luis das Bein ins Fahrzeug hob, schaute Klara nicht hin. Aus Gewohnheit wollte sie rüber zum Beifahrersitz, doch nun musste sie ans Steuer. Sie war lange nicht mehr selbst gefahren, ihre Brille hatte sie auch nicht dabei. Sie spürte Unsicherheit, beinahe Angst, rügte sich aber selbst: Viele Dinge waren unmöglich, bis man die Zähne zusammenbiss.
Die Höhenstraße war breit. Klara fuhr in der Mitte der Fahrbahn, saß weit vorgebeugt, die Brust ans Lenkrad gelehnt, die Nase fast an der Windschutzscheibe. Jede Unebenheit des Bodens erzeugte auf der Rückbank ein schmerzvolles Einatmen.
"Das Tuch ist durchgeblutet, ich sau hier alles voll."
"Wen kümmert's!"
Sie schlackerten vom Berg. Es dauerte einige Minuten, bis sie das Dorf erreichten. Ein paar lose versammelte Gebäude standen zwischen den Hügeln. Viele Wochenendhäuser, nur wenige Hauptwohnsitze. Alte Holzfenster und moderne Glastüren nebeneinander. Keine Storchennester, dafür ein Funkmast und Photovoltaikanlagen.
Klara hielt vor dem ersten Haus am Dorfeingang. Das Auto rollte aus. Ein einfaches Gebäude mit großzügiger Veranda, die über den Friedhof hinweg ins Gebirge blickte. Das Dach schief geneigt, als würde es sich verschämt dem Wind im Tal beugen. Auf der Terrasse saß der rauchende Besitzer, über seinem Kopf weiße Schwaden, die bald verpufften.
Klara stellte den Motor ab und öffnete die Wagentür. "Horst, hast du ein Telefon?", rief sie über den Hof. "Ruf den Arzt!"
Für seine vierzig Jahre wirkte Horst sehr ernst und hager. Besonders sein zerfurchtes Gesicht ließ ihn älter wirken, als er eigentlich war. Stoisch und leidensfähig, wie viele Menschen hier draußen.
Klara deutete hinter sich auf die Rückbank. Sie hatte keine Geduld mehr, irgendetwas zu erklären. "Der Arzt! Mach endlich!"
Horst runzelte die Stirn. Er hob eine Hand über die Augen und blinzelte gegen die Sonne an. Mit einem Ruck richtete er sich auf, dass der Schaukelstuhl knarrte. Seine Bewegungen verrieten ihn, das war längst kein alter Mann. Eilig lief er die Stufen der Veranda herunter und blieb vor dem Auto stehen. Er betrachtete den Burschen durch die Scheibe, das blutige Kopftuch um die Wade und die aufgeschlagene Schläfe. Klara sah ihm an, dass er nach Worten suchte, wo kein klarer Gedanke war.
"Ich ruf den Arzt", murmelte er. Mit zwei Schritten war er wieder auf der Terrasse und stampfte ins Haus.
Klara ließ sich auf den Fahrersitz niedersinken und lehnte sich erleichtert zurück. In ihrem Rücken ein Knäuel, ein Knarren. Den kleinen Korb hatte sie nach wie vor hinten aufgebunden. Selbst die Heidelbeeren waren heil geblieben. Sie schnaubte. Wie war das möglich? Ein Schwall undefinierter Gefühle schwappte in ihr hoch.
Wer wusste schon, was noch in einem steckte?
(S. 7-12)
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